Sarah* mag Nastücher. Sie faltet sie genüsslich auf, wirft die gebrauchten schwungvoll in den Abfall und beschwert sich lautstark, wenn es keine mehr hat. Jetzt drückt sie sich gerade zwei über das Gesicht, springt auf und schnäuzt sie bei der Landung voll. Es ist ein Gaudi. «Sarah, wie viele Nastücher hast du denn da?», fragt Carolin Deiner. «Zwei!», ruft Sarah fröhlich, und beide lachen.
Eine ganz normale Szene in einer ganz normalen Kita in Zürich–Altstetten? Nicht ganz. Denn Carolin Deiner, die an diesem Morgen mit Sarah spielt, ist keine normale Kita–Fachfrau, sondern eine Spezialistin für Deutschförderung bei Kleinkindern. Und Sarah – drei Jahre alt, zwei Muttersprachen, keine davon Deutsch – hätte noch vor wenigen Monaten weder Deiners Frage verstanden noch ihr so antworten können. «Sie hat heute Worte aufgegriffen, neue verstanden», wird Deiner nach der Spielstunde mit Sarah sagen.
«Das war ein erfolgreicher Besuch.»
Lernen mit Spielzeugfischen
Sarah erhält alle zwei Wochen eine Stunde lang Deutschförderung von Carolin Deiner, dazwischen arbeiten die Kita–Angestellten mit ihr. Das Ziel: Sarah soll aufholen. Kinder in ihrem Alter können normalerweise klar sagen, was sie wollen. Ohne Hilfe ein Rollenspiel machen, Verkäuferlis zum Beispiel. Sarah kann das auf Deutsch noch nicht. Bis sie in den Kindergarten kommt, soll sie gleich weit sein wie die anderen. Damit sie ihre Schulkarriere nicht schon mit einem Rückstand beginnt. Doch wie bringt man einer Dreijährigen überhaupt Deutsch bei? Zum Beispiel so: Sarah inszeniert gerade die Schlachtung eines Spielzeugfischs und kommentiert in ihrer Muttersprache Englisch. Carolin Deiner spielt mit.
Sarah: «Bye, fish!»
– Deiner: «Tschüss, Fisch!»
– «Bye, fish!» – «Tschüss, Fisch!» – «. . .Tschüss!»
Der Fisch wird getötet und zubereitet.
Sarah: «Yummy!»
– Deiner: «So fein!»
– «Yummy!»
– «So fein!»
– «. . . Yummy!»
Im Spiel die deutschen Wörter hören, durch Wiederholung die richtigen Ausdrücke lernen und sie am Ende idealerweise selbst anwenden: So funktioniert Deutschunterricht in Zürcher Kitas. «Ich zwinge ihr nichts auf, gehe auf ihre Interessen ein, fordere sie aber auch heraus», sagt Carolin Deiner. Etwa mit neuen Wörtern oder offenen Fragen.
«Was isst der Fisch?» –
«Yummy!»
– «Was isst er?»
– «Yummy!»
– «Was isst er?»
– «Ässe Brot.»
Die Sprachförderung hat ihr einen guten Schubs gegeben, um sich hier noch wohler zu fühlen.
Sarah lacht schallend. Spass scheint sie also zu haben. Aber hat sie auch wirklich etwas gelernt? Ja, findet man in Sarahs Kita. Anfangs sei sie zurückhaltend und schüchtern gewesen, erzählt ihre Betreuerin Cristina Chirica. Bei Konflikten habe Sarah schnell nachgegeben. «Die Sprachförderung hat ihr einen guten Schubs gegeben, um sich hier noch wohler zu fühlen.» Wenn sie etwas nicht hergeben möchte, schreit sie nun: «Nei!» Wenn sie etwas nicht versteht, fragt sie: «Hä?» Und sie hat eine beste Freundin gefunden, die ihr kürzlich das Wort «Eisenbahn» beibrachte.
Die Stadt Zürich setzt voll auf die Deutschförderung in Kitas. In den vergangenen sechs Schuljahren hat sie ihr Programm dazu stetig ausgebaut. Eine externe Evaluation stellte der Deutschförderung ein gutes Zeugnis aus. 428 Kinder in 134 Kitas sind zurzeit Teil davon. Und es sollen noch mehr werden. Bis 2025 sollen 14 Prozent der Kinder im Vorschulalter mitmachen, also etwa doppelt so viele wie jetzt. Die Kosten belaufen sich auf 1,7 Millionen Franken jährlich. Bis 2025 sollen es 2,9 Millionen sein.
Das Programm «Gut vorbereitet in den Kindergarten» funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Ein Kind mit Deutschdefizit kommt in eine reguläre Kita. Dort erhält es regelmässig Förderstunden, bezahlt von der Stadt und durchgeführt von der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Die Kita–Angestellten schauen dabei zu – und lernen auf diese Weise, wie sie die Techniken der Expertin selbst anwenden können. So auch bei Sarah. Ihre Betreuerin Cristina Chirica schaut der Förderstunde auf einem kleinen Kinderstuhl sitzend zu, mit Notizpapier und Stift in der Hand.
«Grüezi, ich hätte gern ein Brot.»
– «Da is kei Brot.»
– «Was denn? Ein Fisch?»
– «Nei, kei Fisch.»
– «Gibt’s gar nichts?»
– «No.»
– «Nein?»
– «Nobody, no Brot.»
Diesen Dialog bespricht Chirica später im Coaching, das auf jede Förderstunde folgt. Sarah gibt mehrmals auf Deutsch Antwort, das ist ein Fortschritt. Doch die Vermischung mit englischen Wörtern ist ein Problem. Beide Sprachen gut zu sprechen, aber zwischen ihnen unterscheiden zu können, ist ein zentrales Ziel der Förderung. Deshalb spricht Cristina Chirica möglichst kein Englisch mit Sarah, sondern redet mit Händen und Mimik, wenn Sarah sie nicht versteht. «Sie hat die Ideen, aber keine deutschen Wörter dafür», sagt Chirica. «Die versuchen wir ihr zu geben.»
«Let’s go!»
– «Los geht’s!»
– «Let’s go!»
– «Los geht’s!»
– «. . . Bauzoooo!»
Manchmal weiss auch die Förderexpertin Deiner nicht, was ihr Schützling da gerade zu sagen versucht. «Aber man darf ihr nicht zeigen, dass man sie nicht versteht.» Sonst zieht sich Sarah zurück, probiert nichts mehr aus. Dabei ist genau das – ausprobieren, scheitern, neu versuchen – der Kern des Lernens, bei jeder Sprache.
Nicht weniger als drei Sprachen prägen Sarahs Alltag: Englisch, Französisch und Deutsch. Sie ist damit kein Einzelfall. Die Hälfte der Zürcher Kinder wächst mehrsprachig auf, für 40 Prozent ist Deutsch eine Zweitsprache, und jedes dritte Kleinkind braucht sprachliche Förderung. Das zeigt eine Erhebung der Stadt. Immerhin die Hälfte der förderbedürftigen Kinder nimmt am Deutschprogramm Teil, Tendenz steigend. Das Angebot wird also rege genutzt. Eltern erhalten von der Stadt auch kein zusätzliches Geld, wenn sie ihr Kind dafür in der Kita platzieren. Die regulären Subventionen sind für Geringverdienerinnen allerdings bereits recht grosszügig. Entsprechend stammen auch die meisten Förderkinder aus finanziell weniger privilegierten Verhältnissen.
Durch den Kontakt mit der Kita sollen aber auch die Eltern mitbekommen, wie viel Selbständigkeit zum Beispiel bei der Einschulung erwartet wird.
Kinder in die Kitas bringen
Die Stadt will mit ihrem Programm vor allem Kinder erreichen, die noch nicht in einer Kita sind – und wegen des Förderprogramm überhaupt erst eintreten. Sie sollen dank der frühen Fremdbetreuung nicht nur besser Deutsch lernen, sondern auch andere Kinder und schulische Strukturen kennenlernen. «Die Kinder kommen zum Teil aus Familien ohne viele Kontakte zum deutschsprachigen Umfeld», sagt Carolin Deiner. «Für sie ist es besonders wichtig, die Sprache ihrer Umgebung kennenzulernen.» Das könne manchmal ein kleiner Kulturschock sein, es sei aber für die Vorbereitung auf den Kindergarten wichtig. Durch den Kontakt mit der Kita sollen aber auch die Eltern mitbekommen, wie viel Selbständigkeit zum Beispiel bei der Einschulung erwartet wird. Und die Kinder sollen lernen, welche Art von Essen es in schulischen Einrichtungen gibt. So wie Sarah: Sie isst zum Zmittag am liebsten nur Brot. Kartoffelstock oder Pommes frites sind ihr nicht geheuer. Deshalb wird sie jetzt langsam an das gewöhnt, was in ihrer Kita als normale Mittagskost gilt. Dabei müssen sich die Kita–Fachpersonen täglich die Frage stellen: Wo endet die Förderung von Sprache und Integration? Und wo beginnt Erziehung zu einem bestimmten Verhalten? Einfache Antworten darauf gibt es nicht. Doch alle Beteiligten betonen, es gehe darum, den Kindern beim Lernen zu helfen. Die Erziehung bleibe Sache der Eltern. «Sie sind die Experten, was ihr Kind angeht», sagt Carolin Deiner. «Wir sind die Experten beim Erlernen der Sprache.»
Die Förderexpertin sitzt neben Sarah auf dem Boden, folgt ihr von Spiel zu Spiel, hört zu, spricht Wörter auf Deutsch nach. Was sie tut, ist keine Hexerei. Es ist eigentlich einfach das, was es in Kitas zwischen Erwachsenen und Kindern zu selten gibt: ein längeres Gespräch.
«I bin Sarah!»
– «Und ich bin Carolin.»
– «I bi Carolin!»
– «Wirklich? Dann wäre ich ja Sarah.»
– «Nei, i bin Sarah!»
– «Du bist Sarah, ich bin Carolin. Ist es so richtig?»
– «Ja!»
Das Frühförderprogramm der Stadt hilft nicht nur dem Deutsch der Kinder. Es schafft auch in der Politik etwas Seltenes: Von rechts bis links steht eine breite Allianz dahinter – und das im sonst so umkämpften Kita–Thema. Für die FDP–Gemeinderätin Yasmine Bourgeois ist die Freiwilligkeit zentral, solange für einen obligatorischen Kita–Besuch die Gesetzesgrundlage fehlt. Es sei zudem wichtig, dass bei zusätzlichen Kita–Subventionen Zurückhaltung geübt werde. «Wer selber zahlen kann, soll das auch tun.» Unter diesen Voraussetzungen befürwortet sie die Sprachförderung in Kitas. Denn: «Wenn man mit schlechtem Deutsch startet, zieht sich das durch die gesamte Schulkarriere», sagt Bourgeois, die selbst eine Primarschule leitet. «Sogar in Mathe ist es schwierig, wenn man die Sprache nicht gut spricht. Und es ist einfach schade, wenn ein kluges Kind deshalb nicht weiterkommt.»
Ähnlich sieht es die AL–Kantonsrätin Judith Stofer. «Frühförderung ist total wichtig, für die Sprache und die Integration», sagt sie. Es sei im Interesse der Kinder, dass sie gut Deutsch lernten und nicht abgeschottet würden. «Je früher die Kinder in der Kita sind, desto besser, auch für ihre sozialen Kompetenzen.»
Nicht ganz einig sind sich linke und rechte Politikerinnen, wenn es um eine allfällige Verpflichtung zum Kita–Besuch geht.
Zürich als Vorbild
Nicht ganz einig sind sich linke und rechte Politikerinnen, wenn es um eine allfällige Verpflichtung zum Kita–Besuch geht. Für Stofer wäre eine solche für Kinder mit Deutschproblemen denkbar. Aber auch sie findet: «Eigentlich sollte man es auch ohne Pflicht schaffen, genug Eltern von einer Teilnahme zu überzeugen.» So sieht es auch eine Mehrheit im Zürcher Kantonsrat, der eine Kita–Pflicht beschliessen müsste. Entsprechende Vorstösse wurden mehrmals abgelehnt. Letztes Jahr wurde jedoch mit knapper Mitte–links–Mehrheit entschieden, dass der Kanton die Gemeinden beim Ausbau der Deutsch–Frühförderung unterstützen soll. Das Stadtzürcher Projekt könnte dabei zum Vorbild werden. Richterswil führt derzeit ein sehr ähnliches Pilotprojekt zur Kita–integrierten Deutschförderung durch. Andere Gemeinden wie Kloten oder Wallisellen haben schon länger eigene Programme.
Zurück in der Kita in Zürich Altstetten. Dort sorgt unterdessen Sarahs Schnuddernase erneut für eine Lerngelegenheit. «Sarah, willst du dir nicht die Nase putzen gehen?», fragt Carolin Deiner. Sarah blickt vom Spielen auf, plötzlich konzentriert. Keine Handbewegung verrät, was gemeint sein könnte. Da ist nur die Sprache. «Die Nase putzen?», wiederholt Deiner. Sarah sitzt ganz still. Dann steht sie plötzlich auf, holt sich ein Nastüechli und schnäuzt genüsslich. Sie hat verstanden.
* Name geändert
Diese Reportage erschien ursprünglich in der NZZ (31.1.22) und wurde von Giorgio Scherrer verfasst.