21. November 2024

Zur Begründung von Lernzielen in Konzepten der Kompetenzorientierung

Wir bringen Ihnen den 2. Teil der Ausführungen von Professor Volker Ladenthin zur “Begründung von Lernzielen in Konzepten der Kompetenzorientierung”. Auch wenn dieser Text anspruchsvoll und auch viel Lesezeit erfordert, können wir allen interessierten Leserinnen und Lesern diese Lektüre wärmstens empfehlen. Selten hat ein Bildungsforscher die Mythen der Kompetenzorientierung so gründlich unter die Lupe genommen.

Prof. Volker Ladenthin: Ob man mit mathematischem Wissen handeln soll, reguliert ausschließlich die Lebenswelt.

5. Zwischenbilanz

Am Beispiel der Mathematik lassen sich Probleme solch einer Lehrplantheorie verdeutlichen: Mathematisches Denken erfährt seine Geltungsprüfung nicht erst im „Agieren“. Es stimmt auch dann, wenn man mit den Erkenntnissen des Denkens nicht handeln will oder kann. Ob man mit der Mathematik überhaupt handeln soll, bestimmen zudem nicht die Schulen und ihr Curriculum, ja nicht einmal die mathematischen Wissenschaften. Ob man mit mathematischem Wissen handeln soll, reguliert ausschließlich die Lebenswelt. Ihre hochkomplexen Mechanismen waren in der bisherigen Geschichte noch nie wissenschaftlich zu antizipieren. Niemand kann also auf wissenschaftlich seriöse Weise angeben, welche Teile der Mathematik künftig handlungsrelevant sein werden – (mit Ausnahme der einfachen Operationen, die in ihrer Bedeutung für die Schule zu bestimmen aber keine Forschung erforderlich macht).

Wo aber wird die Kompetenz erworben, die zu entscheiden hilft, ob man Lebenswirklichkeit mathematisch erfassen darf oder soll?

Umgekehrt lässt sich aus lebensweltlichen Situationen keine mathematische Modularisierung ableiten, die diese lebensweltliche Situation dann (vollständig) regulieren könnte. Denn im lebensweltlichen Handeln müssen weitere (außermathematische) Sach- und Werturteile zusätzlich zu den Berechnungen berücksichtigt werden (Rekus 2020). Die Mathematik allein kann nicht das Ganze der Lebenswelt erfassen, sondern nur einen Aspekt an ihr. Ob sie einen lebensweltlichen Sachverhalt überhaupt beschreiben soll – darüber entscheidet nicht die Mathematik. Wo aber wird die Kompetenz erworben, die zu entscheiden hilft, ob man Lebenswirklichkeit mathematisch erfassen darf oder soll? (Sollen medizinische Heilmittel im Verhältnis zu der zu berechnenden Lebenserwartung eines Patienten verabreicht werden? Man kann hierzu mathematische Modelle erstellen („Triage“); aber soll man sie anwenden? Als wahr und wichtig war aber nur bestimmt worden, was man anwendet!)

Eine Orientierung der Lehrpläne an der aktuellen Berufspraxis ist also rückwärtsgewandt und innovationsfeindlich.

Die Berufsschulen mögen am Vormittag dasjenige lehren, was am Nachmittag im Betrieb angewandt werden kann.

Eine Orientierung der Lehrpläne an der aktuellen Berufspraxis ist also rückwärtsgewandt und innovationsfeindlich: Sie erklärt die vergehende Gegenwart zum Bildungsziel, nicht die Gestaltung der Zukunft. Denn zukünftig notwendige Qualifikationen können nicht wissenschaftlich valide aus gegenwärtiger Berufspraxis abgeleitet werden.

In der beruflichen Bildung mag der Zeitraum zwischen Ausbildungsphase und Beruf näher zusammenrücken. Dort mögen die beruflichen Schulen am Vormittag dasjenige lehren, was am Nachmittag im Betrieb angewandt werden kann. Aber auch dieses Konzept ist konservativ; es stabilisiert lediglich die gegenwärtige Praxis, qualifiziert aber nicht dazu, die Praxis innovativ zu verändern.

6. Das Dogma des Pragmatismus

Marquis de Condorcet 1742 -1794: Hätte er in einem kompetenzorientierten Lehrplan noch Platz?

Orientiert man die Inhalte des Lehrplans an der aktuellen Berufspraxis oder der Lebenswelt, könnten zudem keine Gedanken gedacht (und damit zu lernen aufgegeben) werden, die sich noch nicht umsetzen lassen. Auch etwas, was nie in Handlungen umgesetzt werden kann, kann nicht Thema werden. Das gilt z. B. für alle Kenntnisse über Prinzipien und damit prinzipienwissenschaftlichen Bezugsfächer (Mathematik, Philosophie). Es gilt für alle ethischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Nach Auffassung der Kompetenztheorie dürften sie in der Schule daher nicht prüfungsrelevant zum Lerngegenstand werden.

In allen kontemplativen Fächern kann das „Agieren“, vom Selbstverständnis des Faches her betrachtet, gar kein Lernziel sein: Etwa im Literaturunterricht, im Fach Musik oder in der Kunstgeschichte. Hier wird nicht „agiert“, sondern es werden Urteile gefällt. Es gibt auch keinen „Erfolg“ in der Kunst, den man messen könnte. Es gibt ausschließlich ästhetische Urteile. Sie sind zu nichts weiter Nutze, als gefällt zu werden. Mathematische Konzepte (z. B. „xte-Dimension“), religiöse Fragestellungen, Konzepte der theoretischen Physik, historische Sachverhalte insgesamt, lassen sich nicht im Agieren der Menschen nachweisen. Oder der Rückschluss vom Nachweis zur Norm würde eine verzerrte Darstellung des theoretischen Systems ergeben: Man kann aus dem tatsächlichen historischen Wissen erfolgreicher Handwerker nicht schließen, was an Geschichtswissen zu haben systematisch notwendig ist, um von angemessenem Geschichtsbewusstsein zu sprechen.

Würde die Schule nur das Wissen thematisieren, dessen Bedeutung sich dadurch erweist, dass man mit diesem Lernstoff agiert hat, würde das Weltwissen künftig auf faktisches Anwendungswissen begrenzt. Das gesamte theoretischen Wissen der Menschheit fiele als Lerngegenstand aus (Koch 2012). Man schlösse vom Sein aufs Sollen (Naturalistischer Fehlschluss“). Aber auch Alternativen oder Innovationen wären von nun an kein möglicher Lerngegenstand für das schulische Curriculum mehr.

Empirisch erhobene Handlungen („Agieren“) können also nicht als letztes Kriterium für die Auswahl schulischer Lehrinhalte angesehen werden. Denn es lassen sich Lerngegenstände denken, die noch nicht oder gar nicht Handlungen zuzuordnen sind oder nicht durch ihre Anwendung bestimmt werden sollen.

Die Kompetenztheorie ist zudem realitätsfern im Hinblick auf die Funktionsweise hochkomplexer und extrem arbeitsteiliger Gesellschaften.

3. Das Dogma der realitätsnahen Messbarkeit von Kompetenzen

Die Kompetenztheorie nimmt an, am „Agieren“ einer Menschengruppe erkennen zu können, was zuvor an Sinnvollem gelernt wurde. Damit implementiert sie die theoretischen Probleme des Pragmatismus, aus dem sie entstammt, nunmehr in die Schulpädagogik. Sie ist zudem realitätsfern im Hinblick auf die Funktionsweise hochkomplexer und extrem arbeitsteiliger Gesellschaften. In ihnen bilden Öffentlichkeit und veröffentlichte Meinung, die Pluralität von Lebensmodellen und Wertungsprozessen, Vertrags- und Rechtsverhältnisse, Überschneidungen und Interferenzen von Kausalketten, Traditionen und Interessen unterschiedlicher (z. B. politischer oder ökonomischer) Art einen lebensweltlichen Gesamtzusammenhang oder eine Gesamtpraxis. Diese wäre zuallererst quantifiziert zu analysieren, wollte man ein Kausalverhältnis von Handlungsabsicht, Handlungskompetenz und Handlungsergebnis auch nur beschreiben – geschweige denn antizipieren.

Die Vorstellung, aus einer Kompetenz ließe sich eine einzige beobachtbare „gesellschaftliche Wirkung“ kausal nachweisen oder eine lebensweltliche Situation („Wahlsieg“) ließe sich auf eine einzige Kompetenz zurückführen, gilt allenfalls für experimentelle Settings unter Laborbedingungen.

„Gesellschaftliche Wirkungen“ (Klieme/Leutner) lassen sich in hochkomplexen Gesellschaften nur sehr begrenzt auf eine zugrundeliegende Ursache (z.B. Kompetenzen) zurückführen. Es gibt Nebenfolgen, unerwünschte Nebenwirkungen, langfristige und kurzfristige Folgen, Umstände, die die erwünschten Folgen neutralisieren usw.. Wissen und Können des Einzelnen unterliegen vielmehr Bedingtheiten, die man beachten muss, wenn man das Handeln plant. Die Vorstellung, aus einer Kompetenz ließe sich eine einzige beobachtbare „gesellschaftliche Wirkung“ kausal nachweisen oder eine lebensweltliche Situation („Wahlsieg“) ließe sich auf eine einzige Kompetenz zurückführen, gilt allenfalls für experimentelle Settings unter Laborbedingungen. Sie gelten nicht für die soziologisch erfassbare Realität hochkomplexer Gesellschaften (Hartmann 2002).

4. Das Dogma der Handlungsfähigkeit

Der psychologische Begriff des „Agierens“ bleibt zudem hinter dem zurück, was die Soziologie inzwischen als lebensweltliche Handlung beschreibt:

„Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in einer Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt; die bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken. […] Die Lebenswelt kann nur a tergo eingesehen werden. Aus der frontalen Perspektive der verständigungsorientiert handelnden Subjekte selber muß sich die immer nur mitgegebene Lebenswelt der Thematisierung entziehen. Als Totalität, die die Identitäten und lebensgeschichtlichen Entwürfe von Gruppen und Individuen ermöglicht, ist sie nur präreflexiv gegenwärtig. Aus der Perspektive der Beteiligten läßt sich zwar das praktisch in Anspruch genommene, in Äußerungen sedimentierte Regelwissen rekonstruieren, nicht aber der zurückweichende Kontext und die im Rücken bleibenden Ressourcen der Lebenswelt im ganzen.“ (Habermas 1988, 348f)

Reifen wechseln: multiple Interaktionen aller Involvierten.
Max Weber: Auch religiöse Gesinnungen können einen Einfluss haben.

Eine lebensweltliche Handlung wird von der Soziologie als implikationsreiche Interaktion beschrieben. Nur anamnetisch lasse sich klären, welcher der Interaktionspartner welchen Anteil am Ergebnis hatte. Bis eine Handlung wie etwa das Reifenwechseln (die Autoren wählen das Beispiel S.4) möglich ist, kommt es zu multiplen Interaktionen aller Involvierten. Zu berücksichtigen sind die Qualifikationen der Akteure, das Betriebsethos, die technische Ausrüstung, der Stand der Produktivkräfte, das Mobilitätssystem, die Sozialverhältnisse, die kollegialen Situation, die Konjunktur, der Arbeitsmarkt, Menschen- und Weltbilder, Werkzeuggebrauch (Telekommunikation) usw. usw.. Berühmt geworden ist die Studie Max Webers, in der er zeigte, dass für die Erklärung des ökonomischen Erfolgs von Ländern die religiöse Gesinnung von signifikanter Bedeutung war: Ein religiöses Weltdeutungssystem hat offensichtlich größere „gesellschaftliche Wirkungen“ als andere Faktoren. Was folgt daraus für die Lehrplangestaltung?

Eine (für die Lehrplanerstellung notwendige) Prognose über die künftige Bedeutung einer Handlungskompetenz ließe sich nur dann wissenschaftlich seriös aufstellen, wenn man wirklich alle relevanten Umstände bedenken könnte. Damit ist nicht allein eine situative Sozialkompetenz gemeint (die zudem noch kulturspezifisch ausgelegt werden müsste). Vielmehr zeigt die Soziologie, dass bereits die Konstitution von Wissen, Gesellschaft und Identität (und damit Ich-Kompetenz) eine soziale Interaktion ist. Das, was die Psychologie „Agieren“ des Einzelnen nennt, ist gar nicht allein oder allein ursächlich vom Subjekt generiert.

5. Das Dogma der zeitlosen Kompetenzen

Jede Tätigkeit ist je nach Vorerfahrungen, Lebensalter oder Einstellungen anders eingerahmt (geframed), auch wenn die Kompetenzbezeichnungen hierfür den gleichen Namen tragen. Dieser Befund hat eine folgenreiche Bedeutung für den Anspruch der Kompetenztheorie, bereits in Schule und Ausbildung berufsrelevante Kompetenzen zum Lernen aufzugeben. Es können durchaus isolierte Teilfähigkeiten geschult werden: den Aufbau des Otto-Motors entdecken, Vokabel lernen, Mikroskopieren von gefärbtem Haar usw. Aber die Handlung, die im Beruf ausgeübt wird, kann nicht gelernt werden — weil weder die künftige Lebenserfahrung noch die kognitiv-emotionale Entwicklung vorwegzunehmen sind, beide aber für den Handlungserfolg in der Lebenswelt später entscheidend sind.

Der Umstand, dass Flugunternehmen ihre Piloten regelmäßig an Simulatoren weiter schulen, zeigt, dass nicht einmal für Berufstätige zuvor gelernte Kompetenzen zur Bewältigung neuer Herausforderungen genutzt werden können.

Ein Zehnjähriger wird alle beruflichen Handlungsherausforderungen z.B. eines Piloten (Steuerung, Überprüfen von Geräten, Funkkontakt) mit dem Entwicklungsstand und dem Bewusstsein eines Zehnjährigen lernen und lösen. Und das, was er als Zehnjähriger als Kompetenz erworben hat, kann er nicht auf die Tätigkeit als Pilot übertragen, sondern muss es im Lichte seiner kognitiven Entwicklung und neuen Erfahrungen neu konstruieren. Die gleiche Tätigkeit ist also in den Lebensaltern substantiell anders eingelagert (geframed). Der Umstand, dass Flugunternehmen ihre Piloten regelmäßig an Simulatoren weiter schulen, zeigt, dass nicht einmal für Berufstätige zuvor gelernte Kompetenzen zur Bewältigung neuer Herausforderungen genutzt werden können. Denn die Herausforderungen stellen sich angesichts von Lebensalter, Erfahrung und Technik immer neu. Erworbene Fähigkeiten werden also – entwicklungspsychologisch bedingt – immer anders geframed …und sind daher substanziell anders. Weil kein Transfer des einmal Gelernten stattfindet, muss daher bei Piloten ein neues Lernen unter simulierten Alltagsbedingungen stattfinden. Dabei verändern physisch-psychische Entwicklungen, neue Erfahrungen, zusätzliches Wissen usw. die Komplexität des künftigen Handelns qualitativ.

Der Satz „Wir schaffen das!“ hat eine je andere Referenz, je nachdem, ob ein Zehnjähriger (Neuendorf 2003) oder eine erfahrene Bundeskanzlerin ihn formuliert.

Die Vorstellung also, dass aus den Berufen berufsrelevante Kompetenzen abgeleitet werden können, verkennt sowohl die Bedeutung von Entwicklung („Reifung“) als auch die Bedeutung von Lebenserfahrung für den Lernvorgang und das spätere Handeln. Zwölf- oder auch Sechzehnjährige mögen gleiche Tätigkeiten ausüben wie 60jährige (lesen, rechnen, schreiben), aber diese Tätigkeiten sind substanziell anders intendiert. (Der Satz „Wir schaffen das!“ hat eine je andere Referenz, je nachdem, ob ein Zehnjähriger (Neuendorf 2003) oder eine erfahrene Bundeskanzlerin ihn formuliert.)

Von daher lässt sich schließen, dass man eine berufstaugliche Kompetenz nicht schon vor dem Beruf erwerben kann. Man kann zwar Teilfähigkeiten (Wissen und Können) erwerben, nicht aber das, was im Beruf als Kompetenz gelten wird.

6. Das Dogma der Marginalität des Fachwissens

Desungeachtet soll laut Kompetenztheorie der Maßstab des „erfolgreichen Agierens“ (1) in der Berufswelt Kriterium für die Auswahl der Inhalte von Lehrplänen sein. Und dies in einer nunmehr noch weiter zu spezifizierenden Weise: Stein/Stummbaum weisen darauf hin, dass ihre Analysen erfolgreichen Agierens folgende Erkenntnis gebracht hätten:

„Rein kognitive Faktoren sind zur Vorhersage des beruflichen Erfolgs wenig aussagekräftig. So kann die Intelligenz allein nur 10 % des Berufserfolgs innerhalb einer Sparte vorhersagen. Aspekten wie Leistungsmotivation und sozialer Kompetenz muss also ein wichtiger Stellenwert eingeräumt werden (Stein 2004).“ (12)

Piloten nach Sozialkompetenz auswählen?

Nach dieser Analyse stellten sie heraus, dass die befragten Ausbilder gar nicht jene Auszubildenden als qualifiziert ansahen, die intelligent sind oder Fachwissen hatten. Vielmehr sähen die Ausbilder jene Auszubildenden als qualifiziert an, die über Motivation und Sozialkompetenzen verfügten. Würde man dieses Analyseergebnis ernsthaft umsetzen, würde man in Zukunft Piloten oder Herzchirurgen nicht mehr nach fachlicher Qualifikation oder Intelligenz einstellen, sondern vorrangig nach Motivation und Sozialkompetenz. Ja, man muss fragen, ob z.B. Piloten oder Chirurgen überhaupt noch eine Fachausbildung brauchen, wenn diese lediglich 10% des Berufserfolgs ausmachte.

Eine solche Kompetenztheorie erforderte, die Schüler künftig nicht vorrangig im Hinblick auf fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten auszubilden. Vielmehr müsse gefordert werden, sie vorrangig (zu 90%) durch den Erwerb von „Eigenschaften für einen erfolgreichen Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf“ (2) zu qualifizieren. Diese Interpretation ist keineswegs an den Text herangetragen. Sie wird von den Autoren selbst so formuliert: „Der Schulung von Kompetenzen mit nicht ausschließlich berufsfachlichem Gehalt kommt bereits in der Schule oder im Übergangssystem eine sehr hohe Bedeutsamkeit zu.“ (2) Die Schule soll also weniger systematisch bestimmte Fachinhalte lehren. Sie solle vielmehr ihre Inhalte aus den Bedürfnissen der bereits Berufstätigen ableiten, damit diese „komplexe Anforderungen in einem bestimmten Kontext (…) erfüllen“ (4) können. Es gehe darum, „berufsrelevante Kompetenzen bei Schulabgängerinnen und –abgängern unabhängig von der konkreten Berufssparte zu identifizieren.“ (8) Dann aber ist das Fachprinzip nahezu sinnlos geworden. Die Fächer werden immer unwichtiger. Fachlehrer auch.

„Selbstorganisation, Dialog und systematische Prozessorientierung.“. Da diese zu 90% in außerfachlichen Qualifikationen liegen soll, ist es gleichgütig, ob man Selbstkompetenz, Sozialverhalten oder Prozessanalytik im Physik-, Deutsch-, Geschichts- oder Englischunterricht lernt.  Das ist die Konsequenz einer solchen Kompetenztheorie.

Wichtig sei nur das Fächerübergreifende: „Selbstorganisation, Dialog und systematische Prozessorientierung.“. Da diese zu 90% in außerfachlichen Qualifikationen liegen soll, ist es gleichgütig, ob man Selbstkompetenz, Sozialverhalten oder Prozessanalytik im Physik-, Deutsch-, Geschichts- oder Englischunterricht lernt.  Das ist die Konsequenz einer solchen Kompetenztheorie.

Machen die drei Kompetenzbereiche denn handlungsfähig? Zwar hat man inzwischen erkannt: „Die drei Kompetenzbereiche autonomes und selbst bestimmtes Handeln, interaktiver und effektiver Einsatz von Werkzeugen und das erfolgreiche Agieren in heterogenen Gruppen stehen nicht unverknüpft nebeneinander, sondern werden gemeinsam zum Einsatz gebracht.“ (6) Leider erfährt man nicht, wie dies geschehen soll. Die Handlungskompetenz wird versprochen; das Versprechen aber nicht eingelöst. Die Fähigkeit, Teilkompetenzen zu integrieren, wird theoretisch gar nicht erfasst (Fageht/Mikhail 2020, 10-19.

Die der Kompetenztheorie zugrundeliegende Theorie der Transfers ist gar nicht empirisch belegt.

7. Der Transfer-Dogma

Bereits vor der Implementierung der Kompetenztheorie ins deutsche Bildungssystem hatte ein prominenter Lernpsychologe des Max-Planck-Instituts vor der Voraussetzung gewarnt, dass Schüler in der Lage sind, die in einer Domäne erworbene Kompetenzen auf andere Domänen zu übertragen. Denn die der Kompetenztheorie zugrundeliegende Theorie der Transfers sei gar nicht empirisch belegt:

„Versteht man unter Lernen Lernen, dass durch beliebige vorausgehende Lern- und/oder Denkvorgänge in signifikanter Weise begünstigt oder gefördert werden, so kann diese Erwartung als falsifiziert gelten, denn die funktionalen Wirkungen der unterstellten kognitiven Transfermechanismen sind marginal.“ (Weinert o.J., 96)

Franz Weinert: Transferwirkungen sind marginal.

Dies schreibt Franz E. Weinert in seinem Beitrag zum Ersten Kongress des bundesministeriell verantworteten Forum Bildung am 14. u. 15. Juni 2000 in Berlin. Damit ist eine grundlegende Voraussetzung der Kompetenztheorie als „falsifiziert“ bezeichnet.

Auf Weinert soll angeblich auch die immer wieder zitierte Bestimmung dessen zurückgehen, was zur Kompetenz gehört. (Das Weinert-Zitat ist nicht, wie immer behauptet wird, eine Definition, sondern nur eine Aufzählung von Bestandteilen. Unklar ist, ob die Aufzählung vollständig ist. Sind die Teile gleich wichtig? Und in welchem Verhältnis stehen sie?) Hier ein Beispiel:

„Nach Weinert (2001, S. 27f.) versteht man Kompetenzen als ‚die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können‘.“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007/2009, 21)

Der Weinerttext ist hier sehr ungenau rezipiert. Weinert zitiert an der angegebenen Stelle einen Text der OECD (er definiert selbst also gar nicht!), und zwar folgendermaßen eingeleitet:

„Daneben gibt es natürlich auch Probleme, die inhaltsunspezifisch und im engeren Sinne fächerübergreifend sind. Ihre Bewältigung hängt in erster Linie von der Verfügbarkeit allgemeiner Problemlösestrategien ab. Die OECD hat in diesem Zusammenhang mehrfach vorgeschlagen, den vieldeutigen Leistungsbegriff generell durch das Konzept der Kompetenz zu ersetzen (vgl. Rychen & Salganik, im Druck).“ (Weinert 2001, 27)

Auf die implizite Frage, was Kompetenzen im Sinne der OECD seien, schließt Weinert an den vorigen Satz an:

„Dabei versteht man (gemeint ist die OECD, VL) unter Kompetenzen ( … hier erfolgt nun das oben stehende Zitat – als Zitat einer fremden Position, VL…). Als Erträge des schulischen Unterrichts kann man … unterscheiden zwischen fachlichen Kompetenzen … , fachübergreifenden Kompetenzen … und Handlungskompetenzen.“ (Weinert 2001, 27f; Hervorheb. v. mir, VL)

Weinert zitiert hier lediglich einen fremden Text. Und er kommentiert ihn. Ja, er meint ihn auslegen zu müssen, denn er ergänzt etwas, was gar nicht in der OECD-Bestimmung erwähnt wird („kann man unterscheiden“). Weinert differenziert zwischen fachlichen, überfachlichen und schließlich Handlungskompetenzen, eine Unterscheidung, die auch Stein/Stummbaum nicht beachten. Dort sind Fachkompetenzen Bestandteil der Handlungskompetenzen, während Weinert sie ausdrücklich unterscheidet. Weinert zitiert die OECD-Begriffsfassung daher, um darauf hinzuweisen, dass bei ihr eine Engführung dessen droht, worum es in Schule geht. Denn er fährt fort:

„Es ist unbestritten, dass diese (drei, VL) Klassen von Kompetenzen für ein gutes und erfolgreiches Leben innerhalb wie außerhalb der Schule notwendig sind. Prioritätssetzungen zwischen diesen Kompetenzen oder gar die Ablehnung einzelner Kompetenzbereiche (z. B. der fachlichen Kenntnisse) haben sich im Lichte des kognitionspsychologischen Erkenntnisstandes als höchst problematisch erwiesen.” (S. 28)

Weinert weist auf seine Verkürzungen hin, die Entscheidendes vergessen – nämlich die „fachlichen Kenntnisse“.

Der Text also, der formelartig immer wieder als Basis vieler Kompetenztheorien angeführt wird, bestreitet gerade, dass der Kompetenzbegriff so, wie die OECD ihn fasst, für den schulischen Text ausreichend und damit zielführend ist. Der Belegtext belegt gerade nicht die Gültigkeit der OECD-Begriffsauffassung. Im Gegenteil: Weinert weist auf seine Verkürzungen hin, die Entscheidendes vergessen – nämlich die „fachlichen Kenntnisse“. So hatte Weinert schon früher als einen von fünf Irrtümern der Schulreformer die Auffassung genannt: „An die Stelle des mühsamen Wissenserwerbs sollte die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, Medienkompetenzen und Lernstrategien treten.“ Dies aber sei ein Irrtum, denn „Kognitive Psychologie und Expertiseforschung haben inzwischen überzeugend nachgewiesen, daß Lernen, Problemlösen und die Verarbeitung inhaltsspezifischer Informationen keineswegs nur von allgemeinen ‚Schlüsselqualifikationen‘ abhängen. Entscheidend sind vielmehr die Kenntnisse, die ein Schüler in dem betreffenden Wissensgebiet angesammelt hat und geistig ‚verfügbar‘ hält.“ (Weinert 1999, Hervorheb.v.mir, VL)

Literatur:

Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards [2007]. Bonn/Berlin 2009. S. 72-73 (=Bildungsforschung Bd. 1)

Fageth, Barbara; Mikhail, Thomas: Bildung trotz Kompetenzorientierung? In: Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 38 (2020) H.1. S.10-19

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1988.

Hartmann, Michael: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt/M. 2002

Klafki, Wolfgang: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim/Bergstr. 1963

Klafki, Wolfgang: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Weinheim/Bergstr. 1964 (3./4. durchges. u. ergänzte Aufl.)

Klieme, Eckhard; Leutner, Detlev: Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen. Beschreibung eines neu eingerichteten Schwerpunktprogramms der DFG. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006) H. 6. S. 876-903

Koch, Lutz: Kompetenz und Wissen. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 88 (2012) H. 3. S. 454-464.

Ladenthin, Volker: Vorschlag für einen pädagogischen Kompetenzbegriff. In: Meyer-Blanck, Michael: Obermann, Andreas (Hg.): Die Religion des Berufsschulreligionsunterrichts. Überlegungen zur Kommunikation religiöser Themen mit Jugendlichen heute.  Münster 2015. S. 99-127

Neuendorf, Silvio: Du und ich, wir schaffen das: Eine Geschichte über Angst und Mut. Münster 2003

Rekus, Jürgen: Zurück zur Sachlichkeit: Von der Kompetenz- zur Bildungsorientierung. In: Heer, Michaela; Heinen, Ulrich (Hg.): Die Stimmen der Fächer hören.  Paderborn 2020. S.137-148

Spiewak, Martin: „Die besten Lehrer sollten an die schwierigsten Schulen gehen“ In: DIE ZEIT 03. Dezember 2013; Zeit-online; (https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2013-12/pisa-studie-schleicher/seite-2).

Stein, Margit; Stummbaum, Martin: Entwicklung eines Instrumentariums zur Diagnose berufsrelevanter Kompetenzen bei Schulabgängerinnen und -abgängern. https://www.fachportal-paedagogik.de/literatur/vollanzeige.html?FId=920686#vollanzeige und  file:///C:/Users/VOLKER~1/AppData/Local/Temp/Stein_Stummbaum_2010_berufsrelevante_Kompetenzen_D_A-1.pdf. S.1-18 (Abruf am 11.06.2010)Weinert, Franz E.: Konzepte der Kompetenz. Paris 1999

Weinert, Franz E.: Die fünf Irrtümer der Schulreformer. In: Psychologie heute (1999) H.6. S.21-32.

Weinert, Franz E.: Lernen des Lernens. In: Arbeitsstab Forum Bildung (…) (Hg.): Erster Kongress des Forum Bildung am 14. u. 15. Juni 2000 in Berlin. o.O. [Bonn] o.J. [2001] (= Materialien des Forum Bildung Bd. III) S.96-100.

Weinert, Franz E.: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Weinert, Franz E.: Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim-Basel 2001. S.17-31.

Zaiser, Richard: Der Siegeszug der Kompetenzen. Schulreformen, Wirtschaft und

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