7. November 2024

Plädoyer gegen das Könnenmüssen

Primar- und Sekundarschüler üben sich seit der Einführung des Lehrplans 21 im Könnenmüssen. Derzeit werden die KV-Ausbildung und nun auch das Gymnasium durch das Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM) auf Kompetenzen ausgerichtet. Damit erhält die Umstellung unseres humanistischen Bildungsideals auf ein utilitaristisch-ökonomisch orientiertes Modell seinen Abschluss. Ein geeigneter Anlass für Condorcet-Autorin Christine Staehelin, sich zu Sinn und Unsinn des neuen Ideals des Könnenmüssens Gedanken zu machen.

Christine Stähelin: Primarlehrerin in der Stadt Basel, GLP, Mitglied des Bildungsrates.

Das Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM) will die Qualität der gymnasialen Maturität und den damit erworbenen prüfungsfreien Zugang zur Universität langfristig sicherstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird u.a. der Rahmenlehrplan der EDK von 1994 aktualisiert.

Unter matu23.ch kann der Entwurf des Rahmenlehrplans, bestehend aus den Fachlehrplänen sowie einem zweiten Teil, betreffend die «Transversalen Bereiche», eingesehen werden. Beide Teile zusammen umfassen knapp 500 Seiten. Gemäss dem ebenfalls dort einsehbaren Vademecum sollen insbesondere Freiräume entstehen durch «die Begrenzung der Anzahl Lernziele, damit die Lehrperson zusätzlich eigene Akzente setzen kann», was angesichts des immens angewachsenen Umfangs doch erstaunt. Zum Vergleich: Der aktuelle Lehrplan für die Gymnasien Basel-Stadt von 2018 umfasst 108 Seiten.
Jeder einzelne Fachlehrplan führt die entsprechenden allgemeinen Bildungsziele, den Beitrag des Fachs zu den überfachlichen Kompetenzen sowie die Lerngebiete und die fachlichen Kompetenzen auf. Dabei handelt es sich um «präzise Lernziele, die den Fachinhalten zugeordnet sind und die das zu erreichende Wissen und Können festhalten», wie im Vademecum ausgeführt wird.

Fachliche Kompetenzen sind unter die überfachlichen Kompetenzen gesetzt.

Die überfachlichen Kompetenzen werden unterteilt in kognitive überfachliche Kompetenzen und nicht-kognitive überfachliche Kompetenzen; ergänzt werden sie mit ihrem jeweiligen Beitrag zu den basalen fachlichen Kompetenzen für die Allgemeine Studierfähigkeit in der Erstsprache bzw. in Mathematik, wobei sich fragen lässt, warum hier die fachlichen Kompetenzen unter die überfachlichen gesetzt werden. Letzteres liest sich dann wie eine – teilweise schon fast verzweifelte und eigentlich überflüssige – Rechtfertigung der Berechtigung jedes einzelnen Fachs als Teil des Fächerkanons an Maturitätsschulen.

Neugierde als Bildungsziel?

Die Unterscheidung in kognitive überfachliche und nicht-kognitive überfachliche Kompetenzen führt aber auch zu interessanten Aussagen: Als nicht-kognitiv werden beispielsweise das intuitive Denken aufgeführt und die intellektuelle Neugierde. Darüber hinaus lassen sich viele weitere interessante Beispiele finden, die einer vertieften Diskussion über Kognition, Denken, Lernen, Persönlichkeit, Kommunikation usw. durchaus würdig wären.

Alle Kompetenzen werden mit dem Verb «können» eingeleitet, das Verb «wissen» wird im Rahmenlehrplan nicht erwähnt.

Alle Kompetenzen werden mit dem Verb «können» eingeleitet, das Verb «wissen» wird im Rahmenlehrplan nicht erwähnt. Nun könnte man ja denken, dass der Ersatz von «wissen» durch «können» zu vernachlässigen wäre. Ausserdem erklären die Freunde der «Können»-Formulierung natürlich, dass Kompetenzen eine Verbindung von Wissen und Können meine bzw. dass Können Wissen voraussetze. Doch wenn das Wissen nur noch unter dem Aspekt seiner Anwendbarkeit betrachtet wird und wenn die Anwendung stets zu einem Können führen muss, was als solches  bewertet wird, dann ist das m.E. problematisch. Denn wenn wir von Bildung reden, geht es ja nicht nur um die Anwendung bzw. Verwertung von Wissen, sondern auch um den Bestand des Wissens als solches, wie er von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es handelt sich hier ja erst um einen Rahmenlehrplan. Möglicherweise ist vorgesehen, dass die kantonalen Lehrpläne das Wissen inhaltlich weiter fassen, was allerdings  nicht zu einer Verschlankung des Monumentalwerks führt, und so fragt man sich umso mehr, wo nun die angekündigten Freiräume bleiben.

Es geht mir hier darum, Vermutungen darüber anzustellen, was einerseits beabsichtigt wird und was andererseits effektiv passiert, wenn Rahmenlehrpläne sich auf die Beschreibung mehr oder weniger ausführlicher Könnenformulierungen reduzieren, wie das ja auch beim Lehrplan 21 geschehen ist und aktuell im Rahmen der Reform Kaufleute 2022 (bald wohl 2023 oder so nie) stattfindet.

Beabsichtigt ist offensichtlich die Verbesserung des status quo, denn das Projekt «soll dazu beitragen, dass die gymnasiale Ausbildung auch künftige Anforderungen erfüllt», wie auf der Website zu lesen ist – es wäre ansonsten ja wohl obsolet.

Es bleibt der Glaube an zukünftige Generationen, die jene Welt – für die die jetzige Erwachsenengeneration die Verantwortung nicht mehr übernimmt – zu einer besseren und kontrollierbareren machen werden.

Mit der Könnenformulierung verschiebt sich der Fokus vom Lehren auf das Lernen.

Nun, die Zukunft bleibt wie immer offen, doch das menschliche Dasein scheint sich gegenwärtig in erster Linie als eine Bewältigungsform zu zeigen, die verzweifelt und hyperaktiv um eine Lösung zukünftiger Probleme bemüht ist, was angesichts des Klimawandels, der Pandemien, der Angst vor Inflation und Verarmung, des Artenrückgangs usw. ja erklärbar ist. Allem zugrunde liegt die Angst vor dem Kontrollverlust angesichts von menschlichem Handeln, das Prozesse in Gang gesetzt hat, die nun quasi automatisch verlaufen, ohne dass sie gebremst werden können. Es bleibt der Glaube an zukünftige Generationen, die jene Welt – für die die jetzige Erwachsenengeneration die Verantwortung nicht mehr übernimmt – zu einer besseren und kontrollierbareren machen werden. Dafür müssen erstere (aus)gebildet werden und das braucht sehr viel Können, nimmt man an, womit vielleicht die unzähligen Könnenformulierungen als folgerichtig erscheinen. Was aber gekonnt werden muss, ist heute noch nicht klar. Also wird eine Bildung, die auf möglichst umfassende und komplexe Kompetenzformulierungen setzt, zum Mittel der Wahl für diesen Zweck, und zwar obwohl heute damit nicht einmal mehr eine attraktive Zukunft versprochen wird, sondern wohl eher ein letzter Ausweg. Inwiefern damit die junge Generation selbst zum Mittel wird, bleibt hier offen.

Also werden die Kompetenzen inhaltlich und zahlenmässig möglichst ausschweifend formuliert, auch um dem Vorwurf zu entgehen, man habe Wesentliches vergessen.

Hanna Arendt: Man schlägt den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand.

Wer so viele Wörter braucht, um sogenannte Kompetenzen zu beschreiben, übernimmt die Verantwortung nicht, sich auf das inhaltlich Wesentliche zu beschränken bzw. zu beurteilen, was wesentlich ist. Das mag daher kommen, dass aus einer berechtigten Einsicht heraus nicht so getan werden soll, als ob man schon wüsste, was zukünftig wesentlich sein wird. Also werden die Kompetenzen inhaltlich und zahlenmässig möglichst ausschweifend formuliert, auch um dem Vorwurf zu entgehen, man habe Wesentliches vergessen. Doch «jede Generation kann nur das weitergeben, was sie weiss und was sie schätzt»[1]. Wissen wir nicht mehr, was wir schätzen, angesichts der Tatsache, wohin das Wissen und unser Tun uns bis heute geführt haben? Wollen wir nicht mehr einstehen für die Welt, wie wir sie geschaffen haben? Rührt daher die Scheu vor dem konservativen Moment von Bildung und Erziehung? Die Komplexität der Inhalte und die gleichzeitig überdeterminierte Festschreibung von Können in unterschiedlichsten Variationen will wohl für eine ungewisse Zukunft vorbereiten. Doch «indem man sie auf etwas Neues vorbereitet, schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand».[2]

Durch die Festschreibung aller erdenklicher sogenannter Kompetenzen (darunter fallen auch «staunen können», «Prüfungsstress antizipieren», «Anstrengung akzeptieren» usw.) wird das ganze Schülerleben reduziert auf Anpassung, Konformität und Ausführung.

Staunen als Bildungsziel?

Durch die Festschreibung aller erdenklicher sogenannter Kompetenzen (darunter fallen auch «staunen können», «Prüfungsstress antizipieren», «Anstrengung akzeptieren» usw.) wird das ganze Schülerleben reduziert auf Anpassung, Konformität und Ausführung; weder Hadern noch Scheitern, weder Zögern noch Widersprechen, weder Ausschweifen noch Hoffen und Träumen haben ihren Platz. Der Könnensanspruch ist erdrückend und hat nichts mehr zu tun mit dem Humboldtschen Bildungsideal von «der Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung»[3].

Es wäre vermessen zu glauben, dass zwischen der Instruktion und dem Können immer ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang besteht.

Mit der Könnenformulierung verschiebt sich der Fokus vom Lehren auf das Lernen. Das setzt auch Lehrerinnen und Lehrer unter Druck, nicht nur ausgehend von der schieren Anzahl der erwarteten Kompetenzen, sondern auch weil sich der Fokus von der Begeisterung für die Sache, für das Wissen, für die Kultur – also für das Bestehende – und der ihnen zugeschriebenen Wichtigkeit sowie für deren personale Vermittlung verschiebt auf die Könnenserwartung gegenüber den Schülerinnen und Schülern.

Es gehört zu den Lehrertugenden, davon überzeugt zu sein, dass das Wichtige vermittelbar ist.

Natürlich ist es Lehrerinnen und Lehrern wichtig, dass ihre Lernenden etwas verstehen und können, aber es wäre vermessen zu glauben, dass zwischen der Instruktion und dem Können immer ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang besteht. Es gehört zu den Lehrertugenden, davon überzeugt zu sein, dass das Wichtige vermittelbar ist, auch wenn es manchmal nicht den Anschein macht angesichts möglicherweise verständnisloser Blicke seitens der Schülerinnen und Schüler. Dann werden neue Erklärungsversuche gewagt, es werden andere Zugänge gesucht, oder man beginnt nochmals von vorn. Aber eine unüberschaubare Liste von Kompetenzbeschreibungen führt auch beim enthusiastischsten Pädagogen angesichts der Fülle zum Scheitern am Anspruch und verleitet zu einem Abarbeiten von Vorgegebenem.

Somit verschwindet das Freiheitsmoment aus dem pädagogischen Prozess – und zwar für beide Seiten, für die Lehrenden und für die Lernenden, während die Anpassung gewinnt.

Einerseits komplex, gleichzeitig zu konkret, normativ geprägt und trotzdem nicht messbar.

Erziehung zur Anpassung?

Natürlich geschieht das auf beiden Seiten nicht widerstandslos. Während Schülerinnen und Schüler auf den Anpassungsdruck vielleicht mit Absentismus, Gleichmut, psychosomatischen Beschwerden, Verweigerung, Gehorsam oder Widerstand reagieren, sind Lehrerinnen und Lehrer möglicherweise in erster Linie irritiert. Einerseits weil die Kompetenzbeschreibungen auf der Ebene des Wissens bzw. der zu vermittelnden Bildungsinhalte zu umfassend, zu komplex und gleichzeitig zu konkret sind, andererseits weil sie überprüfbare Könnensanforderungen in den verschiedensten Bereichen einfordern, die teilweise stark normativ geprägt und gleichzeitig nicht messbar sind («kommunikativ sicher auftreten», «den Menschen als Teil der Natur einstufen», «neben dem kognitiven auch das intuitive Denken wertschätzen und entwickeln» usw.). Ausserdem versinkt das pädagogische Dreieck, das das Verhältnis von Lehrperson, Sache und Lernenden jeweils zueinander beschreibt, im Chaos. Lehren heisst, sich mit der Sache befassen und diese als bedeutsam einschätzen, sich überlegen, wie diese am besten vermittelt wird, die Vermittlung zu einer personalen Angelegenheit machen und das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit bei den Schülerinnen und Schülern zu stärken. Angewiesen sind die Lehrerinnen und Lehrer dabei auf einen in Bezug auf das zu vermittelnde Wissen inhaltlich geklärten Lehrplan. Wie sie die Sache vermitteln, diesem Leben einhauchen, Begeisterung dafür wecken, das ist ihr pädagogischer Auftrag. Dass sie dabei das Können, das Tun, das Verstehen, das Erkennen und gleichzeitig die Freude am Lernen im Auge behalten, ist selbstverständlich. Wenn die Formen des Könnens bei den Kompetenzen im Rahmenlehrplan gleich mitbeschrieben werden, dann bedeutet das nichts anderes als eine Entmündigung der Lehrerinnen und Lehrer.

Lehren heisst, sich mit der Sache befassen und diese als bedeutsam einschätzen, sich überlegen, wie diese am besten vermittelt wird, die Vermittlung zu einer personalen Angelegenheit machen und das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit bei den Schülerinnen und Schülern zu stärken.

Der Entwurf zur Maturreform tangiert das Selbstverständnis von Bildung im weitesten Sinne.

Nun, die Entwürfe für den Rahmenlehrplan stehen. Argumentativ ist den Ausführungen nicht zu begegnen, denn diese tangieren – wie auch der Lehrplan 21 – das Selbstverständnis von Bildung im weitesten Sinne; es ist fraglich, wo das Thema beginnt und wo es aufhört. Es liegt an den Lehrerinnen und Lehrern der Gymnasien zu entscheiden, ob dieses Instrument ihnen ermöglicht, ihren Beruf sinnvoll, freudig und gewinnbringend auszuüben oder ob die Zerkleinerung von wesentlichen Kultur- und Wissensbeständen in Könnens-Splitter sie davon abhält. Würde Letzteres zutreffen, wäre der Rahmenlehrplan in dieser Form abzulehnen – ohne Diskussion.

 

[1] Reichenbach, R. (2014). Progressiv sein heisst heute Dinge konservieren. Die Wochenzeitung 08/2014.  https://www.woz.ch/-4bab

[2] Arendt, H. (2000). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im Politischen Denken (hrgs. von U. Ludz). München: Piper (S. 258)

[3] Von Humboldt, W. (1903). Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Auszug. In A. Leitzmann (Hrsg.) Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Bd.1. Berlin: B. Behrs’s Verlag. S. 106

 

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2 Kommentare

  1. Der Autorin ist durchweg zuzustimmen.
    In Matu23 ist zu lesen:
    „FACH-RAHMENLEHRPLAN FÜR DAS GRUNDLAGENFACH
    MATHEMATIK
    1. ALLGEMEINE BILDUNGSZIELE
    Der Mathematikunterricht vermittelt ein intellektuelles Instrumentarium, ohne das – trotz Intuition und Erfindungsgeist – kein vertieftes Verständnis der Mathematik, ihrer Anwendungen und der wissenschaftlichen Modellbildung überhaupt möglich ist.
    Bei den Lernenden stehen folgende vier Blickrichtungen im Vordergrund:
    – der Blick in die Welt der Mathematik hinein als einer eigenständigen Disziplin;
    – der Blick aus der Mathematik hinaus in ihre Anwendungen, die Modellbildungen
    und deren Bezüge auf die uns umgebende Wirklichkeit;
    – der Blick in die Ideengeschichte der Mathematik und deren Einbettung in die Kulturgeschichte und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik;
    – der Blick auf die Rolle der Mathematik in Bezug auf die sich dynamisch entwickelnden gesellschaftlichen Herausforderungen, insbesondere Umweltprobleme, Wirtschaft, Menschenrechte und Digitalisierung.“
    Schon der erste Satz ist sehr merkwürdig – auch wegen des eigentümlichen Trotz. Was ist mit diesem intellektuellen Instrumentarium gemeint? Steht hier entschuldigend, dass man Mathematik ohne Mathematik nicht verstehen kann?
    Die vier Blickrichtungen sind nur zwei, nämlich die erste und dritte und die zweite und vierte. Bedient und akzentuiert werden (übrigens schon in der im Text folgenden Begründung) nur letztere. Dies harmoniert mit der funktionalistischen Bildungsauffassung der OECD. Die fachlichen Inhalte verblassen auch in den deutschen Lehrplänen gegenüber den Kompetenzen in schockierenden Ausmaß.

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