Die vom cleveren Verlag erfundene Wortschöpfung «anti-autoritär» wurde zur Kulturkampfparole. «Autorität» stand abstrakt gegen «Freiheit», «Belehrtwerden» gegen «aktives Lernen». Es wurde schick, «anti-autoritär» zu sein. Vielen Exponenten einer neuen, oppositionellen Elterngeneration kam es nicht ungelegen, dass sie nicht mehr erziehen musste. Gestandene Lehrer liessen sich verunsichern und begannen an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Den Begriff «Erziehung» wagte man kaum mehr zu gebrauchen. Erziehungsdirektionen wurden in Bildungsdirektionen umbenannt.
„Wenn man sich zu einem Thema äussert, das in der Gegenwart brennend ist, so sollte man immer gegen den Strom sprechen“.
Gegen den Strom sprechen
Jeanne Hersch hatte von 1933 bis 1956 als Gymnasiallehrerin an der Ecole internationale «Ecolint» in Genf, einem reformpädagogischen Projekt des Völkerbundes, unterrichtet. Ihre dortigen Erfahrungen mit der «Aktiven Schule» machten sie zu einer Kritikerin der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts, die für sie aus einer Kette von missgeleiteten pädagogischen Konzepten bestand.
Jeanne Herschs Vortrag begann mit dem berühmt gewordenen Satz:
„Wenn man sich zu einem Thema äussert, das in der Gegenwart brennend ist, so sollte man immer gegen den Strom sprechen“.
Sie bezog sich bei ihrer „unzeitgemässen“ Betrachtung auf den französischen Philosophen Jacques Maritain, der 1943 in seinem Buch «Education at the Cross Roads» zwei Entscheidungsmöglichkeiten der Pädagogik aufzeigte: Erziehung könne entweder von der Kultur oder vom Kind her verstanden werden, einen Mittelweg gebe es nicht. Der Weg allein vom Kind aus war für Maritain der falsche Weg: Für ihn war der Mensch ein „être docile“, ein Wesen, das belehrt werden könne und nicht nur lerne.
Belehrbarkeit
Für Jeanne Herrsch bedeutete belehrbar zu sein nicht nur, dass man etwas vom andern bekomme, sondern dass man eine empfängliche Aktivität entfalten könne, und diese empfängliche Aktivität sei etwas, woran man vielleicht heutzutage nicht genügend denke.
«Belehrbarkeit» sei nicht das Credo der Reformpädagogik, die das «freie Lernen», auch in der Schule, predigte. Dazu hätte sich die Schule dem Kind anzupassen. Die Slogans in der Erziehungssprache stellen laut der Studie von Israel Scheffler (1960) verkürzte Erziehungstheorien dar. Das komplexe Problem der Erziehung werde auf die zwei weltanschaulichen Extrempositionen «progressiv» oder «konservativ» reduziert. Das Grunddogma, dass «aktives Lernen» besser als «Belehrtwerden» sei, sei in die Ausbildung angehender Lehrkräfte eingeflossen, ohne dass dabei ihre einstigen Urheber genannt würden.
Den als revolutionär postulierten Gedanken, alles abzuschaffen, um aus der Leere Gerechtigkeit entstehen zu lassen, also das «Ideal» eines absolut nicht manipulierten Menschen, lehnt sie ab, weil ein gar «nicht manipulierter» Mensch überhaupt kein Mensch mehr sei.
Aus der Leere die Gerechtigkeit steigen lassen
Für die Philosophin Jeanne Hersch ist wesentlich, dass jedes Lernen, Beobachten oder Prüfen einen Massstab als Voraussetzung für kritisches Denken habe. Diesen Massstab könne man nicht selbst erfinden, sondern er existiere bereits in einer bestimmten Kulturwelt. Man könne nicht aus einer Leere heraus sinnvoll und kritisch denken. Den als revolutionär postulierten Gedanken, alles abzuschaffen, um aus der Leere Gerechtigkeit entstehen zu lassen, also das «Ideal» eines absolut nicht manipulierten Menschen, lehnt sie ab, weil ein gar «nicht manipulierter» Mensch überhaupt kein Mensch mehr sei.
«Also liegt eigentlich ein Vorurteil in den sogenannten absolut revolutionären Gedanken, wo man alles abschaffen will, um aus der Leere die Gerechtigkeit steigen zu lassen; wo man glaubt, dass Gerechtigkeit von alleine entsteht, wenn man nur die Ungerechtigkeit abschafft.»
Denn bereits die Muttersprache stelle eine tiefe «Manipulation» dar, weil sie die Struktur unseres Denkens bilde. Wenn wir Manipulation vermeiden wollten, dann hätten wir Kinder, die keine Menschenkinder seien, sondern Tiergeschöpfe, die irgendwelche Laute ausstiessen. Auch die Lebensbedingungen am Anfang des Lebens brächten soziale Ungerechtigkeiten mit sich. Das bedeute nicht nur, dass es gescheite Kinder gebe, die aber später wegen der sozialen Verhältnisse nicht studieren könnten, sondern sie könnten auch gar nicht gescheit werden. Diese anfängliche Ungerechtigkeit könne man aber nicht dadurch aufheben, dass man den sozio-kulturellen Hintergrund zerstöre, damit alle Kinder in der gleichen Leere aufwüchsen. Das hiesse im Grunde den Menschen selbst aufzugeben und abschaffen zu wollen.
Worin besteht der Sinn dieser kritischen Reflexion?
Jeanne Hersch war sich im Klaren, dass in der Erziehung der Vergangenheit die passive Aneignung gegenüber der selektiven individuellen Tätigkeit stärker gewichtet wurde, während heute das Gegenteil überbetont werde: das Beobachten. Man lerne nicht mehr auswendig oder etwas zu wiederholen oder zuzuhören, sondern zu beobachten. Heute werde der kritische Geist, die kritische Reflexion gefördert. Jeanne Hersch fragt sich aber, worin der Sinn dieser kritischen Reflexion bestehe. In wessen Namen wird sie geübt? Welches ist ihr Gegenstand? Welcher Wert inspiriert das kritische Denken? Damit die Schüler einen kritischen Sinn entwickeln, müssten sie diese Bezugsgrössen kennen. Wohl sei der Lehrer derjenige, der den Stoff auswählt und den Schülern die Kriterien zeigt, die diesem erlauben zu unterscheiden. Der Schüler aber müsse wissen, in wessen Namen er kritisch über etwas nachdenken soll, worum es geht, worauf es ankommt. Der Lehrer müsse demnach so unterrichten, dass der Schüler immer weiss, was für ihn wichtig ist.
Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist keine der Gleichheit
Zentral ist für Jeanne Hersch die Art der Lehrer-Schüler-Beziehung, und zwar nicht als Beziehung der Gleichheit, wie heute gefordert wird. Sie wandte sich gegen die „kindzentrierte“ Reformpädagogik, weil der Lehrer nicht als „copain“, als Kamerad des Schülers, gelten dürfe und der Schüler nicht auf gleicher Stufe wie der Lehrer stehe. In einem solchen Verhältnis wäre der Lehrer überflüssig, weil der Schüler dann lernen könne, was er will, und nicht, was für ihn gut ist. Kameraden könne der Schüler viele haben, aber Lehrer habe er nur einen.
Sie begründet die Überlegenheit des Lehrers damit, dass er mit seiner Person die Form der Klasse verkörpere. Die Klassenform helfe beim gemeinsamen Lernen und Leben, und dieser Form gehorche man, wenn man dem Lehrer gehorcht. Es gebe zwei Arten von Lehrern, und die Schüler bräuchten beide Arten. Heute sind besonders solche Lehrer in Mode, die die Schüler sehr gerne haben und sich wie Kameraden verhalten. Die andere Art verkörpert symbolisch die Funktion des Lehrers an sich. Die Ungleichheit zum Schüler ergibt sich schlicht daraus, dass er «der Lehrer» ist. Weil aber heute die Unsicherheit bei den Erwachsenen gross sei, habe der Lehrer grosse Mühe, die Gestalt der Klasse an sich als Lehrer, natürlich ohne allen persönlichen Ehrgeiz oder Machtwillen, zu verkörpern.
Dem Klassenlehrer solle es im Unterricht mehr um das gehen, was er unterrichtet, als um den Schüler.
Das Neue scharf fassen und das Permanente niemals aus den Augen verlieren
Natürlich muss sich jeder Lehrer weiterbilden, so Jeanne Hersch, weil sich die Zeit schnell verändert. Aber neben der Veränderung darf man auch das Permanente, das permanent Wesentliche der Lehrer-Schüler-Beziehung nicht vergessen.
Dem Klassenlehrer solle es im Unterricht mehr um das gehen, was er unterrichtet, als um den Schüler. Der Ort der Begegnung finde damit vor allem auf einer inhaltlichen Ebene statt. Jeanne Hersch malt aus, wie die Begeisterung des Lehrers für seinen Unterrichtsgegenstand zu einer Art Selbstvergessenheit führt, die sich auf den Schüler überträgt. Es gilt, einen Sachverhalt oder Text so leuchtend klar zu vermitteln, dass es für den Schüler zum Genuss wird und er die Gewissheit bekommt: Ja, so ist es und nicht anders, und es ist ganz sicher.
Erziehung zu verantwortlicher Freiheit innerhalb menschlicher Grenzen
Dem Konzept der „neuen Erziehung“, die vom eigenständigen Lernen der Kinder ausgeht, hielt Jeanne Hersch entgegen, dass Erziehung überflüssig werde, wenn die Kinder frei wie Erwachsene wären. Für sie bedeutet Freiheit und Verantwortlichkeit nicht dasselbe wie Glück. „Freie“ Kinder seien nicht einfach „glückliche“ Kinder, und Freiheit sei wohl das Ziel der Erziehung, aber nicht zugleich der Modus der Erfahrung. Dabei helfen keine pädagogischen Doktrinen, Erziehung müsse in konkreten Situationen mit Kindern gelebt und ausgehalten werden.
„Erziehung setzt … keineswegs irgendeine dogmatische Lehre voraus als einzig möglichen Weg oder irgendein gesellschaftliches Modell als das einzig richtige. Nein, sie soll nur die Chancen der verantwortlichen Freiheit jedes Menschen nach Möglichkeit vergrössern“.
Erziehung soll Kinder auf das Abenteuer des Menschseins vorbereiten. Junge Menschen schulden ihrerseits der Gesellschaft solidarische Mitwirkung an der Aufrechterhaltung der Bedingungen einer selbstverantwortlich ausgeübten Freiheit. Erziehung aufzugeben, würde bedeuten, dass man aufgibt, Mensch zu sein. Die politische Frage nach einer funktionierenden Demokratie und einem demokratischen Sozialismus stand für Jeanne Hersch in enger Beziehung zur pädagogischen Frage nach der Erziehung junger Menschen zu freien, ihrer Verantwortung bewussten Bürgern.
Das Resultat der antiautoritären Erziehung
Die Jugendunruhen in der Schweiz in den 1980er Jahren betrachtete Jeanne Hersch als Resultat der antiautoritären Erziehung mit fehlenden erwachsenen Vorbildern und einer mangelnden Orientierung:
„In Wirklichkeit ist eine der Quellen des Unglücks für einen Teil der heutigen Jugend meiner Ansicht nach keineswegs die Repression, sondern die Abwesenheit von echten Erwachsenen in unserer Gesellschaft. Wenn es heisst, „alles ist erlaubt“, so bedeutet das, dass es nichts gibt – nichts, das zu etwas zwingt, nichts, das etwas wert ist, nichts, das sich aufdrängt. Da alles erlaubt ist, erwartet man von niemandem etwas. Das habe ich die nihilistische Leere genannt.“
Lebenslauf
Jeanne Hersch wurde als Tochter polnisch-jüdischer Immigranten 1910 in Genf geboren und studierte Philosophie bei Paul Häberlin und Karl Jaspers. Nach 22 Jahren als Gymnasiallehrerin lehrte sie an der Universität Genf ab 1947 als Privatdozentin, ab 1956 als Professorin und von 1962 bis 1977 als ordentliche Professorin am Lehrstuhl für Systematische Philosophie. Von 1966 bis 1968 war sie Direktorin der Abteilung Philosophie der UNESCO in Paris, wo sie das Grundlagenwerk «Das Recht Mensch zu sein» publizierte. Sie diente im Zweiten Weltkriegs beim Frauenhilfsdienst und im Kalten Krieg in der «geheimen Kaderorganisation zur Aufrechterhaltung des Widerstandswillens». Sie war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei von 1939 bis 1992. Sie trat aus der Partei aus, als die SP Schweiz den straffreien Konsum von Drogen befürwortete.
Quellen:
Jeanne Hersch: «Der Lehrer in der heutigen Krise». Schweizer Erziehungsrundschau 46, 1973-1974
Jürgen Oelkers: «Jeanne Hersch, Schule und Reformpädagogik», Vortrag auf der Tagung «Ideal, Macht, Utopie: Symposion zum 100. Geburtstag von Jeanne Hersch» am 15. Juni in der Universität Zürich