28. März 2024

Totgesagte leben länger: Wie der Mythos der Lernstile überlebt

Condorcet-Autor Urs Kalberer warnt in seinem Beitrag davor, durch eine voreilige und oberflächliche Kategorisierung die Schülerinnen und Schüler in ihren verschiedenartigen Lernpotenzialen einzuschränken.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer Malans, Betreiber des Schulblogs “schuleschweiz”

Eigentlich klingt es einleuchtend: Die meisten von uns besitzen eine bestimmte Vorliebe, um neuen Stoff zu lernen.  Daraus hat sich die Theorie entwickelt, dass Lernstoff möglichst in der vom Lerner bevorzugten Art dargeboten werden sollte. Auf die Schule bezogen heisst dies, dass die Schüler besser lernen, wenn wir ihre individuellen Lernstile kennen und den Unterricht darauf einstellen. Soweit die Theorie – sie hat nur einen Haken: Sie stimmt nicht.

Wir alle haben bevorzugte Lernstile, z.B. lieber einen Film schauen als ein Buch lesen. Es stimmt auch, dass wir bestimmte Arten von Informationen besser oder schlechter verarbeiten können. Es gibt halt unterschiedlich gute Leser oder Schüler mit einem besser entwickelten räumlichen Vorstellungsvermögen. Alle diese Unterschiede sind unbestritten und jeder, der eigene Kinder hat oder im Unterricht vor einer Klasse steht, weiss davon. Doch die Theorie der unterschiedlichen Lernstile geht einen Schritt weiter: Sie behauptet, dass wir, wenn wir mit unserem bevorzugten Stil unterrichtet werden, auch besser lernten. Das ist nachweislich falsch (1).

Insgesamt glaubten 89,1% der Teilnehmer, dass Menschen besser lernen, wenn der Unterricht auf ihren Lernstil abgestimmt ist.

Dennoch glaubt immer noch eine satte Mehrheit von Lehrern an diese Lerntypen-Unterrichtstheorie, auch wenn sie längst als pädagogischer Irrglaube entlarvt worden ist. In einer kürzlich im Fachmagazin «Frontiers in Education» (2) veröffentlichten Untersuchung wurden Daten von weltweit über 15’000 Pädagogen analysiert. Insgesamt meinten 89,1% der Teilnehmer, dass Menschen besser lernen, wenn der Unterricht auf ihren Lernstil abgestimmt ist. 95,4% der angehenden Pädagogen glaubten an Lernstile – etwas höher als die 87,8% der qualifizierten Pädagogen, die ähnliche Überzeugungen zeigten.

Warum sind Lernstile so beliebt?

Der Mythos der individuellen Lernstile, die im Unterricht berücksichtigt werden sollten, scheint nach wie vor allgegenwärtig zu sein. Aber warum Pädagogen weiterhin an sie glauben, ist weniger klar. Immerhin verlängern sie die Unterrichtsvorbereitung markant. Es kann sein, dass dieser in der Ausbildung implantierte Glaube so tief verankert wurde, dass er der Kritik noch immer standhält. Es könnte sein, dass Lehrer so mit ihren Schülern arbeiten, wie sie seinerzeit selbst von ihren Lehrern unterrichtet wurden. Oder es könnte sein, dass Versuche, den Mythos zu entlarven, einfach nicht bis zu den Pädagogen gelangten.

Schliesslich eignet sich die Theorie der Lernstile ausgezeichnet dazu, um allfällige Misserfolge auf die Schule, bzw. auf den Lehrer, abzuwälzen.

Wir lieben es zu schubladisieren

Wir lieben es, die Menschen in Schubladen zu verstauen und so zu kategorisieren. Das hilft uns, die oft komplexere Wirklichkeit zu ertragen. Ein weiterer Grund, warum die Idee des Lernstils so beliebt ist, ergibt sich aus dem sogenannten Barnum-Effekt. Dies ist die Idee, dass Menschen, die vage, verallgemeinerte Informationen – z.B. in einem Horoskop – erhalten, diese als persönlich bedeutsam interpretieren, wenn sie eintreffen. Im Normalfall, d.h., wenn sie nicht eintreffen, erinnern wir uns einfach nicht mehr daran. Schliesslich eignet sich die Theorie der Lernstile ausgezeichnet dazu, um allfällige Misserfolge auf die Schule, bzw. auf den Lehrer, abzuwälzen. «Wie soll denn mein auditives Kind mit der Menge an visuellen Informationen klarkommen?»

Das beliebteste Lernstilmodell ist VAK, das für visuell, auditiv und kinästhetisch steht. Geschmackliche und olfaktorisch Lernende werden, wie viele andere Lerndimensionen, ignoriert. Coffield und seine Kollegen (3) fanden beispielsweise 71 unterschiedliche Lernstile. Die Beschränkung auf bloss deren drei bei VAK hat also etwas Willkürliches. Ein weiteres Problem mit VAK ist, dass es die Funktionsweise des Gehirns falsch darstellt. Wir speichern Informationen nicht nach einem „dominanten Stil“. Wir tun es, indem wir sie so speichern, wie sie uns präsentiert wurden. Wenn wir also aufgefordert werden, uns an ein Gesicht zu erinnern, erhalten wir ein Bild von diesem Gesicht. Ein sogenannter visueller Lernender, der über sein Lieblingslied nachdenkt, sieht kein mentales Bild des Liedes. Er wird das Lied wie alle anderen in seinem Kopf hören!

Die Folge davon – unzählige kopierte Aufgabenblätter, digitale Lernangebote und greifbare haptische Erlebnisse – gehen auf Kosten der Instruktion.

Für den Lehrer ist es eine Herkulesaufgabe, Materialien zusammenzustellen, die unterschiedlichsten Lernbedürfnissen entsprechen. Die Folge davon – unzählige kopierte Aufgabenblätter, digitale Lernangebote und greifbare haptische Erlebnisse – gehen auf Kosten der Instruktion. Die Anforderung, jedem Kind möglichst gerecht zu werden, führte zur Vernachlässigung des Kernelements von Unterricht, der Instruktion, und damit zur Vernachlässigung aller Kinder. Ganz zu schweigen vom Ausbrennen von Lehrkräften. Wenn ein Lehrer auf die individuellen Bedürfnisse eines Kindes in einer Klasse von 20 eingeht, bedeutet dies, dass 19 Kinder vernachlässigt werden und mit Behelfsbeschäftigungen wie Gruppenarbeiten, individuellem Lesen oder Arbeitsblättern hingehalten werden.

Dazu kommt, dass der Unterricht mit Lernstilen auch direkt schädliche Auswirkungen aufs Lernen haben kann. Nehmen wir an, wir müssten die Länder Afrikas lernen. Am besten dazu eignet sich eine Karte Afrikas. Es wäre nun fahrlässig, würde man dem auditiven Lerner die Karte vorenthalten und ihm die Lage der Länder mündlich beizubringen versuchen. Der Fokus auf Lernstile tut genau dies: Er verwehrt den Kindern wichtige Ressourcen aufgrund einer oft oberflächlichen Diagnose.

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass durch die Konzentration auf einen bestimmten Lerntyp andere wichtige Lernwege vernachlässigt werden. Ein schwacher Leser, der lieber Filme schaut wird somit darin unterstützt, das Lesen zu vernachlässigen.

Die gute Nachricht ist, dass Lehrer sich weniger Sorgen machen müssen. Beim Lernen kommt es nicht auf den persönlichen Lernstil an, sondern ob der Lernstil zum Inhalt passt.

Was bedeutet das für den Unterricht?

Die gute Nachricht ist, dass Lehrer sich weniger Sorgen machen müssen. Beim Lernen kommt es nicht auf den persönlichen Lernstil an, sondern ob der Lernstil zum Inhalt passt. Lehrer können Zeit bei der Vorbereitung sparen, indem sie sich nicht mehr um genug Aktivitäten für kinästhetische Lernende kümmern müssen. Dies ist jedoch keine Lizenz zum Unterrichten ohne Bildmaterial, Töne oder Aktivitäten. Für den Schüler gilt es, sich nicht durch eine voreilige und oberflächliche Kategorisierung in seinen verschiedenartigen Lernpotenzialen einschränken zu lassen. Für den Unterricht gilt: Die Methode auf den Inhalt auszurichten und nach der möglichst idealen Art der Vermittlung zu suchen. Ist dies der Fall, lernen alle besser, unabhängig von ihren subjektiv wahrgenommenen Lernvorlieben. Auf die Produktion von sinnlosen VAK-Fragebögen kann getrost verzichtet werden.

Quellen:

1 Polly R. Husmann, Valerie Dean O’Loughlin “Another Nail in the Coffin for Learning Styles? Disparities among Undergraduate Anatomy Students’ Study Strategies, Class Performance, and Reported VARK Learning Styles”. 2018, Anatomical Sciences Education
2 Philip M. Newton, Atharva Salvi “How Common Is Belief in the Learning Styles Neuromyth, and Does It Matter? A Pragmatic Systematic Review”, 2020, Frontiers in Education. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/feduc.2020.602451/full
3 Learning styles and pedagogy in post-16 learning: a systematic and critical review. Coffield, FrankMoseley, DavidHall, ElaineEcclestone, Kathryn, 2004, Learning & Skills Research Centre London

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Ein Kommentar

  1. Es ist erschreckend, dass so viele Lehrpersonen an den Lernstil-Mythos glauben. Wann öffnet sich die Pädagogik endlich gegenüber den Erkenntnissen der Psychologie und Neurologie? Da könnten die Lehrer noch einiges lernen. Es ist wohl bequemer im eigenen Pädagogik-Elfenbeinturm zu verharren.

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