Ich konnte nie Skatebooarden. Ich konnte passabel Schlittschuh fahren, spielte Eishockey, fuhr die alten Rollschuhe auf Rädern, die ich wohl bald wieder anschnallen werde, um meinem Grosskind diese Kunst beizubringen.
Üben, üben,üben
Aber einer unserer Söhne – nur er – entdeckte das Skateboarden sehr früh. Ich – der überzeugte Mannschaftssportler – nervte mich zu Beginn über seine unzähligen Versuche, kleine Abhebeversuche über Treppen und Geländer zu üben. Üben, nicht achtmal, wie es ein PH-Direktor kürzlich meinte, nein, hundertmal, Hunderte Male. Immer wieder reizte er den Sprung ins Ungewisse aus, auf dem Weg zur physischen Weltbeherrschung.
Das war nicht immer lustig für seine Eltern. Als er den Bözingerberg (unser Hausberg) hinunterfuhr, kam er mit einem Loch im Kopf nach Hause und landete im Spital.. Es ist eben alles ein Versuch.
Er nutzte den öffentlichen Raum, Trottoire, Geländer, Treppen auf dem Weg zur Schule.
Das Velo? Etwas für die Normalos! Er nutzte den öffentlichen Raum, Trottoire, Geländer, Treppen auf dem Weg zur Schule. Vorbei an tristen Bausünden überholte er nicht selten die Velofahrer und im Stau stehende Fahrzeuge.
Skateboard ist das Gegenteil von Mannschaftssport. Er ist individuell, meditativ, ganz auf Selbstbeherrschung aus. Dazu gehören Härte, Disziplin und Schmerzunempfindlichkeit.
Viele Jahre später entdeckte ich in einer Buchhandlung den Fotoband Skate Girls of Kabul von Jessica Fulford-Dobson. Der Band enthält Bilder, die mir die Sprache verschlugen. Mädchen aus dem Slums von Afghanistan skaten in einer Halle am Rande der afghanischen Hauptstadt. Die Photographin schrieb im Vorwort: «Ich traf so beeindruckende junge Mädchen und heranwachsende Frauen, die sich nicht als Opfer sehen wollen sondern Freiheitswillen und Lebensfreude ausstrahlten. Ich war glücklich unter ihnen.»
All diese Mädchen gehen in die Schule, die laut Jessica Fulford-Dobson von strengen, entschlossenen jungen Frauen geführt wird. Hier werden ihnen die Kulturtechniken beigebracht, die sie einmal benötigen werde, wenn sie selber Lehrerinnen oder Ingenieurinnen werden wollen. Dankbarkeit, Freude und Optimismus leuchten aus den Augen dieser Mädchen. Nach der Schule rennen sie in die Skaterhalle, vorbei an sie bewachenden Soldaten, aber scheinbar ohne Angst.
In einer Welt voller Einschränkungen intensivieren diese Mädchen ihre Bewegungsfreiheit maximal und demonstrieren dabei ihren Willen zur Freiheit.
Warum entdecken junge Mädchen im Kerker einer mädchenfeindlichen Umgebung in Afghanistan, ständig bedroht durch die Taliban, diesen Sport und nicht zum Beispiel den Fussball?
Vielleicht ist es ein Aufbegehren gegen die Tyrannei in einer ganz individuellen Form. In einer Welt voller Einschränkungen intensivieren diese Mädchen ihre Bewegungsfreiheit maximal und demonstrieren dabei ihren Willen zur Freiheit.
Wenn ich mich heute in meinem Auto ankette, das ständige Piepsen über mich ergehen lasse, meine Frau sich auf die automatische Bremsung und Spurensicherung verlässt, dann denke ich ab und an den Eskapismus meines Sohnes.
Noch mehr aber bewundere ich diese jungen Mädchen, die – wahrscheinlich ohne es zu wissen – uns Menschen im Westen einen Wert vorleben, den wir vielleicht vergessen haben: Freiheit maximal zu erleben, trotz aller Hindernisse.
Alain Pichard