- Schülerleistungen und Lehrmittel
Ausgangssituation für die Untersuchung war das tiefe Niveau im britischen Mathematikunterricht. Das schlechte Abschneiden der britischen Kinder war beim International Assessment of Educational Progress (IAEP) in den Jahren 1964, 1981 und 1991 offenkundig geworden Aus diesem Grund konnten im Unterschied zum Kontinent zu wenig genügend ausgebildete und geeignete Schulabgänger für einen technischen Lehrberuf gefunden werden. Schweizer Schüler waren am Ende der Primarschule den britischen um 1 bis 2 Jahre voraus, obschon die britischen Kinder 18 Monate länger beschult worden waren.
«Zählen und Rechnen ist der Grund aller Ordnung im Kopfe.» Johann Heinrich Pestalozzi
Man forderte einen verbesserten Mathematikunterricht: „Zurück zu den Grundlagen“ und „vermehrter Ganzklassenunterricht“ wurden als Mittel zur Hebung der Leistungen in Grossbritannien empfohlen. Aber die Probleme waren zu komplex, um sie mit einzelnen Massnahmen beheben zu können.
Es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.
Es brauchte eine detaillierte Analyse beim Vergleich zwischen dem englischen und kontinentalen Mathematikunterricht, die mit dieser Studie unternommen wurde. Untersucht wurden Lehrmethoden und Klassenraumorganisation, Inhalt und Struktur der Lektionen, die Mathematik im Lehrplan, usw. So wurde das Ganzklassensetting zum Gegenstand der wissenschaftlicher Untersuchung: Die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrpersonen und Schülern, die Interaktionen der Schüler bei der gemeinsamen Erarbeitung des Lernstoffs und die Grundlagen dieser Lehrmethoden. Das führte bereits zu wesentlichen, aber noch nicht ausreichenden Verbesserungen. Deshalb wurden auch die Lehrmittel Gegenstand der Forschung und es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.
Die Schüler mussten während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent.
Die Rolle der Lehrbücher in Grossbritannien und auf dem Kontinent
Die britischen Lehrbücher brauchten, im Gegensatz zum Kontinent, keine offizielle Genehmigung. Auf dem Kontinent stützte man sich mehr auf die offiziellen Lehrbücher, die sich auf eine bestimmte Altersgruppe ausrichteten und gerade in der Schweiz unter Mitarbeit von erfahrenen Lehrpersonen ausgearbeitet und begutachtet wurden. Britische Lehrer und Pädagogen gingen jedoch davon aus, dass Lehrmittel lediglich die Grundlage lieferten, die jeweils auf die speziellen Bedürfnissen jeder einzelnen Klasse und sogar jedes einzelnen Schülers ausgerichtet werden sollten. Von jeder Schule in England wurde erwartet, dass sie ihr eigenes Arbeitsprogramm erstellte, in dem die Einzelheiten der Umsetzung des nationalen Lehrplans festgelegt wurden. Kommerzielle Schulbücher wurden als Ideenlieferant für das Arbeitsprogramm verwendet. Von den einzelnen Klassenlehrern wurde erwartet, dass sie ihr eigenes Lehrmaterial aufgrund des Arbeitsprogrammes zusammenstellten. Die Arbeitsprogramme zwischen einzelnen Schulen variierten deshalb viel stärker als auf dem Kontinent und es existierten sehr viele unterschiedliche Lernprogramme. Als wichtiger Faktor erwies sich auch das Zusammenwirken der
Lehrmethoden mit diesen Lehrprogrammen. In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet. Die englischen Lehrer verwendeten die meiste Zeit individuell mit einzelnen Schülern und hatten nur ein paar Minuten Kontakt mit jedem Schülern. Die Schüler mussten deshalb während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent. Gerade deshalb wären klar strukturierte und kleinschrittig und logisch aufgebaute Lehrmittel mit verständlichen Anleitungen sehr wichtig gewesen. Solche fehlten aber, was sich ebenfalls als Grund für das tiefe Niveau im Mathematikunterricht herausstellte.
Im Unterschied dazu waren damals in Deutschland und der Schweiz Do-it-yourself-Lehrmaterial nicht als Hauptbestandteil des Unterrichts erlaubt, sondern man verwendete von der Bildungsbehörden anerkannte Lehrbücher. In beiden Ländern war ein Lehrbuch pro jedes Schuljahr üblich, von dem jeder Schüler ein Exemplar zur persönlichen Verfügung besass. Lehrbücher setzten die Inhalte des Lehrplans unterrichtsbezogen um. In dem Sinne war der Lehrplan für die Lehrer auf dem Kontinent verbindlicher als für die britischen.
Wenn nötig, machten sie limitierte Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse der Klasse, in dem sie gewisse Übungen ausliessen oder zusätzliches Material verwendeten. Die Lehrer auf dem Kontinent waren so nicht gezwungen, das „Rad neu zu erfinden“, um beinahe von Grund auf erarbeiten zu müssen, was sie unterrichten sollten. Sie konzentrierten ihre Kräfte darauf, wie sie den Unterricht am besten mit Hilfe der Lehrbücher und dem Lehrerhandbuch gestalten konnten. Im Lehrerhandbuch gab es Unterrichtsvorschläge für fast jede Seite des Schülerlehrbuchs, detaillierte Lernziele und einen Jahresplan mit den Schülerbuchseiten, die in jeder Woche abgearbeitet werden sollten.
«Die Mathematik ist eine wunderbare Lehrerin für die Kunst, die Gedanken zu ordnen, Unsinn zu beseitigen und Klarheit zu schaffen.» Jean-Henri Fabre (1823–1915)
Die englischen Lehrer hingegen mussten Empfehlungen des nationalen Lehrplans für „stimulierende“ Aktivitäten und „Untersuchungen“ und die Präsentierung von Mathematik als „Fun-Fach“ nachkommen. Im Gegensatz zum Kontinent ging es nicht in erster Linie darum, mit den Übungen und Aktivitäten im Lehrbuch ein tiefes Verständnis der mathematischen Grundlagen und deren Beherrschung zu ermöglichen.
Im Rahmen dieser Studie besuchte Lehrpersonen aus der Schweiz englische Primarschulen. Für sie waren die Defizite der Mathematiklehrbücher einer der wichtigsten Faktoren für die schlechten Leistungen der englischen Schüler. Verstärkt wurde dieses Problem durch die didaktische Form des Unterrichts, die wiederum stark durch die Lehrmittel beeinflusst waren.
Bildungsforschung
In Deutschland gab es eine lange Tradition detaillierter wissenschaftlicher Forschung über die besten Möglichkeiten, den Unterricht spezifischer mathematischer Grundkonzepte anzugehen und zu strukturieren, wie die Addition und Subtraktion von Zahlen bis 20, die Einführung der Multiplikation usw. Das Forschungsziel war, sicherstellen, dass nicht nur die besten 10-20 Prozent, sondern auch die übrigen 80 Prozent einer Klasse das Lehrplanziel ihres Schuljahres im Wesentlichen beherrschen. Das war genau das Problem in Grossbritannien, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Die Forschung hatte einen starken Einfluss auf die kontinentalen Lehrbücher, wobei die Forscher manchmal auch deren Autoren waren.
In angloamerikanischen Schriften wurden generelle Prinzipien abgehandelt, wie ein „gut-strukturiertes Fundament für mathematischen Grundlagen legen“, die „Abhängigkeit der Schüler vom Lehrer verringern“ usw. Vor- und Nachteile verschiedener Ansätze wurden selten diskutiert.
In der hier thematisierten Studie wurden die in englischen, deutschen und Schweizer Primarschulen gebräuchlichen Lehrbücher für Schüler im Alter von ungefähr acht Jahren miteinander verglichen. Der Fokus lag beim Übergang von der Arbeit mit Zahlen bis 20, die von den englischen Erstklässlern mit Fingern oder dem Rechner ausgeführt werden, zur Arbeit mit zweistelligen Zahlen bis 100. Hier wurden die Unterschiede zwischen dem britischen und kontinentalen Unterrichtsansatz besser sichtbar und sie konnten bis zur eigentlichen Einführung der Zahlen bei den Schülern zurückverfolgt werden.
- Allgemeine inhaltliche Merkmale englischer und kontinentaler Mathematiklehrbücher
Grösse der Lehrbücher und Anzahl Übungen
Auf dem Kontinent erhielt ein Schüler ein Schulbuch pro Fach und Jahr, das den Lernstoff enthielt, der in diesem Jahr gelernt werden musste. Der englische Schüler erhielt zwischen zwei und vier dünne Schul- oder Arbeitsbücher pro Jahr. Die durchschnittliche Seitenzahl der englischen Bücher war ein Drittel grösser (rund 150 gegenüber 110 Seiten). Die Schulbücher auf dem Kontinent waren dichter gedruckt und enthielten rund drei Mal mehr Übungen und Aktivitäten (rund 4500) als die englischen (rund 1500). Der Lehrer auf dem Kontinent hatte eine grössere Auswahl an Übungen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die er an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Schüler anpassen konnte. In England wurde weniger darauf geachtet, dass so viel geübt wurde, bis der Stoff beherrscht wurde. Auf dem Kontinent wurde etwa 3 bis 5 Mal mehr Zeit für Übungen und Festigung des bereits eingeführten Mathematik-Stoffes verwendet als für die Einführung von neuem.
Betonung der Arithmetik
Während die mathematischen Themen in den Schulbüchern in allen drei Ländern ungefähr die gleichen waren, wich die Schwerpunktsetzung in England ab. Für deutsche und Schweizer Mathematikbücher war die Beherrschung der arithmetischen Grundlagen von höchster Wichtigkeit. Sie forderten von achtjährigen Schülern (bei siebenjährigen bis 20) ein gründliches Erfassen ganzer Zahlen bis 100 (Erarbeitung des Zahlenraums) inklusive ihrer Beziehungen zu einander und den arithmetischen Operationen mit ihnen.
In England waren die fünf Lehrplanziele (Verwendung und Anwendung von Mathematik, Zahl, Algebra, Form und Raum, Umgang mit Daten) vom Lehrer gleich zu gewichten, so dass nur ein Fünftel der Zeit für Zahlenarbeit reserviert war. In den englischen Lehrbüchern und Praxis wurde dafür etwa 50 Prozent der Zeit aufgewendet, während es in den deutschen und Schweizer Lehrbüchern über 80 Prozent waren. Diese Differenzen zeigten, was bei der Gewichtung im englischen Mathematiklehrplan geändert werden müsste.
Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch. René Descartes (1596–1656)
Häufigkeit des Themenwechsels
Ein grösserer Unterschied zwischen den englischen und kontinentalen Lehrbüchern lag in der Reihenfolge der Themen. In englischen Schulbüchern gab es relativ schnelle Wechsel zwischen den Themen, während die kontinentalen grössere zusammenhängende Blöcke zu einem Thema hatten, die in zunehmender Tiefe und Komplexität behandelt wurden, bevor man zum nächsten Thema schritt. In englischen Schulbüchern wechselten die Themen 25 bis 30 Mal pro Jahr, in kontinentalen rund 10 Mal. Ein Thema wurde in den kontinentalen Schulbüchern durchschnittlich auf 12 fortlaufende Seiten behandelt (für Zahlen 16, für Längen und Zeit 5). In englischen Schulbüchern gab es durchschnittlich nur 6 fortlaufende Seiten pro Thema. Schüler auf dem Kontinent hatten damit 6 Mal mehr Übungen zur Verfügung als englische.
Von den einfachen zu den schwierigen Aufgaben
Die stark segmentierte Struktur englischer Schulbücher war mit viel Repetition verbunden, der Fokus lag weniger auf den weiterführenden Schritten oder auf einer gründlichen Festigung des Stoffes. Bereits abgehandelte einfache Grundlagen erschienen immer wieder, während schwierigere Aufgaben, welche ein Verständnis der Grundlagen voraussetzten, oft eingeführt wurden, bevor die Grundlagen beherrscht wurden. In deutschen und Schweizer Schulbüchern wurde ein eingeführtes Thema gründlich gefestigt und es war selbstverständlich, dass danach nur noch limitierte Repetitionen nötig waren. Schwierigere Aufgaben wurden erst eingeführt, wenn man davon ausgehen konnte, dass die grosse Mehrheit der Schüler die einfacheren beherrschten. Die limitierten Repetitionen auf dem Kontinent glichen in keiner Weise den Mehrfachwiederholungen und den unsystematischen Sprüngen zwischen den Themen in den englischen Schulbüchern, bei denen es keinen systematischen Verlauf von den einfachen zu den schwierigeren Aufgaben gab.
- Einführung in einen Zahlenbereich
Bei einer der entscheidenden Etappe zur Schaffung der Grundlagen des mathematischen Verständnisses und Kompetenz differierten die kontinentalen und britischen Unterrichtspraktiken in verschiedenen wichtigen Punkten: Das waren der von den kontinentalen Pädagogen entwickelte detailliertere Schritt-für-Schritt Ansatz für das Lernen und Üben, die Verwendung von Standards und abgekürzten Rechnungsmethoden, die Rolle des Übens und der Festigung, die Verwendung von konkretem Material und die Effizienz alternativer Methoden des Auswendiglernens (Kopfrechnen).
In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.
In England wurde der Zahlenraum zwischen 20 und 100 im Alter von sieben Jahren eingeführt, ein Jahr früher als auf dem Kontinent, wo die Schüler auch ein Jahr später mit der Schule begannen. In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.
Konkretisierung (Verständnis, Vorstellung, Begriff) von Zahlen und Stellenwert
Die ungenügende Vorstellung von Zahlen bei britischen Schülern konnte darauf zurückgeführt werden, wie sie mit den Zahlen von 20 bis 100 nach der Einführung vertraut (Festigungsphase) gemacht wurden. Dabei spielte in England das Stellenwert-Konzept (place-value) eine wichtige Rolle. Zum Beispiel wurde die Zahl 52, aus 5 Zehnern und 2 Einern zusammengesetzt. Auf dem Kontinent wurde 52 als die Zahl 50 plus 2 geübt. Die englischen Schüler zählten die Einer, um die Zehner zu finden während auf dem Kontinent in Zehnern gezählt wurde. Für den englischen Schüler war die Zahl 52 aus 5 und 2 zusammengesetzt, sie rechneten im Kopf nicht mit Mehrfachen von 10, was häufig zu Fehlern und Langsamkeit führte. Auf dem Kontinent verstanden die Schüler 52 als 2 mehr als 50.
Reihenfolge der Zahlen
Im Gegensatz zu England war für die Schulbuchautoren auf dem Kontinent die Ordnung der Zahlen wichtig für die Entwicklung des Verständnisses und der Vorstellung von Zahlen. Englische Schulbücher enthielten keine Übersichtsillustrationen und auch keine visuellen Hilfen (100er Quadrat, Zahlenband) über den neuen Zahlenbereich (1-100). Die Schüler auf dem Kontinent wurden nicht in die grösseren Zahlen eingeführt, bis sie die kleineren Zahlen sicher beherrschten. In englischen Schulbüchern fehlte eine komplette Übersicht über den neuen Zahlenbereich und es hatte kaum Aufgaben zur Einführung und Orientierung.
Quellen:
Helvia Bierhoff: Laying the Foundations of Numeracy: a comparison of primary school textbooks in Britain, Germany and Switzerland. Discussion Paper no. 90, National Institute of Economic and Social Research, London January 1996.
Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.