7. November 2024

«Der Mensch kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes» – der berühmte Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo ist gestorben

Martin Beglinger, Journalist der NZZ, aber auch Co-Autor in “Schülerjahre” und Freund des Kindearztes Remo Largo schrieb diesen Nachruf, der heute in der NZZ erschien. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Martin Beglinger, Journalist, Co-Autor und Freund von Remo Largo.

Es klang nicht gut vor drei Wochen am Telefon. Wir sprachen über die vergangenen Monate, über das Sterben und wie er sich seinen Abschied vorstelle. Dabei sagte er: «Ich hätte ja nie im Leben gedacht, dass ich je so alt werde.»

Tatsächlich war seine Gesundheit auch schon früher fragil. Remo Largo ahnte, dass der Tod näher kam, doch er machte nicht den Eindruck, als hätte er Angst davor gehabt. Mir scheint, er sah ihm recht gelassen entgegen und doch mit sehr klaren Vorstellungen, vielleicht auch mit dem guten Gefühl, dass er alles gesagt und geschrieben hatte, was ihm wirklich wichtig war.

Wer, der selber Kinder hat, hat kein Buch von ihm im Gestell? Mit den «Babyjahren» wurde Remo Largo, selber Vater dreier Töchter, weit über die Schweiz hinaus berühmt. Sein früher Klassiker aus dem Jahr 1993 liegt fast schon automatisch als Geschenk neben jedem Wickeltisch. Bis nach China hat man ihn gelesen oder zumindest darin gestöbert, wenn das eigene Kind partout noch nicht reden oder laufen wollte.

Beruhigende Nachricht für Eltern

Der Grund für den einzigartigen Erfolg der «Babyjahre» ist offensichtlich: Die Botschaft ist beruhigend für die Eltern. Mein Kind ist auch dann normal, wenn es später läuft. Oder länger schreit. Oder sonst wie etwas anders ist als das Nachbarskind. Denn die Spannweite der kindlichen Entwicklung ist enorm.

Largo musste es wissen. Ursprünglich wollte er Lehrer werden, später Kinderchirurg, doch das musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Arzt wurde er trotzdem. Der in Winterthur aufgewachsene Largo spezialisierte sich auf Entwicklungspädiatrie und leitete ab 1978 die Abteilung Wachstum und Entwicklung an der Universitäts-Kinderklinik in Zürich. In den Longitudinalstudien, die er dort verantwortete, erforschte er mit seinem Team über Jahrzehnte hinweg nicht weniger als 800 Lebensläufe von Kindern bis ins Erwachsenenalter. Die Erkenntnisse daraus wurden zu einem unendlichen Fundus, aus dem er fortan schöpfen konnte.

Remo Largo war ein Forscher, ein Empiriker, getrieben von unermüdlicher Neugier auf das menschliche Leben. Er wollte herleiten, gründlich sein, belegen, nicht bloss behaupten.

Remo Largo war ein Forscher, ein Empiriker, getrieben von unermüdlicher Neugier auf das menschliche Leben. Er wollte herleiten, gründlich sein, belegen, nicht bloss behaupten. Nichts ärgerte ihn mehr als billige Ratgeber ohne fundierte Kenntnis. Obwohl er in den letzten 25 Jahren geduldig Hunderte von Interviews gab, war er im Grunde allergisch auf die mediale Schnelllebigkeit. Umso wichtiger waren ihm die Bücher. Es folgten hintereinander: «Kinderjahre», «Schülerjahre», «Jugendjahre», «Glückliche Scheidungskinder».

Besonders am Herzen lag ihm dabei die Schule.

Erziehung geht nicht ohne Beziehung

Nach seiner Pensionierung beschäftigte sich Remo Largo zunehmend mit der Umwelt des Kindes, namentlich mit der Schule. Denn jahrzehntelang hatten sich die Schuldiskussionen um alles Mögliche gedreht, aber selten wirklich um die Hauptsache, nämlich um das Kind. Largo hingegen verstand etwas von Kindern, und er verstand sich auch als ihr Anwalt, kategorisch. Nicht alle Pädagogen schätzten, dass sich ein Professor für Kinderheilkunde so dezidiert in ihre Belange einmischte. Doch inzwischen gelten viele seiner frühen Einsichten als selbstverständlich; dass Erziehung nicht ohne Beziehung geht; dass Lernen nur funktionieren kann, wenn sich Schüler akzeptiert und geborgen fühlen; dass «Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht», wie ein Lieblings-Bonmot des Entwicklungsspezialisten Largo lautet. Er war es auch, der immer wieder auf die riesigen Unterschiede innerhalb einer einzigen Klasse und auf die Bedeutung eines individualisierten Unterrichts hinwies.

Es gibt kaum einen grösseren Saal im Land, den er in den vergangenen zwanzig Jahren nicht gefüllt hat. Largo engagierte sich bis zur Erschöpfung, auch bei den zahllosen Anrufen von verzweifelten Eltern, die ihn telefonisch um Hilfe baten, obwohl er sich nie als Ratgeber verstand.

Der Run auf die Gymnasien war ihm ein Greuel, er hatte genügend abschreckende Beispiele erlebt.

Im persönlichen Umgang sehr bescheiden und zugänglich, konnte er in der Sache sehr dezidiert auftreten, zum Beispiel gegen Schulen oder Behörden, die fanden, er stelle zu hohe Ansprüche; und nicht zuletzt gegen Eltern, die aus übertriebenem Ehrgeiz oder Angst vor dem Abstieg ihre eigenen Kinder einem Frühförderwahn aussetzten. Wenn er schon einen Rat geben musste, dann den, die Kinder doch lieber zusammen in den Wald oder auf den Spielplatz zu schicken als alleine ins Frühchinesisch. Der Run auf die Gymnasien war ihm ein Greuel, er hatte genügend abschreckende Beispiele erlebt.

Das Recht des Kindes – und letztlich aller Menschen – auf das eigene Leben

Doch was waren denn seine Ansprüche? Im Grunde war es nur einer, und der ist tatsächlich hoch: das Recht des Kindes – und letztlich aller Menschen – auf das eigene Leben. «Der Mensch kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes.» Der Satz steht in jenem Buch, das für Largo wohl das wichtigste war in seinem grossen Werk: «Das passende Leben». Darin breitet er noch einmal minuziös aus, «was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können», so der Untertitel des Buches. Den Schlüssel dazu nennt Largo «das Fit-Prinzip», also den Gedanken, «dass jeder Mensch danach strebt, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben». Es bleibt die Quintessenz eines Forscherlebens, in dem er das ursprüngliche Feld der Entwicklungspädiatrie schon lange verlassen und mit neuen Erkenntnissen von der Evolutionsbiologie bis zur Philosophie angereichert hatte.

Das “Knabenproblem”

Einer der ersten, der auf das Knabenproblem aufmerksam machte.
Bild adobestock

Mit Kindern schien er die Geduld nie zu verlieren, mit den Erwachsenen hingegen schon eher, und mit Politikern wurde sie definitiv strapaziert. Schon vor Jahren forderte er vehement eine Frauenpartei. Zugleich aber war Largo einer der Ersten, die auf die zunehmenden Schwierigkeiten der Buben in der Schule hinwiesen – nicht zur Freude aller Lehrerinnen. Für sein letztes Buch, «Zusammen leben», erschienen in diesem Frühling, musste er sich noch einmal alle Kräfte abringen, die ihm geblieben waren. Man spürt darin, wie er immer wieder hadert, nicht mit seinem eigenen Leben, obschon er auch das nie leicht genommen hat. Er hadert mit dem Grossen und Ganzen, er sieht zu wenig Veränderung, zu viel egoistisches Beharren auf alten Privilegien. Sein Aufruf zur weltweiten Solidarität liest sich wie ein letzter verzweifelter Appell. Ein Glück, dass es noch Kinder und Enkel gibt.

Am Mittwoch ist Remo Largo zu Hause in Üetliburg kurz vor seinem 77. Geburtstag gestorben.

https://www.nzz.ch/schweiz/der-beruehmte-schweizer-kinderarzt-und-autor-remo-largo-ist-tot-ld.1586803

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die Starke Schule – geboren aus der Notwendigkeit

KritikerInnen der Starken Schule beider Basel setzen die Eltern- und Lehrkräfteorganisation zuweilen gleich mit Jürg Wiedemann. Diesen Namen wiederum glauben sie als Synonym für Sturheit, Polarisierung und Kompromisslosigkeit zu erkennen. Condorcet-Autor Felix Hoffmann widerspricht dem energisch.

Mehr Mathe und Deutsch an Bayerns Grundschulen

Als Reaktion auf die jüngsten Ergebnisse der PISA-Studie baut Bayerns Kultusministerin Anna Stolz den Stundenplan in der Grundschule um: Künftig soll es in Bayern pro Woche mehr Unterricht in Deutsch geben und teils auch in Mathe. Wir bringen einen Bericht des bayrischen Rundfunks.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert