28. März 2024

Liebe Frau Wannenmacher

Die Kulturplatzsendung vom März 2019 war gespickt mit Fake News und Unterlassungen. Condorcet-Autor Alain Pichard schrieb der Redaktion damals einen Brief. Die Folge war eine höfliche Einladung und ein anregendes Gespräch.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Die Bildungsbürokratie ist gekränkt.
Eva Wannemacher: Hat die Sendung nur moderiert und nicht inhaltlich bestimmt.

Liebe Frau Wannenmacher,

Mein Name ist Alain Pichard, Lehrer in Orpund (BE) und auch schon Gast in diversen Sendungen von srf.

Ich habe mir die Ausgabe “Kulturplatz” des Schweizer Fernsehens vom 13.3.2019  (Schule im Aufbruch in das digitale Zeitalter) zweimal angesehen und möchte Sie mit allem Respekt auf einige «Unterlassungen» und faktenwidrige Informationen hinweisen.

  1. Die Schule Niederhasli hat auch eine andere Geschichte

Sie gehen von der Sekundarschule Niederhasli im Kt. Zürich aus und porträtieren diese als vorbildlich und pionierhaft im Umgang mit den neuen Medien. Originalzitat: «Schon vor sieben Jahren wurde hier begonnen, die Digitalisierung als pädagogische Chance zu sehen, um ein innovatives Schulmodell zu entwickeln, das auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung der Schüler*innen setzt. Mit Erfolg. Die preisgekrönte Sekundarschule gilt als Vorzeigeprojekt im Kanton Zürich.»

Demonstration in Niederhasli. Die Kulturplatz-Redaktion geht mit keinem Wort auf die Elternproteste ein.

Und für sich selber nehmen Sie in Anspruch: «Der «Kulturplatz» fragt: Zurecht?» Wenn Sie die Antwort wirklich interessiert hätte, hätten sie gar nicht heftig recherchieren müssen: Die andere Seite dieser Schule wurde pikanterweise von einem weiteren Sendegefäss Ihres Hauses aufgegriffen. «Schweiz aktuell» berichtete über entrüstete Eltern, welche gegen den individualisierten, computerbasierten Unterricht protestierten. Und dieser Widerstand entstand keineswegs aufgrund diffuser Ängste, sondern hatte seinen Ursprung in den Erfahrungen der Eltern und SchülerInnen mit dieser Art Unterricht.  

Mit keinem Wort auf die Elternproteste einzugehen, war schon ein starkes Stück.

Ich schicke Ihnen in den kommenden Tagen unseren «Einspruch 2» zu, der diese Seite des Schulexperiments aus Sicht der Eltern, SchülerInnen und vieler Lehrkräfte, welche gekündigt hatten, auf 5 Seiten darstellt. Nicht dass ich erwarte, dass Sie diese Sicht der Dinge übernehmen. Aber mit keinem Wort auf diese Vorgänge einzugehen, die im Übrigen mit der Kündigung des Schulleiters einen Höhepunkt erreichten, empfinde ich als Gebührenzahler schon als «starkes Stück».

  1. Silicon Valley

Ihre Reporter hätten gar nicht ins Silicon Valley fahren müssen. In Birmensdorf existiert bereits eine vollkommen auf Computerprogrammen abgestützte Privatschule. Kostenpunkt: 30’000 Fr. pro Jahr pro Lernendem. Wenn Sie aber nach Silicon Valley fahren, hätten Sie auch auf die vielen Spezialisten der Computerbranche hinweisen können, die ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken und ihnen bis 12 Jahren jegliche Art Umgang mit Smartphone, Tablet und Laptop verbieten. Ich empfehle Ihnen hierzu auch die Lektüre von Informatikprofessor Gerhard Lembke «Die digitale Lüge», der zu einem gänzlich anderen Befund kommt als Ihr euphorischer Beitrag.

https://www.youtube.com/watch?v=b5zH0-XXLco&t=36s

As Beispiel für das progressive Silicon Valley porträtierten Sie die ALT School  («dort, wo die Zukunft gemacht wird»). Auch dort ist der Ballon geplatzt – hier ein Ausschnitt aus einem Guardian-Bericht über digitale Schulen.

The supposed AI education revolution is not here yet, and it is likely that the majority of projects will collapse under the weight of their own hype. IBM’s adaptive tutor Knewton was pulled from US schools under pressure from parents concerned about their kids’ privacy, while Silicon Valley’s Alt School, launched to much fanfare in 2015 by a former Google executive, has burned through $174m of funding without landing on a workable business model.

https://www.theguardian.com/technology/2020/mar/19/can-computers-ever-replace-the-classroom

  1. PISA, Singapur und Finnland

Sie fallen in Ihrem Bericht in eine der bekanntesten PISA-Fallen hinein. PISA betreibt keine Ursachenforschung. Ihr Reporter tut dies dennoch und gänzlich faktenfrei und reduziert die Erfolge dieser Länder auf Ihren Umgang mit den Tablets.

PISA betreibt keine Ursachenforschung.

Finnland hat markant an Punkten verloren

Im Fall von Singapur handelt es sich um eine glatte Falschinformation. Die asiatischen Spitzenreiter Singapur, Hongkong, Südkorea, Japan und Vietnam erreichen ihre phänomenalen Zahlen vor allem mit einem extrem leistungsbezogenen Mathematikunterricht und einem klar lehrerzentrierten, von der Lehrkraft gestalteten Unterricht, der – wie der neuseeländische Bildungsforscher Hattie in seiner Metastudie feststellte – immer noch die beste Wirkung erreicht. Natürlich kommen in diesen Staaten die neuen Medien zum Einsatz, aber als Erweiterung der Lehrmittel und nicht als programmatische Lernsteuerung. Ich empfehle Ihnen hier die Lektüren von Prof. Dr. Roland Reichenbach, der in Südkorea war, und die Erkenntnisse des Soziologen Gunnar Heinsohn.

Was Finnland betrifft, scheinen Sie die Ergebnisse der PISA-Studien aus dem Jahr 2015 nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Finnland  hat in dieser letzten Testserie einen markanten Rückschlag erlitten und ist heute auf dem gleichen Stand wie Deutschland (und hinter der Schweiz). Ausserdem hat Finnland trotz Notenfreiheit, wenig Selektionsdruck und einer 90%-igen Maturquote die unmotiviertesten SchülerInnen (geht aus den PISA-Befragungen hervor) und eine Jugendarbeitslosigkeit von 22%.

  1. Frankreich

Sie berichten über das Collège de la Libérté in Drancy bei Paris. Auch hier empfehle ich Ihnen, sich einmal auf Google (ja, auch ich recherchiere auf Google) über dieses Institut zu informieren. Vor kurzem gab es dort einen Schülerstreik für einen Lehrer, der von der Schulleitung wegen seiner Gesinnung drangsaliert wurde (was leider auch in der Schweiz immer häufiger vorkommt).

http://www.mci-uitqi.org/?p=3113

Viel interessanter ist aber die gegenwärtige Bildungsdebatte in diesem stark verunsicherten Land.

https://think-beyondtheobvious.com/stelters-lektuere/frankreichs-unrettbarkeit/

Nach den schlechten TIMMS-Resultaten beauftragte Herr Macron die renomierten Mathematiker Viliani und Tossiani mit einer Untersuchung. Die beiden Mathematiker präsentierten 21 Punkte für eine Verbesserung des Mathematikunterrichts. Darunter – man höre und staune –  das bekannte «back to the roots», das Zurückfahren des «entdeckenden Lernens» und der «Individualisierung» – kurzum mehr Hattie und weniger «schülerzentrierte Einheiten!

  1. Der Support
Verkabelung: ein komplexes Problem

In all diesen Phantasmen werden sehr oft ganz praktische Dinge ausser Acht gelassen: Auch in Ihrer Sendung: Da wäre einmal der Support, denn die Verdrahtung und Digitalisierung einer mittleren Schule ist wesentlich komplexer als die eines mittelständischen Unternehmens. Die enorme Entwicklung erfordert einen immer schnelleren Ersatz von Geräten und damit immer kürzere Laufzeiten der angeschafften Laptops oder Tablets.

  1. Grundsätzliche pädagogische und philosophische Überlegeungen

Natürlich ist es nicht möglich, all diese Zusammenhänge in Ihrem Format «Kulturplatz» darzulegen. Die Frage stellt sich: «Warum tun Sie das trotzdem?» Denn wenn man es versucht, riskiert man Einseitigkeit, Unvollständigkeit, Mythenbildung und groteske Verzerrungen. Das ist Ihnen passiert.

Über die grundsätzlichen Herausforderungen der digitalisierten Schule gäbe es noch einige Stichworte, die einer Analyse wert wären: Die Schule als Mekka der Überwachungspädagogik! Klassenraum als Office, Unterricht, modelliert an der Projektarbeit eines High-Tech-Unternehmens. Kooperation als Ressourcenaktivierung und Prozessualisierung von Steuerung (Organisation, Feedback, Optimierung, Solutionismus), die Verkaufsabsichten und Marketingstrategien der IT-Lobby, die Digitalisierung der Bildung als technologiegetriebene und nicht als didaktische Diskussion usw.

Die Beurteilung darüber, welchem Menschenbild Sie mit der kritiklosen Propagierung des digitalisierten Unterrichts Vorschub leisten – notabene in einer Kultursendung – überlasse ich Ihnen.

Im Anhang sende ich Ihnen noch einige Belege für meine Aussagen. Ich danke Ihnen für die Kenntnisnahme und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende

Mit freundlichen Grüssen

Alain Pichard

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3 Kommentare

  1. Bin gespannt, ob das Fernsehen SRF darauf reagiert. Noch schöner wäre es aber, wenn die Lehrkräfte ihren Computereinsatz in der Schule selbst kritisch hinterfragten. Die Einstiegsfrage könnte lauten: Was will ich erreichen, und wie erreiche ich dies am besten?

    1. Ich bin zuversichtlich. Die Verantwortlichen der Sendung “Kulturplatz” wollten bereits diese Woche einen Beitrag zur Digitalisierung in den Schulen bringen, in welchem auch unsere Positionen nachgefragt wurden. Zumindest gab es eine konkrete Planung, die dann aber auf nach den Sommerferien verschoben wurde. Grund waren die aktuellen Ereignisse in den USA und die für uns etwas knappen Fristen. Vielen Medienschaffenden ist nicht bewusst, dass Lehrkräfte, die sich kritisch zu Massnahmen und Direktiven der Erziehungsdepartemente äussern, erst um eine Erlaubnis fragen müssen, bevor sie sich öffentlich äussern.

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