27. Dezember 2024

Die zweite Welle: Das Digital-Mentalvirus breitet sich aus

IT- und Lehrerverbände in Deutschland gaben im Sog der Coronakrise gemeinsame Handlungsempfehlungen heraus! Der Condorcet-Blog veröffentlicht an dieser Stelle die Antwort der Gesellschaft Bildung und Wissen.

Die Covid-19-Pandemie und Schulschließungen führen seit März 2020 notgedrungen zu Fernunterricht und dem verstärkten Einsatz digitaler Techniken. Dass IT-Verbände diese Entwicklung freudig begrüßen und fordern, den Einsatz von IT in Schulen zu verstetigen, war zu erwarten. Erstaunlich ist, dass auch Lehrerverbände für Fernunterricht und digitales Beschulen plädieren. Ist allen Beteiligten klar, was das bedeutet?

Verkürzte Sicht der Bildung

Wissen sie, was sie hier tun?

Im Mai 2020 hat die Gesellschaft für Informatik gemeinsam mit IT- und Wirtschaftsvertretern und Lehrerverbänden die „Offensive Digitale Schultransformation“ (#OdigS) gestartet. Dieser Beitrag zur „digitalen Bildungspolitik“ verkürzt schulische Bildung konsequent auf technische Aspekte (siehe Kasten). Das Ziel ist die digital gesteuerte Schule. Bei der Transformation nach den Parametern der IT-Wirtschaft und Datenökonomie gehe es nicht um eine „Eins-zu-Eins-Übertragung des Analogen ins Digitale“, Lernstrukturen und -prozesse müssten vielmehr neu gedacht und IT-konform weiterentwickelt werden. Das bedeute konkret:

Prof. Jochen Krautz, Wuppertal: Solche Änderungen müssen fachlich begründet und demokratisch diskutiert werden.

IT- und Lehrerverbände fordern den Aufbau einer Infrastruktur für Fernunterricht und Homeschooling über die Covid-19-Zeit hinaus. Deutsche Schulen sind aus gutem Grund Präsenzschulen mit Präsenzunterricht. Fernunterricht ist für Kinder und Jugendliche nicht geeignet und sollte der Erwachsenenbildung und/oder Ausnahmesituationen (Krankheit, Pandemien) vorbehalten bleiben. Derart weit reichende strukturelle und methodischen Änderungen müssen fachwissenschaftlich begründet und demokratisch mit allen Beteiligten diskutiert werden, um fachlich und politisch legitimiert zu sein, bevor solche weitreichenden und teuren technischen Infrastrukturen aufgebaut werden, deren pädagogischer Nutzen nach wie vor nicht belegt ist.

Ziel schulischer Bildung und Erziehung ist aber Erziehung und die Entwicklung zur mündigen und verantwortlichen Persönlichkeit an relevanten Gegenständen von Kultur und Geschichte.

Der Zielkonflikt: Anpassung oder Entwicklung

IT- und Lehrerverbände fordern die Ausrichtung der Lehrinhalte und Lehrmethoden auf die zukünftige Arbeitswelt. Ziel schulischer Bildung und Erziehung ist aber Erziehung und die Entwicklung zur mündigen und verantwortlichen Persönlichkeit an relevanten Gegenständen von Kultur und Geschichte. Dazu gehören fachlich gebundenes Können und Wissen verbunden mit einem vertieften Verstehen dessen, was gelernt wird, um so Kritikfähigkeit und soziale Verantwortung zu bilden. Anpassung an und Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt ist dagegen in keinem Schulgsetz verankert.

Digitaltechnik ist Automatisierungstechnik

Digitaltechnik ist Automatisierungstechnik. Das Ziel ist sowohl der IT-gesteuerte Unterricht wie die datengestützte Schulentwicklung. Dazu müssen einerseits komplexe Lernprozesse in digital aufbereitete und kontrollierbare Häppchen zerstückelt werden, die ein „programmiertes Lernen“ im schlechten Sinne des Behaviorismus ermöglichen. Dazu werden zudem möglichst viele Schüler- und Lehrerdaten erhoben und ausgewertet.

Die Kompetenzorientierung (KO) mit ihren kleinteiligen Kompetenzstufen und -rastern und der inhaltlichen Entleerung ist die Voraussetzung der Zurichtung von Fachinhalten auf abprüfbare Informationseinheiten, die somit ihren bildenden Sinn verlieren.

 

Hier kommen somit mehrere Entwicklungen zusammen:

Digitalisierung ist Automatisierung.

Die Kompetenzorientierung (KO) mit ihren kleinteiligen Kompetenzstufen und -rastern und der inhaltlichen Entleerung ist die Voraussetzung der Zurichtung von Fachinhalten auf abprüfbare Informationseinheiten, die somit ihren bildenden Sinn verlieren.

Lehrerverbände lassen sich täuschen

Damit ist das kompetenzorientierte, feedbackgesteuerte digitale Lernen die Umsetzung der behavioristischen Idee, menschliche Lernprozesse „programmiert“ steuern zu können. Diese bildungs- und freiheitswidrige Fremdsteuerung wird aber offenbar so wirksam von den bunten, vermeintlich „interaktiven“ Programmoberflächen kaschiert, dass sich Lehrerverbände davon täuschen lassen.

Kleinteiliges Vermessen

Die Digitaltechnik ist die technische Infrastruktur und erlaubt das kleinteilige Vermessen aller Lernleistung per Rückkanal und Learning Anaytics. Das ist die Gewöhnung und Zurichtung der Lernenden an IT-Systeme und Strukturen.

Die datengestützte Schulentwicklung ist das zahlenfixierte Modell, die empirische Bildungsforschung die ebenso zahlengläubige Theorie dahinter. Neben die digital organisierte Gesellschaft (Martin-Jung in der SZ) tritt so das digital gesteuerte Beschulen und Testen. Pädagogik wird auf dem Altar der Zahlen und der vermeintlichen Berechenbarkeit von Lernprozessen geopfert.

Das ist keine Pädagogik, sondern die Zurichtung von Menschen am Bildschirm

Verust der Privatsphäre

Völlig unreflektierte Forderungen

Das gesamte Lernen wird protokolliert und gespeichert. Es gibt kein Vergessen und keine Privatsphäre in Klassenräumen und Kinderzimmern mehr, weil alles, was an Rechnern gemacht wird, digital erfasst und ausgewertet wird. Damit ist kein Vertrauen mehr möglich zwischen Lehrenden und Lernenden. Vertrauen beruht darauf, dass Menschen etwas nur miteinander besprechen oder vereinbaren. Vertrauen ist die elementare Grundlage für die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Vertrauen als Basis pädagogischer Arbeit wird mit diesen Handlungsempfehlungen ersetzt durch vollständige Leistungs- und Lernprotokolle. Das ist keine Pädagogik, sondern die Zurichtung von Menschen am Bildschirm, das Benthamsche Panoptikum in digital.

 

Es gibt Alternativen

Wer statt der Optimierung technischer Systeme den Menschen und dessen individuelle Entwicklung als autonome Persönlichkeit im Blick hat, wird für den Einsatz von IT anderes fordern. Statt Daten für Nutzerprofile zu sammeln, werden Daten allenfalls lokal gespeichert (Edge Computing) und nach Gebrauch gelöscht. Persönlichkeits- und Leistungsprofile werden weder erstellt noch vermarktet. Technisch wird das mit offenen Betriebssystemen wie Linux und Open Source-Software im Intranet realisiert, mit lokalen Servern oder eigenen Servern beim Provider. Stichworte sind Datensparsamkeit, Dezentralisierung und Datenhoheit bei den Nutzern. Für die Kommunikation nutzt man verschlüsselte Messenger wie Signal oder Threema, die keine Meta-Daten aufzeichnen, für das Surfen Browser, die keine Verlaufsdaten speichern oder Tor-Browser (The Onion Router), die die eigene Adresse anonymisieren.

Dadurch werden Rechner und Software wieder zu dem, was sie sein sollen: Werkzeuge der beruflichen wie privaten Kommunikation und Unterhaltung, aber auch Medien im Unterricht.

Dadurch werden Rechner und Software wieder zu dem, was sie sein sollen: Werkzeuge der beruflichen wie privaten Kommunikation und Unterhaltung, aber auch Medien im Unterricht. Dort z.B. Technik zur aktiven Medienproduktion, ohne erzwungene Datenprostitution. Technisch ist das alles machbar und in der Praxis bewährt. In dieser Form kann IT auch im Unterricht ab der Sekundarstufe pädagogisch und didaktisch sinnvoll eingesetzt werden. Man muss „nur“ umdenken und an die Stelle der Anforderungen der Datenwirtschaft die Bedürfnisse der lernenden Menschen setzen und die Medien den Menschen und der Sache gemäß einsetzen statt beides an IT-Systeme anzupassen.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Streitgespräch zu integrativer Schule

Der Ruf nach Kleinklassen wird schweizweit immer lauter. Was bedeutet das für die integrative Schule? Eine Kontroverse zwischen dem Bildungsforscher Andrea Lafranchi und dem Lehrer und Präsidenten der Basler Schulsynode, Jean-Michel Héritier. Das Interview führte die Journalistin Alessandra Paone.

Die Lüge der digitalen Bildung

Das ist der provokante Titel eines Buches von 2015, das 2020 bereits in der 4. Auflage erschienen ist und den ebenso streitbaren Untertitel trägt: «Warum unsere Kinder das Lernen verlernen.» Die beiden Autoren Gerald Lembke, Professor für Digitale Medien in Mannheim, und Ingo Leipner, Wirtschaftsjournalist, ernteten mit ihrem Buch heftigen Widerstand, der in Beschimpfungen gipfelte wie «vakuumversiegelte Hohlbirne». Und das, obwohl ihre Thesen durch einen Beitrag der Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt, Universität Bielefeld, untermauert werden. Der Condorcet-Blog hat bereits 2019 einen Yotube-Beitrag von Professor Lembke aufgeschaltet (https://condorcet.ch/2019/05/dr-gerald-lembke-digitales-lernen-risiken-und-chancen/). Condorcet-Autor Felix Schmutz hat nun das Buch gelesen und stellt es in diesem Beitrag vor.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert