Felix Schmutz ist kein Freund des selbstorganisierten Lernens. Ja, er scheint es regelrecht zu hassen. Anders kann ich seine Kritik («Pädagogik und Bodenhaftung») an meinem jüngsten Blog-Beitrag («Eine Chance für das selbstorganisierte Lernen») nicht verstehen. Mit seinem verbalen Rundumschlag schiesst er jedoch dermassen übers Ziel hinaus, dass er seinem Anliegen einen Bärendienst erweist.
Ich sehe davon ab, dass mir Schmutz Dinge unterschiebt, die weder von mir vertreten werden noch aus meinem Beitrag herausgelesen werden können.
Ich sehe davon ab, dass mir Schmutz Dinge unterschiebt, die weder von mir vertreten werden noch aus meinem Beitrag herausgelesen werden können. Ebenso sehe ich davon ab, dass Schmutz mehrfach Gedanken entwickelt, die ihn zu Schlüssen führen, die sich in meinem Text in fast gleicher Form finden, ohne dass er darauf verweisen würde. Ich sehe schliesslich auch davon ab, dass Schmutz dreimal aus meinem Text zitiert (jeweils kursiv gesetzt), aber nur an der dritten Stelle klar macht, dass das Zitat von mir stammt, während er an den beiden anderen Stellen den Eindruck erweckt, es handle sich um Zitate aus dem Lehrplan 21. Die panische Reaktion auf meinen Text scheint nicht nur seine Lese-, sondern auch seine Schreibkompetenz beeinträchtigt zu haben.
Wovon ich nicht absehen kann, ist hingegen, dass Schmutz auf die Kernthese meines Beitrags, wonach zwischen selbstorganisiertem Lernen als Lernziel und selbstorganisiertem Lernen als Unterrichtsmethode unterschieden werden sollte, praktisch nicht eingeht. Stattdessen hält er den üblichen Reduktionismus aufrecht und attackiert das selbstorganisierte Lernen als Methode. Dies mit Argumenten, die ich teilweise als fragwürdig, teilweise schlicht als falsch beurteile.
Vier Klarstellungen
Wenn ich alles zurechtrücken wollte, was Schmutz durcheinander gebracht hat, müsste ich noch mehr Raum in Anspruch nehmen, als ich es im Folgenden sowieso schon tun werde. Ich beschränke mich daher auf vier Punkte, die mir persönlich wichtig erscheinen, die aber auch aus sachlichen Gründen einer Entgegnung bedürfen. Es geht erstens um die falsche Gleichsetzung des selbstorganisierten Lernens mit dem «Lernen des Lernens», zweitens um die abwegige Herleitung des selbstorganisierten Lernens aus dem kybernetischen Modell des Regelkreises, drittens um die falsche Behauptung, das selbstorganisierte Lernen sei empirisch widerlegt worden, und viertens um die verquere Demontage der Metapher des Bulimie-Lernens.
1. Es geht nicht um das «Lernen des Lernens»
Schmutz unterstellt mir, ich sei der Auffassung, Selbstdisziplin und Motivation liessen sich explizit lehren. Richtig sei dagegen, dass Einstellungen und Bereitschaften implizit gelernt würden. Gleiches gelte für das Lernen. Das Lernen als solches könne nicht gelernt werden, was allein schon zeige, wie absurd es sei, das selbstregulierte Lernen zu einem Lernziel zu machen.
Wir müssen zwischen materialen (inhaltlichen) und formalen Lernzielen unterscheiden
So plausibel das Argument scheint, so kurzatmig ist es. Schmutz missachtet die gängige Unterscheidung zwischen formalen und materialen Lernzielen. Materiale (inhaltliche) Lernziele, die sich vor allem in Lehrplänen finden, geben vor, welcher Stoff in welchem Fach zu unterrichten ist. Formale Lernziele, die sich eher in übergeordneten Texten wie Schulgesetzen oder Präambeln von Lehrplänen finden, umschreiben, was schulische Bildung darüber hinaus leisten soll, wie insbesondere die Förderung und Stärkung von intellektuellen Kompetenzen (Denkfähigkeit, Problemlösen, geistige Offenheit, gesunder Menschenverstand etc.) oder von Persönlichkeitsmerkmalen (Willenskraft, Charakterstärke, Gewissenhaftigkeit, Zivilcourage etc.). Natürlich lässt sich keines dieser Ziele direkt unterrichten, was ihre Bedeutung für den Bildungsauftrag von Schule und Unterricht aber in keiner Weise schmälert.
Selber saufen und selber lernen
Insofern ist fraglich, ob es überhaupt angebracht ist, gegen das «Lernen des Lernens» zu polemisieren, denn die Fähigkeit, über sein Lernen autonom zu verfügen, gehört durchaus auch zu den formalen Zielen schulischer Bildung. Wörtlich genommen, macht der Slogan allerdings tatsächlich keinen Sinn. Denn lernen können die Schülerinnen und Schüler immer schon. Das Lernen ist ein biologisch bestimmter Vorgang, der mit unserer Existenz gegeben ist und nicht erst erworben werden muss. Es verhält sich hier wie mit dem Pferd und der Tränke. Nachdem es zur Tränke geführt wurde, muss das Pferd selber saufen; auf dem Weg zur Tränke kann es jedoch begleitet werden. Auch lernen muss jeder Schüler und jede Schülerin für sich allein. Aber auf dem Lernweg, bevor das Lernen vollzogen wird, kann auch den Schülerinnen und Schülern Beistand geleistet werden.
Das Gleichnis zeigt, dass es beim selbstorganisierten Lernen nicht darum geht, das Lernen zu lernen. Vielmehr sollen die Lernenden befähigt werden, die Umstände des Lernens so weit selber zu gestalten, dass sie die Begleitung auf ihrem Lernweg Schritt um Schritt selber übernehmen können. Wie das Pferd die Tränke irgendwann selber finden wird, nachdem ihm der Weg dorthin häufig genug gezeigt wurde, werden die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen sukzessive selber organisieren können, nachdem ihnen ausreichend gezeigt wurde, wie sie dies tun können. Es geht beim selbstorganisierten Lernen weder um das Lernen des Lernens noch um eine besondere Art von Lernen, sondern um die Bedingungen des Lernens, die so weit selber beherrscht werden sollen, dass ein Stück Autonomie erreicht wird.
2. Eine kuriose Herleitung des selbstorganisierten Lernens
Schmutz meint, es sei «leicht zu sehen», wo die Konzepte der Selbststeuerung und Selbstregulierung herkämen, nämlich aus der Kybernetik. Dem ist nicht so. Schmutz ist der semantischen Mehrdeutigkeit der Begriffe zum Opfer gefallen. Nur weil ein Wort gleich lautet, muss es noch nicht dieselbe Bedeutung haben. Bekanntlich ist die Bank, auf der man sitzen kann, nicht auch die Bank, bei der man einen Kredit aufnehmen kann. Gleiches gilt für die Begriffe Selbststeuerung und Selbstregelung.
Anhalten der historischen Zeit
Es trifft zu, dass von Selbstregulierung auch in der Kybernetik die Rede ist, wenn auch die Begriffe der Rückkopplung (Feedback) und des Regelkreises (zirkuläre Kausalität) häufiger verwendet werden. Ein technisches System wie ein Kühlschrank oder eine Zentralheizung reguliert sich selber, wenn es Informationen über seinen aktuellen Zustand mit einem Normwert vergleicht und allfällige Abweichungen autonom korrigiert. Dies ist ein Vorgang, der keinen Eingriff von aussen voraussetzt, wie Schmutz korrekt darstellt. Entscheidend im Hinblick auf das selbstregulierte Lernen ist jedoch, dass das System bei dieser Selbstkorrektur absolut nichts lernt. Ashby (1957) hat dies in seiner Einführung in die Kybernetik prägnant herausgearbeitet. Schmutz stimmt dem zu, wenn er wenig später schreibt: «Selbstregulatorische Prozesse beruhen auf voreingestellten Sollwerten. … Es handelt sich um die Reproduktion des ewig Gleichen.» Ganz genau. In einem sich selbst regulierenden System steht die Zeit still. Genauer gesagt, verstreicht zwar auch in einem Regelkreis Zeit, doch ist es die metrische Zeit der Uhren, die im Unterschied zur historischen Zeit keine Richtung aufweist. Indem der Pfeil der Zeit gebrochen wird, kann sich nichts ereignen. Wo sich nichts ereignet, muss nicht gelernt werden, kann aber auch nicht gelernt werden. Anders ausgedrückt: In einer sich selbst regulierenden kybernetischen Maschine passiert nichts, was Anlass zum Lernen gäbe. Dies allein schon müsste eigentlich genügen, um zu zeigen, dass das selbstregulierte Lernen mit dem kybernetischen Konzept der Selbstregulation nichts zu tun hat.
Steuerung oder Regelung?
Schmutz unterläuft ein weiterer Fehler: Er unterscheidet nicht zwischen Steuerung und Regelung. Selbst wenn sich ein System selber reguliert, muss ihm, falls es sich um ein technisches System handelt, ein Sollwert vorgegeben werden, und zwar von einem Menschen, der bestimmt, welche Leistung das System erbringen soll. Dafür steht der Begriff der Steuerung. In seiner Einführung in die Systemtheorie umschreibt Norbert Bischof (1995) den Unterschied mit den Begriffen der Konditionalität und der Manipulation. Was in einem Thermostaten abläuft, ist Konditionalität, was ein Mensch, der den Thermostaten kalibriert, tut, ist Manipulation. Die Regelung ist ein interner (automatischer), die Steuerung ein externer (entscheidungsbasierter) Vorgang. Das heisst auch, dass es zwischen einem technischen und einem biologischen System eine fundamentale Differenz gibt. Während bei einem technischen System Steuerung und Regelung von verschiedenen Instanzen realisiert werden, sind sie in einem biologischen System in ein und demselben System (Organismus) integriert. In der neueren Systemtheorie steht dafür der Begriff der Autopoiese (vgl. Maturana, 1998).
Es geht eben nicht um die automatische Regelung des Lernens, sondern um dessen vernunftgeleitete und handlungsorientierte Steuerung.
Die Unterscheidung von Steuerung und Regelung erklärt, weshalb bisweilen nicht nur gegenüber dem Begriff des selbstorganisierten Lernens, sondern auch gegenüber demjenigen des selbstregulierten Lernens Vorbehalte artikuliert werden und stattdessen dem Begriff des selbstgesteuerten Lernens der Vorzug gegeben wird, wie beispielsweise bei Franz E. Weinert (1982). Es geht eben nicht um die automatische Regelung des Lernens, sondern um dessen vernunftgeleitete und handlungsorientierte Steuerung. Schmutz hält allerdings auch den Begriff der Selbststeuerung für fehl am Platz.
Kybernetik zweiter Ordnung
Die Kybernetik eignet sich aus einem weiteren Grund schlecht zur Diffamierung des selbstorganisierten Lernens. Schmutz erwähnt die Macy-Konferenzen, an denen von 1946 bis 1953 eine «interdisziplinäre Arbeitsgruppe von amerikanischen Forschern» die Grundlagen der Kybernetik gelegt hatte. Pikanterweise waren es aber nicht nur «amerikanische Forscher», sondern auch europäische und in die USA emigrierte Europäer, die an den insgesamt zehn Konferenzen teilnahmen, wie Kurt Lewin, Paul Lazarsfeld, Heinz von Foerster, William Grey Walter, John von Neumann, W. Ross Ashby oder Roman Jakobson. Es ist nicht zuletzt diesen Nicht-Amerikanern, von denen die meisten allerdings später die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen haben, zu verdanken, dass sich die Kybernetik in den 1970er Jahren zu einer Kybernetik zweiter Ordnung weiterentwickelt hat. Die Kybernetik zweiter Ordnung stellt den Versuch dar, den Kybernetiker in die Theorie der Kybernetik einzubeziehen und damit vom Subjekt-Objekt-Schema der klassischen Kybernetik wegzukommen.
Was das heisst, lässt sich am Werk von Gotthard Günther – auch er ein emigrierter Europäer, der jedoch später nach Deutschland zurückkehrte – beispielhaft illustrieren. Von der Bewusstseinsphilosophie herkommend, versteht Günther (2002) unter Subjektivität ein immanentes (weltliches) Phänomen, das er als System umschreibt, das sich von seiner Umgebung abgrenzt und über Selbstreferenz verfügt. Subjektivität ist damit nicht mehr wie im Deutschen Idealismus eine reflexive transzendentale Position und kann auch nicht mehr im Singular begriffen werden, sondern stellt einen Plural dar. Dabei postuliert Günther eine konstitutive Asymmetrie zwischen subjektiver Subjektivität (Ich) und objektiver Subjektivität (Du). Während sich die Subjektivität des Du bis zu einem gewissen Grade objektivieren und technisch realisieren lässt, gilt dies für die Subjektivität des Ich nicht, da uns eine Metasprache fehlt, die uns ermöglichen würde, unser Selbstsein während seines Vollzugs reflexiv einzuholen. Notabene gilt dies auch für das Lernen. Auch auf unser Lernen können wir uns nur vor oder nach dessen Vollzug beziehen, aber nicht während wir lernen. Wenn wir es trotzdem versuchen, verfangen wir uns in eine Paradoxie. Paradoxien verhindern aber die Konstruktion eines technischen Systems.
Denken und Wollen
Aber auch die Du-Subjektivität ist technisch nicht voll substituierbar, da das andere Subjekt nicht nur ein Zentrum des Denkens, sondern auch des Wollens ist. Denken und Wollen sind komplementäre Aspekte menschlicher Subjektivität. Daher können wir bestenfalls eine kognitive Maschine bauen (künstliche Intelligenz), aber nicht auch eine volitive Maschine. Sobald wir unser Gegenüber nicht (nur) als Denk-, sondern (auch) als Willensereignis erfahren, wird es für uns undurchschaubar und unberechenbar. Das aber heißt, dass eine automatische Regulierung von Lernprozessen nur möglich wäre, wenn wir das lernende Individuum als rein kognitives Wesen betrachten und aus seinen sozialen Bezügen herauslösen würden. Wie jede Lehrperson weiss, wäre dies das Ende des schulischen Unterrichts. Denn unter der Voraussetzung eines passiven und willenlosen Gegenübers kann pädagogisch nicht gehandelt werden. Menschen sind soziale Wesen, auch und gerade, wenn sie sich als Lehrende und Lernende begegnen. Sie anerkennen sich in ihrer Subjektivität, und zwar in reziproker Spiegelung von Ich- und Du-Subjektivität.
Eignet sich schon die Kybernetik erster Ordnung nicht, das selbstorganisierte Lernen als technologisches Hirngespinst abzutun, trifft dies auf die Kybernetik zweiter Ordnung erst recht zu. Eventuell liesse sie sich sogar nutzen, um dem selbstorganisierten Lernen eine bessere theoretische Grundlage zu verschaffen.
3. Widerlegt die Forschung das selbstorganisierte Lernen?
Schmutz bedauert, dass wichtige Ergebnisse der psychologischen Forschung «von Erziehungsfachleuten ignoriert werden, so dass immer wieder Ziele aufgestellt und Methoden propagiert werden, deren Wirkungslosigkeit schon lange nachgewiesen ist». Dabei hat er ausdrücklich auch das selbstorganisierte Lernen im Visier. Dieses wurde seiner Meinung nach längst als unwirksam nachgewiesen. Aber auch diese Behauptung hält einer genauen Prüfung nicht stand.
Dabei genügt schon ein Blick in die umfangreiche Aufarbeitung von Meta-Analysen zu den Bedingungen schulischen Lernens, die John Hattie (2009) vorgelegt hat. Seine Botschaft lautet: Was Lehrpersonen tun, ist wichtig, aber nicht alles, was Lehrpersonen tun, ist wirksam. Wirksam ist gemäss Hattie ein Unterricht, für den im Englischen der Begriff der direct instruction verwendet wird, was sich mit «direkte Unterweisung» oder «direkte Instruktion» übersetzen lässt. Charakteristisch für die direkte Unterweisung, die nicht mit dem Frontalunterricht verwechselt werden darf, ist, dass die Lehrperson die Lernziele und Erfolgskriterien des Unterrichts festlegt, diese den Lernenden transparent und verständlich darlegt, durch eigenes Verhalten vormacht, was und wie gelernt werden soll, überprüft, ob die Lernenden verstanden und auch tatsächlich gelernt haben sowie zum Abschluss einer Lehreinheit die Beiträge der Lernenden zusammenführt.
Wenn die Schüler zu ihren eigenen Lehrern werden
Steht Hattie damit auf der Seite von Schmutz? Lehnt er das selbstorganisierte Lernen ab? Mitnichten. Was er ablehnt, sind Unterrichtsformen, bei denen die Schülerinnen und Schüler allein gelassen werden. Insofern könnte man sagen, dass er das selbstorganisierte Lernen als Unterrichtsmethode ablehnt, was aber nicht heisst, dass er es auch als Lernziel ablehnt.
Was Hattie ablehnt, sind Unterrichtsformen, bei denen die Schülerinnen und Schüler allein gelassen werden.
In Hatties (2009) Buch finden sich leicht Stellen, die dem Begriff des selbstorganisierten Lernens praktisch eins zu eins entsprechen, auch wenn der Begriff selber nicht verwendet wird. Zum Beispiel (eigene Übersetzung): «Die Methoden, die gemäss der Synthese der Meta-Analysen am besten funktionieren, führen zu einer sehr aktiven, direkten Beteiligung und einem starken Gefühl der Handlungsfähigkeit im Prozess des Lernens und Lehrens» (S. 244). «Das Ziel ist es, den Lernenden die Fähigkeit zu vermitteln, sich selbst zu unterrichten – ihr Lernen selbst zu regulieren (to get students to learn the skills of teaching themselves – to self-regulate their learning)» (S. 245). «Die grössten Effekte auf das Schülerlernen treten auf, wenn Lehrpersonen in Bezug auf ihr Lehren selber zu Lernenden werden und wenn Lernende zu ihren eigenen Lehrpersonen werden (when students become their own teachers)» (S. 22). Am wirksamsten ist das schulische Lernen also dann, wenn die Schülerinnen und Schüler zu ihren eigenen Lehrern werden! So sehr Hattie das selbstorganisierte Lernen als Unterrichtsmethode ablehnen mag, so sehr stimmt er ihm als Lernziel zu. Zu ergänzen wäre lediglich, dass das Ziel im Kontext institutionalisierten Unterrichts immer nur annäherungsweise erreicht werden kann.
Konstruktivistisches Lernverständnis
Schmutz bezieht sich in seiner Kritik nicht auf Hattie, sondern auf einen Aufsatz von Kirschner, Sweller und Clark (2006), der allerdings auch von Hattie (2009) zitiert wird. Von «einer internationalen, empirisch abgestützten Studie» kann dabei aber nicht die Rede sein, denn die Autoren präsentieren keine noch unveröffentlichten Daten, sondern resümieren ausnahmslos bereits publizierte Forschungsergebnisse. Im Fokus des Aufsatzes steht auch nicht das selbstorganisierte Lernen, sondern die vergleichende Bewertung verschiedener Formen schülerzentrierten Unterrichts (die Autoren sprechen von «unguided or minimally guided instruction»). Wenn überhaupt, dann geht es den Autoren lediglich um das selbstorganisierte Lernen als Methode.
Eine genauere Lektüre seiner Quelle hätte Schmutz auch von den unnötigen Seitenhieben gegen den Konstruktivismus, der von ihm genauso wenig gelitten wird wie das selbstorganisierte Lernen, abhalten können. Ausdrücklich schreiben die Autoren nämlich: «The constructivist description of learning is accurate» (Kirschner, Sweller & Clark, 2006, S. 78)! Was sie kritisieren, ist also nicht das konstruktivistische Verständnis von Lernen (dieses bezeichnen sie ausdrücklich als korrekt), sondern die Konsequenzen, die in pädagogischen Kreisen daraus gezogen werden. Das aber deckt sich völlig mit meiner eigenen Auffassung. Aus einem psychologischen Verständnis von Lernen lässt sich nicht unmittelbar eine Methode zur Gestaltung des Unterrichts ableiten.
4. Können Metaphern falsch sein?
Den letzten Schliff gibt Schmutz seinem Verriss meines Beitrags zum selbstorganisierten Lernen, indem er mich des falschen Metapherngebrauchs bezichtigt. Wie er zu Recht feststellt, bilden Metaphern «die Sache, die sie meinen, jeweils nur unvollständig ab». Damit lässt sich aber keine Pauschalkritik an der Verwendung von Metaphern begründen, denn Metaphern nutzen wir oft dann, wenn uns ein begrifflicher Zugang zu einem Phänomen nicht möglich ist. Sei es, weil das Phänomen noch nicht hinreichend untersucht wurde, sei es, weil es notorisch schwierig sein kann, über gewisse Erfahrungen in klaren Worten zu reden. Metaphern sind deshalb auch in der Wissenschaft nicht nur schmückendes Beiwerk, auf das ohne weiteres verzichtet werden könnte, sondern von erkenntniserschliessender Bedeutung. Indem wir etwas sehen, als ob es etwas anderes wäre, erzeugen wir eine Analogie, die uns hilft, das begrifflich Unfassbare doch noch begreifbar zu machen. Insofern ist eine Metapher ein Medium der Sinnstiftung. Ob die Sinnstiftung selber sinnvoll ist, lässt sich rational nicht entscheiden. Deshalb ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn Schmutz meiner Metaphernwahl mit Skepsis begegnet.
Was aber nicht angeht, ist eine Metaphernkritik, die versucht, die Logik der metaphorischen Sinnstiftung ausser Kraft zu setzen, indem sie nach Entsprechungen sucht, die der Metapher widersprechen. Der Vergleich, der eine Metapher konstituiert, ist immer selektiv, was sich auch so ausdrücken lässt, dass jede Metapher sowohl auf positiven wie auf negativen Analogien beruht. Die positiven Analogien erzeugen den Sinn der Metapher; die negativen Analogien umfassen jene Aspekte des Vergleichs, die für das Verständnis der Metapher irrelevant sind. Wird zum Beispiel der Mensch ein Wolf genannt, so liegt die positive Analogie darin, dass dem Menschen Eigenschaften zugeschrieben werden, die (vermeintlich) auch auf den Wolf zutreffen, wie Bestialität, Feindseligkeit oder Hinterhältigkeit. Zu den negativen Analogien gehört dagegen, dass ein Wolf vier Beine, einen Schwanz und ein Fell hat, alles Merkmale, die auf den Menschen nicht zutreffen und für den Sinn der Metapher belanglos sind.
Ein grotesker Vorwurf
Während ich in meinem Beitrag darlege, wie ich die Bulimie-Metapher verstanden haben möchte, also die positiven Analogien zwischen Bulimie und Schülerlernen ausführe, verbeisst sich Schmutz in die negativen Analogien und reitet solange darauf herum, bis ich gleichsam mit heruntergelassenen Hosen dastehe. Das ist nicht nur beschämend, sondern auch absurd. Denn die Metapher des Bulimie-Lernens stammt nicht von mir. Selbst bei Wikipedia gibt es mittlerweile einen Eintrag zum Bulimie-Lernen, der zudem den Eindruck erweckt, dass die Metapher bereits zum Begriff geworden ist. Es heisst nämlich: «Unter dem Begriff (!) Bulimielernen … versteht man das kurzfristige Auswendiglernen von Fakten, Formeln, Sachverhalten, Wissen etc. für eine Prüfung, Klausur, Klausurarbeit oder einen Test, die man relativ kurze Zeit danach wieder vergisst und dadurch mangels Übung und tiefgreifenderem Verständnis meist nicht auf ähnliche Probleme anwenden kann» (abgerufen am 1.4.2020). Genau so wird die Bulimie-Metapher von mir verwendet, um genau das zu bezeichnen, was Schmutz nach seiner vernichtenden Kritik als eigene Einsicht ausgibt: «Was nicht genug verarbeitet, nicht oft genug wiederholt wird oder erst gar nicht interessiert, landet nicht im Langzeitgedächtnis.» Es ist in der Tat ein gut bestätigtes Ergebnis der lernpsychologischen Forschung, dass verteiltes Lernen zu besseren Gedächtnisleistungen führt als massiertes Lernen. Aber statt hervorzuheben, dass er in diesem Punkt mit mir übereinstimmt, polemisiert Schmutz gegen meine Verwendung der Bulimie-Metapher und wirft mir zum krönenden Abschluss noch vor, ich wolle «schulische Arbeit als krank machend und nutzlos … diffamieren». Grotesker geht es wahrlich nicht mehr!
Schlussbemerkung
Der Vorwurf fehlender Bodenhaftung und ideologischer Befangenheit erweist sich als hohles Gerede, wenn der Kritiker nicht in der Lage ist, seine vorgeblich auf «Erfahrung und Empirie» beruhende Kritik hinlänglich zu begründen. Aus allen Rohren zu schiessen, im Glauben, eines der Geschosse werde sein Ziel schon treffen, ist eine untaugliche Strategie, um gegen die Fehlinterpretationen des selbstorganisierten Lernens anzukämpfen. Dass es diese Fehlinterpretationen gibt, steht auch für mich ausser Zweifel. Sie bestehen vor allem darin, das selbstorganisierte Lernen um den Zielaspekt zu verkürzen und ohne die Schülerinnen und Schüler darauf vorzubereiten als Methode einzusetzen. Kritisieren lässt sich diese Schrumpfvariante des selbstorganisierten Lernens nur auf der Basis gut begründeter und nachvollziehbarer Argumente. Weshalb Schmutz davon nichts wissen will, ist mir ein Rätsel.
Umso mehr, als unsere Positionen, wie schon angedeutet, gar nicht so weit auseinanderliegen. So stimme ich ohne weiteres zu, wenn Schmutz das «Ziel jeder Erziehung und Bildung» dahingehend bestimmt, «ein selbstständiges Leben führen und informierte, autonome Entscheidungen treffen zu können. Dies schrittweise zu ermöglichen, ist die Aufgabe und die Kunst derjenigen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.» Im Unterschied zu Schmutz interpretiere ich dieses Ziel aber nicht so, dass das Lernen davon ausgeschlossen ist, sondern schliesse es ausdrücklich in den Bildungsauftrag der Schule ein. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört auch die Fähigkeit, sein Lernen selber gestalten zu können. Dies schrittweise zu ermöglichen, ist eine unverzichtbare, wenn auch anspruchsvolle Aufgabe des schulischen Unterrichts.
Literaturverzeichnis
Ashby, W.R. (21957). An Introduction to Cybernetics. London: Chapman & Hall.
Bischof, N. (1995). Struktur und Bedeutung. Eine Einführung in die Systemtheorie für Psychologen. Bern: Huber.
Günther, G. (32002). Das Bewusstsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik. Baden-Baden: AGIS.
Hattie, J.A.C. (2009). Visible Learning. A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London: Routledge.
Kirschner, P.A., J. Sweller & R.E. Clark (2006). Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching. Educational Psychologist, 41, 75-86.
Maturana, H.R. (1998). Biologie der Realität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Weinert, F.E. (1982). Selbstgesteuertes Lernen als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unterrichts. Unterrichtswissenschaft, 2, 99-110.
Da kann man mal wieder sehen, wie schwer es ist, einen Pudding an die Wand zu nageln. Wenn man mit hinreichend schwammigen, aber gut klingenden Begriffen operiert, kann man nicht widerlegt werden.
Dass sich zwei Schulreformkritiker mit ähnlichen Intentionen in die Haare geraten, dürfte wohl daran liegen, dass man den Begriffen nicht mehr trauen kann, weil man nicht weiss, welche Absicht dahinter steckt. Schon lange werden Begriffe vor allem in der Politik (dazu gehören auch die Schulreformen) u.a. von Spin Doctoren manipuliert, um damit eine Absicht zu verschleiern. Das Manipulieren ist mit dem Neuro-Linguistische Programmieren NLP zu einer eigentlichen Disziplin geworden. Dabei werden gut tönende Begriffe mit anderem Inhalt gefüllt oder einem guten Inhalt wird ein negativ besetzter Begriff übergestülpt. Beispiele sind das „Selbstorganisierte Lernen SOL“, bei dem verschwiegen wird, dass kein gemeinsamer Unterricht mehr statt findet oder der negativ besetzte Begriff „Frontalunterricht“ mit dem der positive Begriff „Klassenunterricht“ zum Verschwinden gebracht wurde, um progressive Schulreformen hervor zu heben. Wer also wissen will, was tatsächlich mit den Begriffen gemeint ist, muss die Taten anschauen.