Selbstporträt
«Echo der Zeit» ist die weltoffene, politische Abendsendung von Radio SRF. Wir vertiefen täglich die wichtigsten Ereignisse im In- und Ausland. Wir bringen globales Geschehen zu Ohren mit Reportagen, Interviews und Analysen – klug und pointiert.
Sehr geehrte Echo-Macherinnen und -macher,
Ihr Kaminfeuergespräch mit Andreas Schleicher im Echo der Zeit hat unsere Herzen erwärmt. Und auch seine fundierte Erklärung, an wem wir uns bezüglich Homeschooling zu orientieren haben, haben wir notiert.
Gestatten Sie uns, Ihnen noch einige Fragen nachzusenden, pointiert und so klug wie möglich.
Interview mit Andreas Schleicher zum Fernunterricht während der Corona-Krise
(6. April, Echo der Zeit, Radio SRF 1)
Zur Erinnerung: Die Sendung Kulturplatz Schweiz vom 13. März 2019 (Digitaler Unterricht auf dem Vormarsch) bestach durch Falschinformationen, Weglassungen und Verkürzungen. Sie wurde so zu einem propagandistischen Dokument für den Digitalunterricht. In einem Brief an die Macher kritisierte ich diese Sendung in 7 Punkten und lieferte die entsprechenden Quellen nach. Dies hatte eine Einladung der Redaktion zur Folge, an der auch Professor Ralf Lankau teilnahm. Die zwei Redakteure hörten uns zu und versprachen, das Thema beizeiten gezielt und unter Berücksichtigung unserer Argumente weiterzubearbeiten.
Das Interview des Journalisten Brändlin im Echo der Zeit fällt in eine andere Kategorie. Hier geht es um fehlende Substanz, einen vermutlich schlecht vorbereiteten Interviewer und ein falsches Format.
In der Folge versuche ich, die Lücken dieses Interviews aufzuzeigen, die offenen Fragen zu stellen und die Widersprüche aufzudecken. Ich beende es mit einem Fazit. (Die Transkription des Interviews erstellte Condorcet-Autor Felix Schmutz)
Brändlin, SRF: Wo steht die Schweiz im digitalen Fernunterricht?
Schleicher: Technologisch sind die Schulen in der Schweiz gut ausgestattet. Noch mehr zu tun ist bei den Lehrkräften. Zumindest nach Aussagen der Schulleiter fehlen ihnen noch die technischen und pädagogischen Fähigkeiten, um die Technologie auch wirklich in innovative Unterrichtskonzepte zu integrieren.
Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?
Kommentar Condorcet:
Schleichers Aussage enthält zwei Elemente, über die man gerne mehr erfahren hätte:
- Gibt es eine validierte Umfrage unter Schweizer SchulleiterInnen, welche die Apodiktik dieser pauschalisierenden Aussage unterstreichen? (Immerhin lieferte sie den ersten Titel dieses Beitrags).
- Was versteht Herr Schleicher unter «Technologie, die es in innovative Unterrichtskonzepte» zu integrieren gelte!
- Was sind nach Schleicher «innovative Unterrichtskonzepte»?
- Welche Fähigkeiten fehlen den Schweizer Lehrkräften im Digitalen Unterricht (Gebrauch von Zoom, Facetime, WhatsApp, Google Brain – Deep-Learning-Projects, YouTube-Kenntnisse, Videos produzieren?)?
- Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?
Brändlin: Mit Fernunterricht ist nicht nur die Videokonferenz gemeint?
Schleicher: Es ist auch wichtig, dass die Schüler die Motivation und die Fähigkeiten haben, selbstwirksam zu lernen, eigene Lernprozesse auch zu begleiten, Lernziele selbst zu setzen, über längere Zeiträume unabhängig zu arbeiten, das erfordert eine wirklich neue Pädagogik.
Kommentar Condorcet
Sehr interessant. Was genau heisst «eigene Lernprozesse auch zu begleiten»? Und, welche Lernziele sollen sich Schüler selber setzen? Sollen sie die Menge der Wörtli im Französischunterricht, die sie in einer Unterrichtseinheit lernen sollten, selber bestimmen? Sollen sie selber bestimmen zu lernen, wie die Chemie den Aufbau der Materie erklärt? Dass SchülerInnen eine Motivation haben sollen, selbstwirksam zu lernen, ist ja eine Binsenwahrheit, die wir auch im Normalunterricht einüben wollen. Die Frage ist, kann man Motivation mit E-Learning lernen?
Brändlin: Gibt es Länder, die das besser können?
Schleicher: China ist am besten durchgekommen. Da waren nach einem Monat 50 Millionen Kinder online, und dort ist es vor allem gelungen, wirklich auch die sozialen Bedingungen gut zu erhalten zwischen Schülern und Lehrkräften. In China haben natürlich Kräfte wie die künstliche Intelligenz eine ganz andere Bedeutung. In Europa ist Estland sehr weit in der technologischen Ausstattung, Unterrichtskonzepte sind dort sehr stark digitalisiert. Aber insgesamt stehen wir am Anfang.
Chinas Unterrichtskonzepte: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, knallhartes Üben, harte Selektion. Ist das innovativ?
Kommentar Condorcet
Welchen Unterricht meint Schleicher, wenn er von China spricht? Schleicher ist ein kluger Mann, der viele Bildungssysteme kennt. Er weiss bestimmt, dass in China ein stark lehrerzentrierter Frontalunterricht gepflegt wird. Natürlich lernen die chinesischen SchülerInnen wesentlich früher und auch umfassender an digitalen Geräten. Ist dies bereits «innovativ»? Die darin enthaltenen Unterrichtskonzepte und die Lernprogramme sind bei uns arg in Misskredit geraten. Stichwort: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, härteste Selektion und knallhartes Üben. Was ist hier «innovativ»? Die Tatsache, dass alle Kinder einen Laptop zu Hause haben und Lernprogramme abarbeiten? Und wie machen es die chinesischen Lehrkräfte mit Kindern, die da nicht mithalten? Rufen sie diese an? Reden sie ihnen ins Gewissen? Machen sie ihnen Mut? Zumindest würde ich das unter «die sozialen Bedingungen gut erhalten» verstehen. Oder geschieht dies mittels PUSH-Nachrichten. Der Lehrer schickt ein zu bearbeitendes PDF-Dokument, das nach einer gewissen Zeit sofort verschwindet. Wer es verpasst, hat keine Chance mehr. Auch totale Überwachung ist soziale Betreuung.
Brändlin: Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder aus weniger begüterten Familien benachteiligt werden?
Schleicher: Doch, die Schere zwischen Kindern der gut verdienenden Eltern und der ärmeren öffnet sich weiter. Lernen ist ein sozialer Vorgang. Diejenigen, denen die Eltern nicht helfen können, sind im Nachteil.
Brändlin: Wie kann die Schule in der Schweiz dem entgegenwirken?
Schleicher: Die technologische Voraussetzung sind gegeben. Wo es mehr hapert, ist wirklich die Vorbereitung der Lehrkräfte, die Integration in die Pädagogik, da hat die Schweiz noch mehr zu tun.
Kommentar Condorcet
Auch hier: Was meint Schleicher mit dem Satz «die Integration in die Pädagogik»? Welche Pädagogik schwebt ihm vor?
Brändlin: Was muss die Schule tun, um den Kindern trotz Corona möglichst viel Chancengleichheit mitzugeben?
Schleicher: Zunächst geht es darum Online-Plattformen gut zu nutzen, dass einfach die besten Instrumente überall zur Verfügung stehen, die Lehrkräfte zu unterstützen, mehr Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften zu schaffen. Das Thema ist oft, dass Lehrkräfte sehr als Einzelkämpfer arbeiten, die sind jetzt ganz auf sich allein gestellt. Da für mehr Austausch und Zusammenarbeit zu sorgen, wird allen helfen.
Kommentar Condorcet
Von welchen Online-Plattformen spricht Schleicher? Weiss er, wie viele Schulen Online-Plattformen nutzen? Und wie sieht er es bei den 1. KlässlerInnen? Dort gibt es ja auch Online-Plattformen … Kennt der Journalist diese? Er sollte sie sich doch einmal anschauen und uns anschliessend das Innovative an dieser Pädagogik erklären! Und schliesslich noch der Griff in die Mottenkiste der Lehrervorwurfsskala: die Lehrkräfte als Einzelkämpfer! Herr Schleicher weiss genau, wovon er spricht. Er vermittelt dem Zuhörer das Bild der 60er-70er-Jahre. Er unterschlägt die strukturellen Änderungen in den Schweizer Schulhäusern: Geleitete Schulen, pädagogische Konferenzen, gemeinsame Vorbereitungen während der Ferien, Mitarbeitergespräche usw. Warum? Und wie evident ist die Aussage? Worauf basiert sie?
Brändlin: Das ist mittelfristig gedacht. Manche sagen, man solle das laufende Schuljahr abschreiben. Was halten Sie von der Idee, dass man das ganze Schuljahr wiederholt oder ein Semester anhängt?
Schleicher: Schüler sind resilienter als wir das oft glauben. Ich denke, von dem, was die Schüler auch online lernen, bleibt sehr viel hängen, und ich denke, alles einfach nochmal machen, das wird dann wirklich ein verlorenes Jahr. Die Frage ist, wie lange das jetzt weitergeht. Wenn es bei ein paar Monaten bleibt, ist das zu bewältigen.
Kommentar Condorcet
Ich habe meinen SchülerInnen folgenden Rechenauftrag gegeben. Wie viel Prozent des regulären Unterrichts würden in einer 11-jährigen Schulkarriere in der Volksschule ausfallen, wenn die Schulschliessungen bis Juni dauerten? Es sind knapp 4%!
Brändlin: Was überwiegt bei Ihnen: die Sorge um die Bildung der Schülerschaft oder die Freude über die Fortschritte im digitalen Unterricht?
Schleicher: Sicherlich die Sorge um die Schülerschaft, denn nicht alle Lehrer sind darauf vorbereitet, nicht alle Schüler haben zu Hause das entsprechende Umfeld, um wirklich selbstwirksam, selbstständig zu lernen, da habe ich sehr grosse Sorge. Anderseits finden grosse Veränderungen in Zeiten tiefgreifender Krisen statt. Vieles, was wir heute entwickeln, dass Schüler einfach mehr Raum bekommen, innovativ zu lernen, dass Lehrkräfte mehr Verantwortung für die Gestaltung von innovativen Unterrichtskonzepten haben und übernehmen. Ich hoffe, davon wird einiges hängen bleiben. Das schlimmste Szenario ist, dass alles nach der Krise wieder so ist wie vor der Krise.
Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten.
Kommentar Condorcet
Das ist interessant! Am schlimmsten wäre es, wenn die Schule wieder so wäre, wie sie vor der Corona-Krise war. Ja, wie war sie denn vor der Corona-Krise? Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten. Vermutlich ist der digitale Unterricht gemeint. Und wiederum muss der Staunende sich angesichts solcher Rhetorik fragen: Was ist ein digitaler Unterricht? Ist da die Verwendung der digitalen Geräte als Tool gemeint oder ist es die Übergabe eines Unterrichts der direkten Instruktion durch die Lehrkraft an Softwarepakete von Google, die Verwaltung eines G Suite for Education-Kontos für jede Schülerin und jeden Schüler, die Beschulung unserer Kinder durch von Konzernen vorgefertigte Unterrichtsprogramme mit allen datentechnischen Problemen? Man erhält keine Antwort!
Brändlin: Könnte das sein?
Bei den Schülern bin ich optimistisch. Wer einmal gemerkt hat, dass man selbstständig lernen kann, dass man nicht nur einem Lehrer zuhören muss, man sich die Lehrkräfte aussuchen kann, mit denen man digital arbeitet, wenn man in ein virtuelles Laboratorium geht, anstelle irgendwo in der Schule zuzuhören. Wer das einmal mitgemacht hat, der wird später ein anspruchsvollerer Schüler sein, der auch auf die Lehrer zugeht und sagt, wie man am besten selber lernt. Die Schüler werden das einfordern, hoffe ich.
Kommentar Condorcet
Das sind ja grosse Ankündigungen. Man kann selbständig lernen, die Lehrkräfte aussuchen und das in einem virtuellen Laboratorium. Wie funktioniert ein solches «virtuelles Laboratorium»? Kann man sich das auch aussuchen? Und welche Lerninhalte werden dort vermittelt? Welche Unterrichtsprogramme kommen zum Zuge? Google? Google brain speichert aber auch Geräte- und Hardwareinformationen, Geräteerkennungen und Betriebssystemversionen, IP-Adressen und Standortinformationen, setzt akivitätsprotokollierende Cookies ein, nutzt Sensoren der Geräte und deren Daten. Ist das ein Problem? Herr Schleicher weiss natürlich, wovon er redet. Weiss es aber der fragende Journalist?
Soll dieser Beitrag von Echo der Zeit informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht propagieren oder einfach nur werben?
Fazit Condorcet:
Um was für eine Art von Beitrag handelt es sich? Soll er informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht der Dinge propagieren oder einfach nur werben? Welche Frames (Wissensrahmen) kommen hier vor? Welche Rolle spielen die so aufgerufenen Frames für die Schlussfolgerungen der Zuhörerschaft? Welche Mechanismen können identifiziert werden, die darauf abzielen, Bewusstseinszustände von Lesern zu verändern? Wie immunisieren sich die Aussagen gegen Widerlegung oder Widerstand?
Ich möchte dem fragenden Journalisten nicht zu nahe treten. Aber dieses Interview ist kein erkundender Dialog, es ist ein Kamingespräch, eine Thesenplattform. Der Journalist wird sagen, das Format lasse nicht mehr zu. Das mag stimmen. Warum führt er es dann so durch? Das Echo der Zeit rühmt sich, sorgfältig recherchierte Hintergrundberichte zu liefern, seriöse Informationen zusammenzustellen und faktenbasiert zu kommentieren.
Gespräche mit «Experten» können dabei ein Element sein. Herr Schleicher ist zweifellos ein Experte. Er weiss viel mehr, als er geäussert hat, und er hätte bei entsprechenden Nachfragen auch nachgeliefert. Er ist aber auch ein Vertreter einer Bildungspolitik, die eine Agenda verfolgt. Er ist kein neutraler Bildungsforscher. Auch das hätte ein seriös arbeitender Journalist feststellen müssen. Und Herr Schleicher weiss bestens mit dem gewählten Format
Herr Schleicher ist kein neutraler Bildungsforscher. Er ist ein intelligenter Vertreter einer Bildungspolititk, die eine Agenda verfolgt, die wir skeptisch beurteilen (müssen).
umzugehen. Er setzt souverän auf die Frames, benützt die Innovationsrhetorik, ohne diese zu präzisieren. Herr Brändlin verfällt in die Rolle des Stichwortgebers. Eine ketzerische Zwischenfrage: Hätte es sich um einen AFD-Bildungssprecher oder einen Trump-Sympathisanten gehandelt, wäre dann die Befragung auch so devot geblieben?
Für einen intelligenten Mann wie Schleicher stellt diese Form des Interviews eine Unterforderung dar. Für uns kritisch denkende Bildungsinteressierte ist es nutzlos. Für die Mehrheit der Zuhörerschaft vermutlich durchaus prägend, ja propagandistisch.
Am Schluss noch der Treppenwitz der Titeländerung
Und am Schluss noch ein Treppenwitz der ganzen Geschichte: Auf Hinweis unseres Codorcet-Autors Carl Bossard wurde der pauschalisierende und von vielen als diffamierend empfundene Titel der Sendung «Fehlende digitale Fähigkeiten bei Schweizer Lehrkräften» zu «Chinesische Schulen kommen am besten durch die Krise». Wieder eine Behauptung von Andreas Schleicher; empirische Daten legt er keine vor. Und was heisst «am besten»? Ich jedenfalls weiss es: Am besten hört man sich solche Sendungen einfach nicht an.
Wo wir schon bei fehlenden Belegen sind: Können Sie die mehrfache Behauptung, Schleicher sei intelligent, irgendwie belegen? Ich halte den Glauben daran, dass Bildungsqualität sich mit mit Frägelchen zum Ankreuzen messen ließe, für ein Ausmaß an Dummheit, das nicht leicht unterboten werden kann. Die Tatsache, dass er einen Abschluss in Physik erhalten hat, lasse ich nicht gelten – Chanda Prescod-Weinstein hat sogar einen in Astrophysik.
Und wiederum mache ich es kurz: Der PISA-Verantwortliche schleicht sich mit belanglosem pseudopädagogischem Geschnorr durch die Sendung. Die im Condorcet-Blog gestellten Fragen dazu sind mehr als berechtigt!
Gemäss dem Pisa-Verantwortlichen Schleicher gewinnen Schülerinnen und Schüler mehr Freiheit durch den digitalen Unterricht und werden in Zukunft den menschlichen Lehrkräften gegenüber kritischer sein. Gleichzeitig sagt Schleicher, die Chinesen kämen mit ihrem digitalen am besten durch. Dass hiesse dann wohl, dass die chinesischen Schülerinnen und Schüler am meisten Freiheit gewinnen konnten?