19. April 2024

Wir müssen die Reformrhetorik entblättern

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin in der Stadt Basel, weiss, wovon sie redet, wenn sie mit Begriffen wie Integration, Frühförderung oder Kompetenzorientierung konfrontiert ist. Aber wissen es die anderen auch, oder besser, reden alle vom Gleichen? Eine brisante Analyse aus der Praxis!

Die Schulreformen der letzten zwanzig Jahre sind geprägt von Begriffen wie Integration, Partizipation, Kompetenzorientierung, Individualisierung, Frühförderung und früher Fremdsprachenunterricht, sowie Digitalisierung und nicht zuletzt selbstorganisiertes Lernen und Selbstreflexion.

Praktische Begriffe

Diese Begriffe sind äusserst praktisch: Damit lassen sich Notwendigkeiten von Reformen begründen, Zielvorstellungen formulieren und Prozesse beschreiben. Auch im Diskurs selbst sind sie vielfältig einsetzbar: Man kann damit fordern, argumentieren, plädieren, diskutieren, reflektieren, moralisieren, widersprechen, zustimmen; was auch gern getan wird und worin vielleicht ihr eigentlicher Zweck liegt.

Vielseitige Einsatzbarkeit und Jongliermöglichkeiten

Mit diesen Begriffen kann frivol jongliert werden.

Doch was genau repräsentieren diese Begriffe eigentlich? Könnte es sein, dass ihre vielseitige Einsetzbarkeit und die Jongliermöglichkeiten in erster Linie darauf hinweisen, dass niemand weiss, was eigentlich damit gemeint ist, dass sie also keine eigentliche Bestimmung haben? Dass sie in erster Linie Prozesse beschreiben, die irgendwelche Zustände herbeiführen wollen, welche aber als solche auch nicht geklärt sind? Ganz abgesehen davon muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist, davon auszugehen, dass sich zukünftige Zustände überhaupt beschreiben lassen, ausser man geht davon aus, dass sie sich aus dem bis anhin Geschehenen naturgemäss weiterentwickeln werden.

Wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden will, muss sie selbstverständlich klären, wie sie sich zeitlich und räumlich strukturiert, wie das erzieherische Verhältnis und das Vermitteln beschrieben werden sollen und wie sie den Zugang zur Welt mit dem Ziel der Partizipation an derselben schaffen will.

Beim Versuch der Verortung der Begriffe erkennt man bei der Frühförderung und dem frühen Fremdsprachenunterricht einen zeitlichen sowie bei der Integration und der Partizipation einen räumlichen Aspekt. Individualisierung, selbstorganisiertes Lernen und Selbstreflexion scheinen sich am einzelnen Kind zu orientieren, während Kompetenzorientierung und Digitalisierung vielleicht etwas damit zu tun haben, wie der Welt begegnet wird oder begegnet werden soll.

Wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden will, muss sie selbstverständlich klären, wie sie sich zeitlich und räumlich strukturiert, wie das erzieherische Verhältnis und das Vermitteln beschrieben werden sollen und wie sie den Zugang zur Welt mit dem Ziel der Partizipation an derselben schaffen will.

Eine Gesellschaft, die nicht weiss, was ist und wohin es geht

Doch die oben beschriebenen Schulreformen scheinen nach dem Prinzip der «pädagogischen Panik» (Basil Bernstein) zu funktionieren, welche er als «eine tiefe Panik in unserer Gesellschaft» beschreibt, «die nicht weiss, was ist und wohin es geht».

Wohin geht die Reise?

Die Tatsache, dass nicht alle in der offenbar angestrebten Weise an der Welt partizipieren können, führt zur Forderung einer integrativen Schule und vermehrter Partizipation. Vermutete mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen nach einer Vorverlegung der Instruktion. Wenn nicht mehr klar ist, was die nachfolgende Generation wissen und tun soll und die Probleme als kaum zu bewältigen erscheinen, dann sollen die Kinder selber wissen, was sie können und tun müssen, Hauptsache sie werden in irgendeiner Form kompetent; und nicht zuletzt sollen sie auch auf die zunehmende Digitalisierung – was auch immer damit gemeint ist – vorbereitet sein. Die Reformen sind nichts Anderes als schnelle Antworten mit im Schulkontext schwer zu verortenden und ungeklärten Begriffen auf Herausforderungen, auf welche die ältere Generation keine Antworten weiss und die sie damit der jüngeren Generation weitergibt; damit wird das Pädagogische, welches jeder Erziehung per se zugrunde liegt, letztlich ausgeklammert.

Das Pädagogische wird ausgeklammert.

Der Schule die Lösung von Herausforderungen der Zukunft mittels Reformen zuzumuten, die auf ungeklärten, allein Prozesse beschreibenden Begriffen basieren, macht sie in erster Linie kritikanfällig und instabil. Ganz abgesehen davon, dass die Herausforderungen an sich ungeklärt sind, wie alles, was erst in der Zukunft – wenn überhaupt – eintreten wird.  Die damit einhergehende Infragestellung der Leistungsfähigkeit und

Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Tun immer häufiger legitimieren.

Autorität der Schule impliziert auch jene der Lehrerinnen und Lehrerin, der eigentlichen Träger der Institution; sie müssen ihr Tun und Lassen immer häufiger legitimieren. Dies fällt zunehmend schwer, da Lehrerinnen und Lehrer sich durchaus bewusst sind, dass viele Vorgaben nicht einlösbar bzw. nicht richtig verortet sind und dass ihre Tätigkeit vorwiegend aus einem Tun und Handeln besteht, nicht aus der Herstellung von Zuständen.

Lehrkräfte stellen keine Zustände her

Die Reformen der letzten zwanzig Jahre hatten durchaus bestimmte Zielsetzungen bzw. Absichten. Nur konnten sie diese nicht einlösen. Dies mag damit zu tun haben, dass Bildungs- und Erziehungsprozesse nicht nach dem Kausalitätsprinzip funktionieren. Die Gründe dafür liegen aber auch darin, dass die Verantwortlichen nie klärten, ob die Begriffe, welche den Reformen ihren Stempel aufgedrückt haben, als solche überhaupt geklärt sind, in der Institution funktionieren und woran sie sich eigentlich orientieren bzw. inwiefern sie mit Bildung, Erziehung und Wissensvermittlung etwas zu tun haben.

Aber das eigentliche Lehren und Vermitteln ist letztlich eine personale Angelegenheit und findet in unserem täglichen Tun statt.

Der Berufsalltag muss leistbar bleiben

Als Lehrerinnen und Lehrer verstehen wir uns als Wissensvermittler, als jene, welche das Wissen, welches Weltzugänge ermöglicht, in einem kollektiven Setting, – das als solches an sich wiederum viele Lernmöglichkeiten bietet – weitergeben möchten. Wir verfügen über ein bestimmtes Professionswissen, das unserer Arbeit zugrunde liegt. Aber das eigentliche Lehren und Vermitteln ist letztlich eine personale Angelegenheit und findet in unserem täglichen Tun statt. Wir wissen, dass dies nicht immer so gelingt, wie wir uns das vorstellen, wir wissen, dass wir es mit widersprüchlichen Herausforderungen zu tun haben – Gleichheit oder Gerechtigkeit, Mensch oder Sache, Gemeinschaft oder Individuum etc.  – ,

Nicht leistbare Zumutungen

bei welchen wir uns immer wieder und oft kurzfristig zugunsten des einen oder anderen entscheiden müssen. Wir lehren und steuern, fordern heraus und ermutigen, begeistern und regulieren, ermöglichen und korrigieren, schaffen Freiräume und setzen Grenzen, reüssieren und scheitern, kurz: Wir wissen um die Komplexität unseres Berufsauftrags und auch darum, dass die Schule ökonomische, soziale und politische Aspekte aufweist. Doch der Berufsauftrag muss leistbar bleiben. Wenn das Lernen immer früher institutionalisiert stattfinden soll, wenn das Setting aufgrund der unterschiedlichen Lernfähigkeiten immer komplexer wird wegen der so genannt integrativen Schule, wenn wir vor lauter Kompetenzen die Inhalte nicht mehr sehen, wenn Kinder alles selber lernen und organisieren sollen, wenn die Schülerinnen und Schüler hinter Bildschirmen verschwinden und wir nur noch Administratoren und Begleiter sein müssen: Dann können wir nicht mehr pädagogisch tätig sein.

Wenn das Lernen immer früher institutionalisiert stattfinden soll, wenn das Setting aufgrund der unterschiedlichen Lernfähigkeiten immer komplexer wird wegen der so genannt integrativen Schule, wenn wir vor lauter Kompetenzen die Inhalte nicht mehr sehen, wenn Kinder alles selber lernen und organisieren sollen, wenn die Schülerinnen und Schüler hinter Bildschirmen verschwinden und wir nur noch Administratoren und Begleiter sein müssen: Dann können wir nicht mehr pädagogisch tätig sein.

Es gilt Abschied zu nehmen von Utopien, von nicht leistbaren Zumutungen und von Begriffen, die Zustände herstellen wollen, welche sich per se nicht herstellen lassen, ohne dass alles Unerwartete ausgeschaltet würde und allein Anpassung als Möglichkeit des menschlichen Daseins übrigbliebe. Eine Schule, die nicht mehr versteht, was sie tut bzw. tun muss, wird in ihrer eigentlichen Sinnhaftigkeit erschüttert. Sie muss zurückfinden zu ihrem eigentlichen Auftrag als Institution der Gesellschaft für die Gesellschaft. Wir verlieren sonst mehr, als wir uns wahrscheinlich vorstellen können.

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Sehr interessant ist die Beobachtung, dass die im Artikel genannten Reformen vor allem Prozesse beschreiben, die auf nicht näher bestimmte oder bestimmbare Zustände hinführen sollen: Digitalisierung, Vorverlegung des Unterrichts, Integration, Kompetenzorientierung, Lernateliers sind formale Verfahren. Es ist auffällig, dass der Inhalt nie eine Rolle spielt. In der Kompetenzorientierung ist er absichtlich austauschbar. Die Form siegt über den Inhalt, die bunte Verpackung ist wichtiger als das darin enthaltene Geschenk. Weil man sich über Inhalte gar nicht mehr auseinandersetzen möchte, stürzt man sich mit fanatischem Eifer auf das Formale, das vielleicht einen schönen Klang hat, von dem aber niemand weiss, wo es eigentlich hinführt.

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