Die Historikerin Béatrice Ziegler, die bis 2016 das Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der FHNW in Aarau leitete, stellt in einem zweiseitigen Artikel der VPOD-Zeitschrift «bildungspolitik» vom Oktober 2019 fest, dass politische Bildung im gymnasialen Schulunterricht nur marginal vertreten sei, und sie plädiert dafür, die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven stärker zu berücksichtigen.
Der Beutelsbacher Konsens
Aspekte politischer Bildung seien in den Kantonen teilweise fachlich verankert, teilweise würden sie als «Element der ‹Schulkultur› oder im überfachlichen Bereich Berücksichtigung finden.» Frau Ziegler hat nichts gegen partizipative Elemente der Schulgestaltung, doch die dabei geförderten Kompetenzen seien kaum solche der politischen Bildung, sondern mehr überfachlicher Natur. Politische Bildung als Schulfach aber ermögliche den Aufbau politischer Kompetenz bei Individuen. Sie solle sich nicht an der Werteerziehung, «sondern an der Wertereflexion orientieren.» So, wie es auch der 1976 in Deutschland vereinbarte Beutelsbacher Konsens meint, der sich auf folgende Prinzipien für das Fach «Politische Bildung» geeinigt hat: Indoktrinationsverbot, Kontroversität und Schülerorientierung.
Für die Autorin ist die Sache klar: Politische Kompetenz werde nur wenig aufgebaut, «wenn die Lehrpersonen nicht selbst in der Didaktik der Politischen Bildung ausgebildet werden. Es lässt sich sogar zuspitzen: Egal, welche Lehrpersonen Politische Bildung unterrichten: Sie müssen dafür ausgebildet werden. Diese Ausbildung muss fachlich und insbesondere fachdidaktisch sein.» Das klingt alles sehr plausibel. Doch es ginge auch anders.
Die Schule zur Polis machen
Halten wir fest: Während gesamtgesellschaftlich Nationalismus, Populismus und Rassismus weltweit grassieren und die hereinbrechende Klimakatastrophe demokratiepolitisch eine enorme Herausforderung darstellt, werden die beiden Schulfächer Geschichte und Geographie, die sich mit eben diesen Themen beschäftigen, in der Volksschule stundenmässig reduziert und in einem neuen Sammelfach zusammengelegt, was zur Folge hat, dass eines der beiden Teilfächer oft fachfremd unterrichtet wird. Gleichzeitig taucht auf der Sek-II-Stufe ein neues Fach namens «Politische Bildung» auf, das aber angesichts der Informatikoffensive an den Gymnasien einen schweren Stand haben wird. In der Logik der Argumentation von Frau Ziegler ist auch absehbar, dass man für die Unterrichtsberechtigung in diesem neuen Fach zwingend ein entsprechendes Zertifikat an einer Pädagogischen Hochschule wird erwerben müssen.
Ich plädiere dafür, dass an der Volksschule Geschichte und Geographie wieder zwei vollwertige Einzelfächer werden und dass an den Gymnasien alle interessierten FachlehrerInnen Politische Bildung unterrichten dürfen, egal, ob sie Französisch, Geschichte oder Informatik studiert haben.
Ich plädiere dafür, dass an der Volksschule Geschichte und Geographie wieder zwei vollwertige Einzelfächer werden und dass an den Gymnasien alle interessierten FachlehrerInnen Politische Bildung unterrichten dürfen, egal, ob sie Französisch, Geschichte oder Informatik studiert haben. Denn alle bringen ja eine didaktische Grundausbildung mit, alle sind es sich gewohnt, variantenreich Fachwissen altersgerecht herunterzubrechen. Das Fachwissen bringen sie in ihrem Selbstverständnis als Citoyen und Citoyenne mit, als StaatsbürgerInnen, die sich für das aktuelle politische Geschehen interessieren. Und es werden sich dabei wohl nur diejenigen KollegInnen an dieses Fach heranwagen, die eh schon eine Affinität zur Politik haben.
Es ist wohl kein Zufall, dass dieses neue Fach weder «Staatsbürgerkunde» noch «Politikwissenschaft» genannt wird. Der Begriff «Politische Bildung» zielt darauf ab, Motivierungshilfe zu einem Engagement in unserer Gesellschaft zu leisten. Wenn wir uns heute um die Welt als Ganzes sorgen müssen, dann sollen auch alle Lehrkräfte, die sich von dieser Besorgnis angesprochen fühlen, mit dazu beitragen, diesen Blick aufs Ganze und aufs beispielhaft Einzelne zu schärfen. Je interdisziplinärer und von der politischen Gesinnung her bunter der Haufen der Engagierten ist, umso besser! Dabei sollte aber möglichst vermieden werden, allzu moralisch belehrend daherzukommen und die Stossrichtung eines möglichen Engagements normativ vorzutragen.
Der Gefahr der Demoralisierung durch die Riesenhaftigkeit der aktuellen Herausforderungen sind sowohl die SchülerInnen wie die Lehrkräfte ausgeliefert. Heute sollen sich die Leute auf der Strasse und die Kinder in der Schule Sorgen machen, die früher einem Aussenminister angestanden hätten, wie es der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk einmal flapsig formuliert hat. Das neue Fach soll probieren, mit kritischer Reflexion eine Richtschnur des Handelns zu formulieren, die aller Konfusionen zum Trotz eine hinreichend starke Orientierung bietet. Dabei ist es nötig und hilfreich, die Jugendlichen, wenn immer möglich, als gleichberechtigte PartnerInnen mit ins Boot zu holen und den Kurs als Team zu gestalten.
In diesem Fach sollten wir mit den Jugendlichen zusammen erlernen, was es heisst, sich in der Gemeinschaft der Schule, des Staates und des Global Village zu engagieren. Wir müssen die Schule zur Polis machen.
Wenn das Fach «Politische Bildung» mehr sein soll als eine Wiederholung der Dringlichkeiten, wie sie etwa in Geographie, Biologie, Geschichte, Wirtschaft und Recht oder Philosophie vermittelt werden, dann geht es vor allem um die Ausgestaltung eines neuen Begriffes von konkreter Solidarität mit universalen Implikationen. In diesem Fach sollten wir mit den Jugendlichen zusammen erlernen, was es heisst, sich in der Gemeinschaft der Schule, des Staates und des Global Village zu engagieren.
Dabei soll es nicht nur um die globalen Herausforderungen gehen, sondern auch um die verhandelbare Ausgestaltung der eigenen Schule und um das Zusammenleben in der eigenen Stadt oder Gemeinde. Der Schaffung von demokratischer Öffentlichkeit kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.
Wir müssen die Schule zur Polis machen, in der man, wie es der Pädagoge Hartmut von Hentig formulierte, «im Kleinen die Versprechungen und Schwierigkeiten der grossen res publica erfährt, sich und seine Ideen erprobt und die wichtigsten Tätigkeiten übt: ein Problem oder Interesse definieren und es öffentlich verhandeln, andere Menschen überzeugen und sich von ihnen überzeugen lassen, Entscheidungen treffen, Zuständigkeiten bestimmen und dergleichen mehr.» Dabei soll es nicht nur um die globalen Herausforderungen gehen, sondern auch um die verhandelbare Ausgestaltung der eigenen Schule und um das Zusammenleben in der eigenen Stadt oder Gemeinde. Der Schaffung von demokratischer Öffentlichkeit kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.