Als ich in den 1950er-Jahren im solothurnischen Schönenwerd zur Schule ging, wohnte in der Nachbarschaft eine Familie mit sechs Kindern. Der Vater war gewöhnlicher Arbeiter in den Bally Schuhfabriken. Mit seinem Einkommen als Alleinverdiener brachte er eine achtköpfige Familie über die Runden. Wie das möglich war, ist mir bis heute unerklärlich. Aber etwas scheint mir doch sehr klar: Einer der Haupttreiber für die viel kritisierte Ökonomisierung der Gesellschaft ist der seither erfolgte Ausbau unseres Gemeinwesens zum allumsorgenden, umverteilenden Wohlfahrtsstaat. In der heutigen Politik dreht sich fast alles primär ums Geld, mehr Geld für diese(s), mehr Geld für jene(s), ja keine Einbussen für andere(s), gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Forderung nach «bezahlbaren» Wohnungen, höheren Renten und so weiter und so fort. Typisch ist auch, dass bei den Forderungen nach «mehr» meistens die anderen bezahlen sollen.
Wir sind alle ökonomisiert
Mit anderen Worten: Unser Leben ist heutzutage ökonomisiert. Für diese Entwicklung gibt es keinen Schuldigen, auf den man mit dem Finger zeigen kann. Wir alle sind mit unseren Wünschen und unserem Verhalten daran beteiligt. Der gängige Vorwurf der Ökonomisierung hat allerdings allzu oft eine ideologische Färbung, weil die Perspektive einseitig auf die Interessen der «Wirtschaft» (was immer damit gemeint ist) bzw. auf deren Gier nach Profit gerichtet ist. Was ist aber mit Arbeitnehmern und Gewerkschaften, die um höhere Löhne kämpfen oder mit Konsumenten, die möglichst tiefe Preise fordern oder gegen Preiserhöhungen (Beispiel SBB-Tarife) protestieren? Denken die dabei nicht auch nur ans Geld? Oder was soll man von den Berechnungen halten, die jüngst beweisen wollten, dass eine Mutterschaft Frauen eine Einkommenseinbusse von 900’000 Franken beschert. Oder was von den Schätzungen, dass ein Kind seine Eltern x Hunderttausend Franken kostet, bis es selber verdient?
Was ist eigentlich mit der Ökonomisierung der Schule gemeint?
Nun trifft die Ökonomisierung offenbar auch die Schule. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Aus verschiedenen Quellen lässt sich in Stichworten folgende Charakterisierung ableiten:
- Die Ansprüche der «Wirtschaft» haben massgebenden Einfluss auf die Bildungsziele, die Unterrichtsmethoden und Instrumente.
- Die Schule soll die Kinder mit der Ausrichtung auf zu erlernende Kompetenzen zu flexiblen Arbeitnehmern ausbilden.
- Die Kinder lernen mehrheitlich individuell selbstgesteuert.
- Standardisierte Leistungsmessungen sollen Schüler, Lehrer und Schulen vergleichbar machen.
- Alle Aktivitäten und Leistungsfortschritte werden pro Schüler akribisch dokumentiert.
- Es herrscht ein Klima von Leistungsdruck und Wettbewerb.
- Die Schulen operieren mit Schulleitungen unter einem Management-Überbau.
- Reformen werden «von oben» den Schulen übergestülpt, und sie entstehen in international horizontal vernetzten, demokratisch nicht legitimierten Netzwerken von Fachbürokratien.
Da ich nicht an der Front als Lehrer tätig bin, kann ich diese Liste schlecht aufgrund konkreter Erfahrungen kritisch abarbeiten. Jedoch möchte ich die Autoren des Condorcet-Blogs, den ich selber unterstützt habe, darauf hinweisen, dass die zitierten Beispiele von Krautz, Bandelt und anderen wenig mit Ökonomisierung zu tun haben. Kompetenzraster, Classroom-walkthrough-Konzepte, Change-Management oder 12-seitige Checklisten zur Unterrichtsbeobachtung haben mit Ökonomisierung oder gar Wirtschaftlichkeit wenig zu tun. Die Unternehmen leiden unter diesen «Steuerungstools» genauso wie die Schulen. Hier sind nicht Wirtschaftlichkeit und Effizienz gefordert, sondern der Nutzen der Anbieter steht im Vordergrund.
Kompetenzraster, Classroom-walkthrough-Konzepte, Change-Management oder 12-seitige Checklisten zur Unterrichtsbeobachtung haben mit Ökonomisierung oder gar Wirtschaftlichkeit wenig zu tun. Die Unternehmen leiden unter diesen «Steuerungstools» genauso wie die Schulen. Hier sind nicht Wirtschaftlichkeit und Effizienz gefordert, sondern der Nutzen der Anbieter steht im Vordergrund.
Die Wahl des Schlagworts «Ökonomisierung» verweist eher auf die ideologisch gefärbte Perspektive der Kritiker (siehe oben). Wenn die Schule heute tatsächlich auf die Interessen der Wirtschaft ausgerichtet wäre, dann müssten von Arbeitgeberseite positive Rückmeldungen über die erlernten Kompetenzen der Schulabsolventen kommen. Mein Eindruck ist, dass eher das Gegenteil der Fall ist, nämlich, dass viele heutige Schulabgänger gerade in den für ein selbstständig bestrittenes Leben wichtigen Grundkompetenzen Lesen, Rechnen, Schreiben nur noch mangelhaft kompetent sind – und zwar bis hinauf in die Hochschulen!
Auch für die Schule gilt das Gesetz der Knappheit der Ressourcen
Ich bin keineswegs ein Anhänger von radikalen Output-Modellen für das Bildungswesen. Aber die Schule darf sich nicht um die Wirkung ihrer Leistungen foutieren. Auch für die Schulen gilt das Gesetz der knappen Ressourcen. Nicht zuletzt die im Condorcet beklagten Fehlinvestitionen in eine offensichtlich missglückte Fremdsprachendidaktik ist im Grunde genommen nichts anderes als ein Output-Argument. Man hätte – konsequent weitergedacht – das Geld gescheiter in ein anderes Lehrmittel investiert. Ich will den Lehrkräften dieses Landes nicht zu nahe treten. Aber wenn 17–20% unserer Schulabgänger nach neun Schuljahren nicht lesen und schreiben können, ist das eine grundsätzliche Herausforderung für ein System, das zurzeit 35 Milliarden Franken pro Jahr an Steuergeldern erhält.
Deshalb halte ich Standards – vernünftig formuliert – auch für Schulen für unverzichtbar und deren Überprüfung ebenfalls. Natürlich haben die PISA-Gegner und Gegnerinnen recht, wenn sie monieren, dass die international ausgerichteten Tests den Bildungsbegriff verengen und teilweise auch pervertieren (teaching for the test). Gar nichts zu tun und einfach «business as usual» zu betreiben, kann aber auch nicht Ziel einer modernen Schule sein.
Ökonomisierung als Bildungsinhalt
Wohl fast alle Schulabgänger verlassen die Schule am Ende der obligatorischen Schulzeit als ökonomische «Analphabeten». Der Lehrplan 21 trat mit dem Anspruch an, die Kenntnisse und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Wirtschaftsfragen endlich zu einem zeitgemässen Level zu verhelfen. Wer hingegen die Kompetenzformulierungen im Wirtschaftskapitel des LP 21 genau studiert, wundert sich darüber, was die Autorinnen und Autoren dort unter Wirtschaft verstehen.
Mit simplifizierten, moralisch aufgeladenen Beurteilungskriterien vermeidet man die Auseinandersetzung mit den typischen Dilemmata ethischen Handelns.
Die Jugendlichen sollen die soziokulturellen Bedingungen des Konsums erkennen und reflektieren. Immer muss auch der Ressourcenverbrauch dahinter verglichen werden. Die Schüler und Schülerinnen sollen die negativen Folgen des Konsums reduzieren, Geschlechtergerechtigkeit beachten und Rohstoffverschleuderung vermeiden lernen. Mit simplifizierten, moralisch aufgeladenen Beurteilungskriterien vermeidet man die Auseinandersetzung mit den typischen Dilemmata ethischen Handelns. Zudem kommt die produktive Seite der Volkswirtschaft, also die Welt der Unternehmen als künftige Arbeitgeber der Jugendlichen, viel zu kurz.
Eine Welt voller Abgründe, mit Soziologendeutsch grell beleuchtet
Den Lernenden wird in Sachen Wirtschaft «eine Welt voller Abgründe präsentiert, mit Soziologendeutsch grell beleuchtet» (Beat Kappeler, Einspruch 1, März 2016). Das hat mit ideologischer Umerziehung mehr zu tun als mit profunder Wirtschaftskunde. Sowohl die praxisfernen Lehrplangestalter wie auch die Bildungsbürokraten täten besser daran, den Schülerinnen und Schülern wichtige Begriffe wie Produktivität, die Wertschöpfung in Firmen des Gewerbes oder das Gesetz von Angebot und Nachfrage zu erläutern. Allein wenn die Kinder die Gesetze der Zinseszinsrechnung wieder beherrschen, wissen sie schon bedeutend mehr als Europas Schuldenpolitiker.
Wir müssen Denkkonzepte fördern
Ich plädiere deshalb für eine anders verstandene Ökonomisierung der Schule. Sie hat zum Ziel, das Verständnis für ökonomische Denkkonzepte zu fördern. Ab welcher Schulstufe das machbar wäre, müssten Experten entscheiden. Dies stünde auch ganz in der Tradition des Denkers, dem dieser Blog verpflichtet ist: keine ideologischen Vorkonzepte liefern, sondern mit den richtigen Tools die Jugendlichen dazu befähigen, die für sie richtigen Urteile und Entscheidungen zu fällen.
Wie man aktuell an der Klimajugend eindrücklich beobachten kann, sind Kinder und Jugendliche anfällig für die Moralisierung von Themen und Problemen. Der abgekürzte Weg der Meinungsbildung über vorschnelle moralische Positionsbezüge ist beliebt, weil bequem. Moralisieren führt aber zu unreflektierten Fehlurteilen, weil die mühsame Beschäftigung mit massgebenden Fakten und wesentlichen Zusammenhängen einfach übersprungen wird.
Ökonomie ist eine empirische Disziplin
Die Ökonomie als Wissenschaft ist eine empirische Disziplin. Jede (ökonomische) Theorie ist zunächst eine Hypothese, die durch möglichst hieb- und stichfeste Daten und Wirkungsnachweise nachvollziehbar bewiesen werden muss. Der Beweis ist so transparent zu führen, dass er anfechtbar (falsifizierbar) bleibt. Durch eine solche Methodik werden zwar Sozialwissenschaften nicht zu exakten Wissenschaften wie die Physik oder die Mathematik. Doch Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Falsifizierbarkeit sorgen dafür, dass sich in der Forschung eine erkenntnisfördernde Dynamik vollzieht. Ein schönes Muster bietet etwa die Entwicklung der Wachstumstheorie.
Die Schweizerische Nationalbank präsentiert eine wirklichkeitsnahe Plattform für die Schulen
Die Schweizerische Nationalbank hat für die Lehrkräfte auf Sekundarschulstufe die sehr gut gemachte Internet-basierte Plattform „iconomix“ entwickelt. An dieser könnte man sich für eine einfachere Stoffvermittlung je nach Schulstufe orientieren. Zu vermittelnde ökonomische Denkkonzepte oder Grunderkenntnisse könnten etwa sein:
- Der «Homo oeconomicus» richtig verstanden: Die Menschen sind und bleiben Nutzenoptimierer, und sie reagieren auf Anreize.
- wie Märkte entstehen und was sie leisten
- die wahren Kosten: die Verzichts- oder Opportunitätskosten
- Knappheit der Mittel und der Zwang zu «trade offs»
- das Problem der unbeabsichtigten Nebenwirkungen
- komparative Kosten und die Vorteile des internationalen Handels
- Ökobilanzen: «buy local» richtig gerechnet
- Allmendegüter: warum Fischgründe (oder die Umwelt) übernutzt werden
- Wer bezahlt, trägt meist nicht die volle Last: das Beispiel der Überwälzung von Umweltabgaben
Ich bin mir bewusst, die Hürden für die Implementierung eines solchen Programms sind zahlreich und hoch. Dennoch bin ich überzeugt, dass Marquis de Condorcet mein Anliegen unterstützt hätte.
Hans Rentsch (1943)
ist promovierter Ökonom (Dr. rer. pol.). Er arbeitete nach dem Studium in verschiedenen Funktionen in der Privatwirtschaft, später als Organisations- und Strategieberater für Firmen im In- und Ausland. Von 2003 bis 2008 war er VR-Präsident der 1998 gegründeten Zürcher Capital-Info.Net AG, Entwickler von Online-Handelssystemen. Parallel dazu leitete er ab 2001 bis 2008 im Auftrag von Avenir Suisse mehrere Projekte und wirkte dort als Autor von Buch- und Medienpublikationen zu den Schwerpunktthemen Wirtschaftswachstum und Institutionen, Unternehmenssteuern und Agrarpolitik. Danach betätigte er sich als freier Wirtschaftspublizist. Im Februar 2017 erschien im Verlag NZZ Libro sein Buch mit dem Titel «Wieviel Markt verträgt die Schweiz?».