Der schwierige Beginn
Als Fremder in ein Kollegium zu kommen, stellte ich mir nicht einfach vor. Dass es aber so schwer werden würde, hatte ich nicht gedacht. Jeder Schritt wurde am Anfang kritisch und auch mit Unsicherheit zur Kenntnis genommen. Wir kannten einander nicht: Das Kollegium wusste nicht, wie berechenbar und zuverlässig der Neue war, ich kannte das Kollegium nicht, keine «Seilschaften», keine vergrabenen «Leichen im Keller», keine wunden Punkte in der gemeinsamen Geschichte.
Ich kannte aber auch die Stärken der einzelnen Leute nicht, ihre Fähigkeiten, ihr Potential, ihr Umfeld, aus dem sie kamen. Irritierend war, dass mich vor Stellenantritt einzelne Lehrkräfte kontaktierten, um «Ihre Dienste» anzubieten. Ich liess aus diesem Grund ein Personalblatt verteilen und hoffte, auf diese Weise mehr über die einzelnen Leute und ihre Fähigkeiten und Stärken erfahren zu können –«Wissenskartei» nannte ich das. Viele Kollegen waren bereit mitzumachen, andere weigerten sich.
Insgesamt dauerte es recht lange, bis ich mir ein genaueres Bild des Kollegiums und der einzelnen Lehrkräfte machen konnte. Zudem vermisste ich schmerzlich das alte Netzwerk, das so wichtig ist in der täglichen Arbeit, und als ich zu einzelnen Institutionen, beispielsweise dem Sozialdienst, den Kontakt suchte und einen regelmässigen Austausch anregte, der auch zustande kam, sahen mich ein paar «Alte» doch sehr seltsam an. Die ersten Monate als Schulleiter waren sehr schwierig, obwohl ich mehr als 30 Jahre Erfahrung als Schulleiter hatte, kam es mir vor, als hätte ich den Job noch nie gemacht.
Das «Problem» Pichard
Bereits vor Stellenantritt machten mich einige darauf aufmerksam, dass Alain Pichard in diesem Kollegium sei, ich solle mir gut überlegen, ob ich dorthin wechseln wolle, es sei dann vielleicht nicht immer einfach. Am Anfang wurde ich vor allem in SL-Konferenz oft darauf angesprochen, ob ich nun die Haltung von Pichard oder die der Schule vertreten würde. Und als es um Einführungsveranstaltungen des LP21 ging, legte man mir einmal sogar nahe, ich möchte auf Alain Pichard einwirken, der öffentlichen Veranstaltung fernzubleiben.
Auch im Kollegium flogen in Konferenzen schon mal die Fetzen: Alain war oft sehr spitzzüngig, was nicht immer auf Gegenliebe stiess. Aber das Kollegium vertrat oft ähnliche Standpunkte, die, wenn ich sie nach aussen vertreten musste, nicht selten als «Haltung Pichard» abgetan wurden.
Ich habe mehrmals darauf hinweisen müssen, dass Alain Pichard seine demokratischen Rechte wahrnehme und sagen dürfe, was und wo er dies wolle – solange er dies als eigene Meinung deklariere. Und wenn das Kollegium eine ähnliche Meinung vertrete in gewissen Fragen, dann sei diese Meinung in einem Prozess zustande gekommen, Alain Pichard sei Mitglied des Kollegiums, und dort habe er seine Argumente dargelegt.
Was ich in den Jahren sehr geschätzt habe, dass Alain Pichard immer transparent war in seiner engagierten Tätigkeit. Gab er zum Beispiel ein Interview, in welchem die Schule erwähnt wurde, informierte er mich immer und fragte, ob dies tragbar sei. Ich denke, dass dank der engagierten schulpolitischen Tätigkeit von Alain Pichard in unserem Kollegium einiges ins Bewusstsein gerückt ist, das sonst kaum wahrgenommen worden wäre.
Mein Verständnis als Schulleiter
Ich denke, ganz wichtig ist es, «sich selbst zu sein». Man kann keine Rolle «Schulleiter» spielen, man muss versuchen zu leben, was man vertritt. Dazu gehört für mich auch Berechenbarkeit. Man muss in den Entscheidungen und Reaktionen berechenbar sein und man muss sich Zeit nehmen, diese Berechenbarkeit aufzubauen – sie muss ja erst an konkreten Fällen entwickelt werden. Zur Funktion gehört auch das Verständnis, dass man «Dienstleister» für das Kollegium ist. Viele Aufgaben müssen im Hintergrund und im Stillen erledigt werden – sie gehören nicht an die grosse Glocke gehängt. Oftmals gehört eine dicke Haut zur Funktion, man muss einiges an sich abprallen lassen können. Man muss auch «filtern» können: Nicht alles, was einem zu Ohren kommt, darf an die Kolleginnen und Kollegen weitergegeben werden. Und notabene Vertrauen: Man muss darauf vertrauen, dass die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit gut machen. Sie brauchen Freiheiten, um sich entwickeln zu können – davon und von der Vielfalt lebt letztlich die Schule. Ich habe diese Eigenschaften, wenn ich gefragt wurde, jeweils zusammengefasst mit meinem «Führungsleitsatz»: «Wenn es Schönwetter ist, stehe ich hinter den Kollegen in der hintersten Reihe, wenn es gewittert und rumort, stehe ich mit dem Regenschirm zuvorderst.»
Die pädagogische Aufsicht
Ich denke, dass dies die heikelste Aufgabe der SL ist. Pädagogik ist keine exakte Wissenschaft, und in einem Kollegium hat es mindestens so viele Meinungen wie Kolleginnen und Kollegen. Und viele dieser Meinungen sollten nicht einfach durch eine Vorgabe oder Aufsicht zunichte gemacht werden, sonst stirbt das Innovative in der Schule und wahrscheinlich auch die Freude am Beruf.
Ich denke, dass die SL keine pädagogische Richtung aufzwingen darf, vielmehr muss sich ein «pädagogischer Konsens», soweit dies möglich ist, im Rahmen des Kollegiums entwickeln. Diesen gilt es zu fördern, und, einmal gefunden, entsprechend zu vertreten. Das braucht in der Regel mehr Zeit, als eine «Pädagogik» vorzugeben, bringt aber Ruhe ins Kollegium, sicher mehr Zufriedenheit für die einzelnen Lehrkräfte und mehr Identifikation mit der Schule. Ausserdem muss der Schulleiter für die methodischen Freiheiten der Lehrkräfte einstehen.
Die Sache mit den unangenehmen Entscheidungen
Entscheide sollten, wenn sie schwierig sind und nicht sofort gefällt werden müssen, abtastend mit dem Kollegium vorbereitet werden, insbesondere in Fragen des Unterrichts. Im Bereich der Verwaltung und Organisation gibt es immer wieder ein paar Entscheide, die nicht immer von allen gutgeheissen werden – man denke zum Beispiel an die Stundenpläne. Wie viele Entscheide dies letztendlich waren, weiss ich nicht – ich denke einige wenige pro Schuljahr.
Wem schulde ich Loyalität? Den Eltern, dem Kollegium oder den Behörden?
Ich denke, dass es oft eine Gratwanderung ist, wenn man Loyalität auf Reformen und den verlängerten Arm der Bildungsverwaltung bezieht. Hier muss die SL moderierend wirken, nicht immer alles sofort weitergeben, ein wenig Zeit vergehen lassen, nicht sämtliche Reformen als Erste umgesetzt haben wollen. Suchen, wo es Spielraum gibt, Spielraum ausnützen und sich nicht beirren lassen.
Wenn sich die Loyalitätsfrage zu oft stellt, dann müsste ich mir überlegen, ob ich den Beruf hätte wechseln müssen.
In Einzelfällen habe ich damit aber kein Problem – wenn zum Beispiel offensichtlich zahlreiche Erfahrungen von älteren Kolleginnen und Kollegen nicht mehr zur aktuellen Schulsituation passen (zum Beispiel Reformen), dann darf, soll man dies auch kundtun oder moderater umsetzen, als es die Obrigkeit wünscht. Das hat in der Vergangenheit schon mal dazu geführt, dass ich nach Bern zitiert wurde.
Pflicht zum Widerstand ist immer dort nötig, wenn zum Beispiel auf die Pädagogik Einfluss genommen werden soll über die Finanzen – indem Budgetposten gekürzt werden. Pflicht zum Widerstand kann es geben bei reglementarischen Fragen, wenn beispielsweise die Ausgestaltung eines Funktionsdiagramms nicht vernünftig oder zeitgemäss ist, allenfalls sogar den gesetzlichen Spielraum nicht ausnützt.
Pflicht zum Widerstand kann auch entstehen in Anstellungsfragen gegenüber der Anstellungsbehörde, wenn diese nicht die Schulleitung ist.
Grundsätzlich muss jedoch, bevor es zum Widerstand kommt, das Gespräch gesucht und versucht werden, eine Lösung zu finden, die den Widerstand gar nicht erst aufkommen lässt – was insbesondere bei Vorgaben durch den Kanton natürlich nur bedingt möglich ist – aber selbst da, in ganz wenigen Fällen, so habe ich es erlebt, lassen sich die «Grenzen» aufweichen.
Urs Guggisberg
Schulleiter des OSZ-Orpund seit 2011, wird nächstes Jahr pensioniert.