Was genau ist der öffentliche Zweck der Schule? Warum investieren die Gemeinden in die Bildung all ihrer Jungen, anstatt die Aufgabe der Bildung einfach den Familien zu überlassen? Wir wissen, dass Eltern Kinder aus einer Vielzahl von Gründen zur Schule schicken. Es gibt aber den sogenannten größeren Zweck – eine Art gemeinsames Ziel –, worüber es sich lohnt, nachzudenken.
Lassen Sie mich meine Hypothese bekräftigen: Das öffentliche Bildungssystem in den USA wurde von Menschen korrumpiert, die von Messungen besessen sind, derart, dass sie die Kinder auf ihre Testergebnisse reduzieren. Seit etwa 40 Jahren erleben wir das nun. Seit 40 Jahren richten sich die meisten Schulreformbemühungen auf Symptome wie niedrige Abschlussraten, niedrige Testergebnisse oder «die Leistungslücken». Aber die Reformen, die alle so grossartig klingen, ja sogar vorübergehend scheinbar zu Verbesserungen führen können, scheitern unweigerlich daran, dass sie die Ursache unserer Bildungsprobleme nicht angehen: ein Verständnis von Bildung, das völlig ökonomisiert ist und die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts nicht erfüllen kann.
Bildungsministerin Betsy DeVos glaubt nicht, dass Schulen einen öffentlichen Zweck haben; ihre Handlungen deuten darauf hin, dass sie denkt, die Bildung eines Kindes liege allein in der Verantwortung der Familie – Ende der Geschichte.
Ich hingegen hoffe immer noch, dass wir uns auch in diesen stark polarisierten Zeiten darauf einigen können, dass der Zweck von Schule darin besteht, amerikanischen Bürgern zu helfen zu wachsen. Betrachten Sie die vier Schlüsselwörter: Hilfe, Wachstum, amerikanisch und Bürger.
«Hilfe»: Schulen werden als Juniorpartner anerkannt. Sie existieren, um zu helfen – nicht um Familien zu ersetzen.
«Wachsen»: Schulbildung ist ein Prozess, er geht manchmal zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Es ist vergleichbar mit einem Familienunternehmen, nicht mit einer börsennotierten Aktiengesellschaft, die durch Quartalsberichte lebt und stirbt.
«Amerikanisch»: E pluribus unum. Wir sind Amerikaner – eine Beobachtung, die es heute zu betonen gilt in Zeiten eines Donald Trump, der vermehrt die Karte des Rassismus als vermeintlichen Trumpf ausspielt.
«Bürger»: Diesen Begriff gilt es, wieder mit Leben zu füllen, und es gilt herauszufinden, was wir eigentlich wollen und wie unsere Kinder zu Erwachsenen werden sollen. Sollen sie gute Eltern und Nachbarn werden? Oder nachdenkliche WählerInnen? Oder zuverlässige Mitarbeiter? Selbstbestimmte Individuen – oder was sonst?
John Merrow
Übersetzung aus dem Englischen: Alain Pichard
In den USA gab es von 1967 bis 1995 das bis heute weltweit größte pädagogische Experiment, an dem die führende Universitäten mit ihren Modellen teilnahmen. Das sogenannte “Project Follow Through (FT)” war ein Bildungsprogramm der US-Regierung für benachteiligte Kinder im Vorschulalter. An der Studie nahmen über 100.000 Schüler in 180 Schulgemeinden teil und die Kosten des Projekts beliefen sich auf rund einer Milliarde Dollars.
Die Auswertung durch das Stanford Research Institute und Abt Associates brachte eine Überraschung für die Eliteuniversitäten. Nur das Modell des Direkten Unterrichts, das vom Vorschullehrer (Preschool) Siegfried Engelmann aus Illinois entwickelt wurde, platzierte sich als Erster im Lesen, Rechnen, Rechtschreibung, Sprache, Grundfertigkeiten, schulisch kognitiven Fähigkeiten und positivem Selbstwertgefühl. Es zeigte als einziges der 22 bewerteten Modelle überall positive Ergebnisse beim 50. Perzentil.
Das Bildungsministerium entschied jedoch 1982, die Finanzen des erfolgreichen Modells zu Gunsten der weniger oder gar nicht erfolgreichen zu kürzen.
Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Project_Follow_Through https://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_Engelmann
Es ist gut, dass ein aufgeschlossener Amerikaner die Frage nach dem Sinn der öffentlichen Schule stellt. In Zeiten, wo jede Schule daran gemessen wird, wie viele ökonomisch nützliche Kompetenzen sie in kürzester Zeit vermitteln kann, werden Grundsatzfragen leicht verdrängt. Bildung bedeutet für John Merrow ein umfassendes Hineinwachsen in grosse kulturelle Errungenschaften. Für ihn sind es “amerikanische” Werte wie beispielsweise Offenheit oder selbstbestimmte Lebensgestaltung. Dass eine im Ansatz ideell geprägte Pädagogik in den USA zurzeit wenig Kredit geniesst, darf kein Grund sein, die Bildung auf Messbares zu beschränken.
Und wie sieht es bei uns aus? Wenn man sieht, mit welcher Hektik und Ungeduld auf rasche Resultate in den Hauptfächern gedrängt wird, ist eine kritische Haltung durchaus angebracht. Der neue Lehrplan verspricht alles zu erfüllen, was vordergründig in unserer Gesellschaft als wesentlich erklärt wird. Souveräne Vielsprachigkeit, meisterlichen Umgang mit der modernen Informatik und überlegene Medienkompetenz zählen dabei zu den Aushängeschildern neuer Bildungsprogramme.
Doch wie steht es um kulturell bedeutende Inhalte aus Geschichte, Jugendliteratur oder Musik, wo kein Interesse an messbaren Erfolgen vorhanden oder das Überprüfen viel zu kompliziert ist? Da wurde abgebaut, weil es ja kaum jemand merkt. Der dadurch entstandene Schaden ist beträchtlich. Im Realienbereich fehlen Zeit und Musse, um für Jugendliche ein Stück Welt ins Schulzimmer zu holen und sie für spannende Themen zu begeistern. Es sind nicht zuletzt bewegende Fragen aus Geschichte und andern “Nebenfächern”, welche die innere Entwicklung von Jugendlichen nachhaltig fördern können. Tun wir dies nicht, verpasst die Schule eine riesige Bildungschance.
Wir haben guten Grund, die zentrale Frage nach dem Zweck unserer Bildung erneut zu stellen.