Das neue Buch von Jürgen Kaube ist keine leichte Kost. Es richtet sich gegen viele pädagogische Gegenwartsüberzeugungen. Eine „Phantasie“ nennt Kaube beispielsweise die Vorstellung, den Unterricht zu individualisieren und Kinder dazu bringen zu können, selbst zu lernen. Ich erlaube mir, den Leserinnen und Lesern des Condorcet-Blogs einen kleinen Ausschnitt vorzustellen. Der Autor schreibt über das “Üben”.
„Doch das Kopfrechnen und andere Routinen stehen bei Didaktikern in keinem guten Ruf. Ja, heißt es, das Kopfrechnen sei unentbehrlich, aber wie solle es denn gestaltet werden? Durch regelmäßiges, zu ‚Automatisierung‘ führendes Üben? Wie das schon klingt, ‚Automatisierung‘. Es schaudert den Didaktiker Günter Krauthausen: ‚Wenn Kinder gehäuft richtige Ergebnisse produzieren, mag man geneigt sein, zur Automatisierung überzugehen mit dem Ziel, verlässliche Reiz-Reaktionsketten aufzubauen. Diese muss es ab einer gewissen Stelle im Lernprozess und bzgl. gewisser Inhalte durchaus geben (zB. Einmaleins, Einpluseins), das Problem ist allerdings der verfrühte Übergang dorthin.‘ Man hört dem sich windenden Geständnis, dass verlässlich richtige Rechnungen ein ziemlich erwünschtes Resultat von elementarem Mathematikunterricht sind, deutlich an, wie ungern es gemacht wird. Man ‚mag geneigt sein‘, etwas an Routinen zu finden, wenn sie zu Ergebnissen führen, auch wenn damit die Freunde des ‚entdeckenden Lernens‘ eine narzisstische Kränkung erfahren. Immerhin, sagt der Didaktiker, ist noch nicht ausgemacht, was alles routinisiert werden soll und wann man zu Routinen übergehen sollte. Es bestehe ‚die Gefahr einer vorschnellen Ablösung von Anschauungs- und Einsichtsprozessen‘ durch Automatisierung. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Es besteht die Gefahr, dass den Schülern zu früh Einsicht, Reflexion und Forschen zugemutet wird. Sie sollen Zahlen verstehen, bevor sie rechnen können. Das war schon der Irrtum der Einführung der Mengenlehre als Vorschule aller Mathematik in den siebziger Jahren. Lernpsychologisch folgt die Routine nicht dem freien Sichaneignen und dem Reflektieren von Stoffen, sie geht ihnen voraus, sie ist eine Voraussetzung für entdeckendes Lernen. Wissen geht Denken voraus, was nicht heißt, dass Wissen ein Selbstzweck und der Sinn der Veranstaltung Schule ist. Aber es heißt: Ohne sichere Division fängt das Denken gar nicht an.“ (S. 143f)
Außer diejenigen, die sich begnügen, in einer „Wissenschafts“-Blase ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, kommt um dieses Buch kein denkender Mitbürger herum.
Ralf Wiechmann, Jahrgang 1972, Wohnort: Wolfratshausen – Deutschland, Beruf: Schulleiter und Lehrer für Mathematik, Physik und Philosophie, Mitgliedschaften: Gesellschaft für Bildung und Wissen; Verein für Begabungsförderung Mathematik
Ja, so ist es, wie in dem Ausschnitt dargestellt. E. Perret machte mich auf das Buch von Christoph Türcke ‘Lehrerdämmerung’ aufmerksam. Untertitel: Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet. Da ist die Stossrichtung wohl dieselbe. Könnte sein, dass sich jetzt Bücher durchzusetzen beginnen, die den Finger schonungslos dahin setzen, was in der heutigen Schullandschaft, insbesondere in Deutschland, verquer läuft. Gibt es solche Bücher bzw. Veröffentlichungen auch aus der (Deutsch-)Schweiz?