Kritik an Studierenden

“Die Selbstüberschätzer sind die Hölle”

Unorganisiert, faul, fordernd: Zümrüt Gülbay-Peischard, Professorin für Wirtschaftsrecht, macht ihrem Ärger über die aus ihrer Sicht schwindende Leistungsbereitschaft von Studierenden Luft – und spricht über die Verantwortung der Eltern. Ein Beitrag, der zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erschienen ist.

FAZ: Frau Gülbay-Peischard, Sie sind Professorin für Wirtschaftsrecht an der Hochschule Anhalt und gehen mit einem Drittel der Studierenden hart ins Gericht. In Ihrem Buch “Akadämlich” unterscheiden Sie verschiedene Gruppen. Welche?

Zümrüt Gülbay-Peischard: Die erste Gruppe hat eine große Selbstüberschätzung und denkt, sie bringe für ein Studium die notwendigen Fähigkeiten mit, die ist die Hölle. Sie ist nicht bereit, ihre Arbeitsweise zu reflektieren und zu verbessern. Die zweite Gruppe beginnt zu studieren und hat keine Ahnung, worauf sie sich einlässt, ist aber ausbaufähig und erst mal willig. Die kleinste, dritte Gruppe ist tatsächlich mit dem Instrumentarium bestückt und reif für ein Studium, die macht uns Professoren Spaß.

Sie sind im Berliner Wedding aufgewachsen und hatten als Gastarbeiterkind keinen leichten Start ins akademische Leben. Ihre Eltern leisteten Schicht- und Akkordarbeit.

Wir vier Mädchen waren viel auf uns gestellt. Mit der Schule sind wir einmal in die Bücherei gegangen, die lag 250 Meter weg von unserer Wohnung. Lesen war dann meine Rettung.

Zümrüt Gülbay-Peischard, Professorin an der Hochschule Anhalt (Bild: Die Hoffotografen)
Sie berichten offen, dass Sie andere, behütete Kinder beneidet haben.

Und zwar innig. Aber das weckte meinen Ehrgeiz. Was meinen Sie, wie ich mir damals gewünscht habe, im Internat groß zu werden und mich nur aufs Lesen und Lernen zu konzentrieren.

Sie bezeichnen sich als “mediterrane Preußin”, haben als Schülerin Nachhilfe für fünf D-Mark in der Stunde gegeben, sich ihr Studium in einer Jeansboutique verdient. Kein Wunder, dass Sie eine lässige Haltung provoziert.

Viele Studierende haben wirklich ein Organisationsproblem, überhaupt anwesend zu sein. Oft hat Privates Priorität. Es gibt 15 Wochen denselben Stundenplan, dann erscheint jemand nicht zur Vorlesung mit dem Hinweis, “heute wird unser Sofa geliefert”. Diese Arbeitshaltung kritisiere ich.

Und die Einstellung ärgert Sie gewaltig.
Studieren ist anstrengend. Dazu gehört eine gewisse Leidensbereitschaft. Es kann nicht sein, dass sich in Prüfungsphasen bis zu 30 Prozent krankmelden. Ich sage dann: Das Studium ist Ihr Job! Auch ein Arbeitnehmer muss neben seinen 40 Arbeitsstunden alles unterbringen. Fleiß hat auch etwas mit Geisteshaltung zu tun. Wenn eine Studentin ihre Bachelorarbeit nicht abgibt, weil ihre Katze gestorben ist, fehlt mir dafür das Verständnis.
Was ist mit all jenen, die nebenher jobben müssen, um sich das Studium überhaupt leisten zu können.

Viele Jobs finden abends oder am Wochenende statt. Dagegen ist nichts zu sagen. Ich erlebe aber, dass von dem Geld 400-Euro-Sneaker gekauft werden. Das Studium ist aber nicht der Zeitpunkt, um sich Konsumwünsche zu erfüllen und mit besser Begüterten mitzuhalten. Sie verstehen diese Vorinvestition nicht: Ich kümmere mich erst mal um mein Studium, um mir später Lebensluxus erfüllen zu können. Am Anfang habe ich mir selbst wenig geleistet. Nebenbei, kleine Hochschulen bieten große Vorteile. Es muss nicht die teure Großstadt sein.

Auch das Lernen läuft in Ihrer Wahrnehmung nicht glatt. Sie sprechen von Lernbulimie.

Ich erlebe viel strukturloses Lernen. Nachhaltiges Lernen haben manche nicht drauf. Mein Tipp ist langweilig. Ich rate zu den zwei “R”: Rechtzeitig und regelmäßig lernen bringt den Lernstoff vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis.

Werden Sie denn erhört?

Selten. Ein Argument fällt oft – das Gelernte brauche ich nicht für die Praxis. Das ist falsch. Bildung an sich ist ein Zweck. Ich sage dann: Wie großartig ist es denn, dem anderen etwas erklären zu können, und wenn man “nur” Telefonjoker bei Günther Jauch wird. Ich sehe die Diskrepanz zwischen Work und Life nicht und sage, wenn ihr mittelmäßige Leistungen bringt, werdet ihr mittelmäßige Jobs haben. Bildung bedeutet, geistige Grenzen zu verschieben.

Ursula Kals, Wirtschaftsredakteurin bei der FAZ
Nach Ihrer Beobachtung liegt viel im Argen, von der Rechtschreibung bis zur Allgemeinbildung

Sprache fehlt, die Fähigkeit fehlt, konzentriert umfassend Texte zu lesen und zu begreifen. Die Rechtschreibung ist ein Trümmerhaufen. In der Allgemeinbildung gibt es große Lücken. Den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme zu kennen, gehört für mich zur Bürgerbildungspflicht. Viele kennen ihn nicht.

Ich nenne meine Compliance-Regeln, zum Beispiel: “Kein Essen in der Vorlesung, Sie werden 90 Minuten ohne Nahrung auskommen.”

Verstörend-lustig lesen sich in Ihrem Buch Ihre Schilderungen über rustikale Umgangsformen.

Mail an “Hallo Prof”, mein Name wird oft falsch geschrieben, unpünktliches Erscheinen, Brötchenmampfen im Seminar, Smartphone ständig im Blick, die “Geduld” eines Kleinkindes haben, das erlebe ich. Einer wollte, dass ich für 60 andere die Vorlesung verlege, weil er parallel ein Willkommens-Meeting hatte. Hochschulen sollen auf die Welt draußen vorbereiten. Absurderweise entwickeln Studierende eine hohe Sensibilität, wie man mit ihnen umgehen soll. Das passt nicht zusammen mit dem eigenen Verhalten.

Wie reagieren Sie dann?

Ich nenne meine Compliance-Regeln, zum Beispiel: “Kein Essen in der Vorlesung, Sie werden 90 Minuten ohne Nahrung auskommen.” Und ich erkläre, was unbedachte Worte auslösen und dass sie von mir nicht 24 Stunden Erreichbarkeit erwarten können. Als kürzlich einer meine Vorlesung verlassen hat, habe ich eine Entschuldigung gefordert und gesagt: “Ich lasse mich von Ihnen nicht wie Netflix abschalten.”

Warum ist es um Höflichkeit so schlecht bestellt? Haben Sie eine Erklärung?

Höflichkeit wird von vielen als unnötiger Ballast, als oberflächlich abgetan. Ihnen ist nicht klar, wie viel angemessene Kommunikation mit inneren Werten zu tun hat. Ich erlebe nicht ausreichend Respekt und auch Demut.

Demut?

Wir haben in Deutschland ein Bildungssystem, das weitgehend kostenfrei ist. Um die Hochschulausbildung zu finanzieren, zahlen Menschen Steuern. Nur so können wir uns das leisten. Ihr dürft also dankbar sein, an der Hochschule lernen zu dürfen. Eine akademische Ausbildung ist ein Privileg.

Ein Beispiel von Ihnen hat mich besonders unangenehm berührt, eine Washington-New-York-Exkursion.

Ein Kollege und ich haben für Studierende eine Woche organisiert mit vielen exklusiven Events, Kanzleibesuchen, Supreme Court, Kongress, Handelskammer, ein volles Programm für 780 Euro inklusive Flug, Hotel und Touren. Als Feedback kam Kritik an der Übernachtung zu viert in Zwei-Zimmer-Miniapartments. Der Wert der Reise hatte sich den Studierenden nicht erschlossen. Schade. (Sie lacht, wie so oft im Interview, diesmal wirkt es angestrengt.)

Kaffeerunden, Meetings, nachmittags wird die Akte angeguckt, Feierabend-Drink. In Akten blättern, im Café abhängen – gegen solche naiven Vorstellungen und Klischees kämpfe ich an. Da wird repräsentiert, nicht malocht.

Stellen wir die Schuldfrage – Erziehung, zweifelhafte Vorbilder?

Kinder werden überbehütet, ihnen werden keine Grenzen gesetzt und Hindernisse aus dem Weg geräumt. Curling-Eltern nennt das eine befreundete Grundschullehrerin. Die tauchen leider auch an der Uni auf. Kindern alles abzunehmen, ist der falsche Weg. Sie müssen sich durchbeißen. Ist ein Kind schlecht in Mathe, bekommt es Nachhilfe, aber ich debattiere nicht mit dem Lehrer über die Fünf. Scheitern solche Kinder, fehlt ihnen die Reflexion über die Gründe. Auch daran liegt es, dass manche eine Anspruchshaltung gegenüber der Hochschule haben wie bei einem Reiseveranstalter.

Und die Schule, versagt die?

Das erlebe ich anders. Denen gelingt mehr, als man glaubt. Nach meiner Einschätzung sind 80 Prozent der Lehrer sehr engagiert. Wer viel verdirbt, sind die Eltern. Sie beklagen sich im Chat, wenn wegen Krankheit Unterricht ausfällt, reden schlecht über Lehrer. Das gibt es bei uns zu Hause nicht. Ganz wichtig: Kindern zu vermitteln, ihr seid bei mir zu Hause die Nummer eins, aber draußen müsst ihr euch euren Platz verdienen.

Social Media trägt zu einer Realitätsverzerrung bei. Welche Folgen hat das?

Junge Leute entwickeln ein völlig falsches Bild der Arbeitswelt. Ärzte ziehen nur in Gefolgschaft über den Flur. Kaffeerunden, Meetings, nachmittags wird die Akte angeguckt, Feierabend-Drink. In Akten blättern, im Café abhängen – gegen solche naiven Vorstellungen und Klischees kämpfe ich an. Da wird repräsentiert, nicht malocht. In Kanzleien, die ich kenne, werden zwar tolle Anzüge getragen, aber unzählige Stunden gearbeitet.

Die Welt wird unübersichtlicher, wie finden Abiturienten ihren Weg?

Das ist alles andere als leicht. Studien- und Berufswahl basieren oft auf einem Zufall, weil die Mutter Juristin ist, wird die Tochter das auch. Ich bin für ein Soziales Jahr nach dem Abitur oder für ein Orientierungsjahr, mindestens ein Orientierungssemester, um möglichst viele Richtungen kennenzulernen: Ökotrophologie, Wirtschaftsrecht, Immobilienbewertung, dann höre ich mir mal eine Vorlesung über Staudenkunde oder diätische Küche an. Und manche können erkennen, dass eine Ausbildung für sie der bessere Weg ist. Die Studienberatung kann das nicht abdecken.

Warum leiden Sie so unter der Bildungsmisere?

Ich lehre seit 62 Semestern und halte Bildung für das demokratischste Mittel für den Aufstieg. Bildung soll man genießen, ich will nicht als Spaßbremse unterwegs sein, obwohl mich meine Töchter manchmal “Streberin” nennen. (Lacht.) Das können Eltern, die wenig Geld haben, ihren Kindern mitgeben: Bildung ist euer Weg, etwas anderes können wir euch nicht mitgeben. Das funktioniert, auch wenn man nicht die hellste Kerze auf der Torte ist.

Sie skizzieren drei Konsequenzen für unsere Gesellschaft. Welche?

Erstens demotiviertes Lehr- und Erziehungspersonal, zweitens immer bessere Noten für schlechter werdende Leistungen – denn schlechte Noten bedeuten Konflikte – und drittens immer mehr ungeeignete Studierende, überbewertete Kinder, die an Hochschulen stranden.

Sie teilen ordentlich aus, haben Sie keine Angst vor Shitstorms?

Ich möchte kein Bashing betreiben, selbst wenn mir das unterstellt wird. Mir geht es um eine ehrliche Auseinandersetzung, einem fairen Streitgespräch stelle ich mich gerne. Bisher erhalte ich viel Zustimmung. Kollegen und Arbeitgeber sind froh, dass ich das Tabu benenne. Im ganzen Land gibt es Gesprächsbedarf.

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3 Kommentare

  1. Von der Studierfähigkeit an Fachhochschulen hört man insgesamt wenig, was die im Artikel angesprochenen Probleme betrifft. Dort kann man auch ohne die “offizielle” Hochschulreife studieren, es genügt eben die “Fachhochschulreife” (das Schweizer Äquivalent heißt — so lese ich — Berufsmaturität).
    So nebenbei widerlegt der Artikel auch das oft vorgetragene Jammern, dass Gastarbeiterkinder in Deutschland keine Bildungschancen hatten, wenn ihre Eltern keine höhere Bildung und/oder Deutschkenntnisse mitbrachten. Offenbar gab es Chancen, sonst hätte nicht aus der Tochter türkischer Gastarbeiter eine Professorin werden können. Dass das dann kein Spaziergang ist, liegt auf der Hand. Mit Bequemlichkeitseinstellungen wurden auch andere keine Professoren. Das aktive Lesen mit Büchern aus der Volksbücherei war gewiss wichtig, aber das darf jeder.

  2. …und vor paar Tagen dies:


    “Elitenförderung” – Bundesschülerkonferenz klagt über zu schweres Mathe-Abitur

    Was soll man dazu noch sagen? Eine der Einschätzungen ist wohl falsch. Nämlich die von mir zitierte Einschätzung zum Mathe-Abitur.

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