Die hier beschriebene Schulform liegt voll im Trend, wird von Schulleitungen, Behörden und dem LCH wohlwollend gefördert und von den Medien gefeiert. Denn genau so muss die verkrustete Schule auf Zukunft getrimmt werden. Und den Kritikern zum Trotz: Es funktioniert! Die Kinder sind glücklich, die Eltern zufrieden, eine Win-Win-Situation. Ein Beispiel, das nachzuahmen wäre.
Eine Erfolgsgeschichte?
Tatsächlich? Der Erfolgsbeweis wäre zu erbringen. Die abnehmenden Sekundarschulen müssten bestätigen, dass die derart vorbereiteten Kinder denjenigen aus traditionell ausgerichteten Klassen punkto Motivation, Lerntechnik, Selbstständigkeit, Fach- und Sozialkompetenz überlegen oder zumindest ebenbürtig sind.
Davon liest und hört man allerdings wenig. Die alternative Schule ist jeweils gut für einen Medienhype. Eine Evaluation müsste die Kinder aus solchen Klassen jedoch weiter begleiten und festhalten, inwiefern sich das Konzept langfristig bewährt. Die Basler Schulreform der Neunzigerjahre lehrt, dass solche Evaluationen wenig erfreulich ausfallen und ganz schnell in den tiefen Schubladen der Erziehungsdepartemente verschwinden. Samt den gescheiterten Reformkonzepten.
Es scheint ein Kontinuum der Pädagogik zu sein: Die bestehende Schule weist Ungereimtheiten auf: Klagen der Abnehmenden über fachliche Mängel, unbefriedigende PISA-Resultate, zu wenige Gymnasiasten aus ökonomisch schwächeren Kreisen, mangelnde Disziplin im Klassenzimmer, usw.
Sofort sind die Heilsprediger zur Stelle, die Abhilfe versprechen und wissen, woran es liegt, dass es nicht funktioniert. Ihr Rezept: Keine Noten, sondern Berichte und Gespräche, keine Hausaufgaben, keine Selektion, selbstorganisiertes Lernen, altersübergreifende Einheiten, Lehrpersonen nicht als Vermittler, sondern als Berater (Coach), Kompetenzen statt Wissen, integrative Schule, Frühfremdsprachen, usw.
Schulreformen in Zyklen
Das Ganze spielt sich in Zyklen ab. Entsprechend den revolutionären Ideen wird die Schule umgekrempelt. Probleme stellen sich ein, Eltern proben den Aufstand. Evaluationen ergeben schwerwiegende Nachteile, standardisierte Prüfungen weisen auf gravierende Mängel.
Kurzum: In aller Stille wird zurückbuchstabiert. “Wir machen jetzt einen Schritt zurück, damit wir später – unter besseren Voraussetzungen – zwei Schritte vorwärts machen können.”, verteidigte 2003 der Chefbeamte des Erziehungsdepartementes Basel nach nur fünf Jahren Basler Gesamtschule die Wiedereinführung der Selektion.
Das ist wenige Jahre später bereits vergessen. Man beklagt erneut die Missstände, und der Zyklus beginnt von neuem. Eine neue Generation Kolleginnen und Kollegen holt dieselben alten Reformideen wieder hervor und probiert sie mit Feuereifer aus.
Wer die Basler Schulgeschichte der letzten dreissig Jahre kennt, wird sofort bemerken, dass das Konzept der Gotthelf-Klasse sehr nahe an demjenigen der Orientierungsschule der Neunzigerjahre verortet werden kann. Eine Schule, die bereits nach 17 Jahren Schiffbruch erlitten hat und der helvetischen Strukturänderung zum Opfer fiel.
Furor pädagogicus
Woher stammt dieser Glaube, Schule von Grund auf verändern zu müssen, woher die Faszination, die Schulprojekte wie dasjenige der Primarschule Gotthelf in den Medien auslösen? Wie lässt sich erklären, dass es immer wieder Lehrpersonen gibt, die in sich ein Sendungsbewusstsein spüren, Unterricht in einer anderen Weise organisieren zu müssen, als die bestehende Schule vorzeichnet? Und dies, obwohl die Schulgeschichte der letzten 50 Jahre genügend abschreckende Beispiele anführen kann?
Die Stärke der Überzeugung gemahnt an den Fundamentalismus der unbeirrbaren Glaubensboten, die ihre Religion auch unter widrigsten Umständen den wilden Horden – oft unter Einsatz ihres Lebens – aufgedrängt haben oder als Märtyrer dafür gestorben sind.
Wer den Beruf des Lehrers/der Lehrerin ergreift, tut dies aus unterschiedlichen Motiven: Mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, eine bessere gesellschaftliche Zukunft herbeiführen, Kinder bestmöglich fördern, es besser machen als seine eigenen früheren Lehrpersonen, Fachwissen weitergeben, eine gesicherte Stellung erlangen.
These 1: Realitätsschock
Jeder dieser Berufsgründe birgt das Risiko, dass es durch die Konfrontation mit der realen Schulsituation aus Sicht der Unterrichtenden zu einem Realitätsschock kommt. Mit seinen hehren Zielen stösst man zunächst einmal auf Beton. Wie reagieren?
Der Leidensdruck kann bei bestimmten psychologischen Voraussetzungen dazu führen, dass Energie frei wird, sich nicht an die Gegebenheiten anzupassen, sondern als beste Lösung zu sehen, die Gegebenheiten grundlegend zu verändern.
These 2: Erlöserinstinkt
Bei einigen erwacht der Erlöserinstinkt. Menschen dieses Schlages fühlen instinktiv, dass es nicht damit getan ist, innerhalb der bestehenden Struktur horizontale Lösungen zu suchen und anzubieten. Nur eine allgemeine Umgestaltung, geleitet von einer vertikal einfliessenden Vision, vermag Rettung aus der Misere zu bringen.
Mit dieser Einstellung einher geht meist eine bewundernswerte Entschlusskraft, seine Ideen auch gegen Widerstände und Kritik durchzusetzen. Die Stärke der Überzeugung gemahnt an den Fundamentalismus der unbeirrbaren Glaubensboten, die ihre Religion auch unter widrigsten Umständen den wilden Horden – oft unter Einsatz ihres Lebens – aufgedrängt haben oder als Märtyrer dafür gestorben sind. Argumenten, die zur Vorsicht mahnen, sind sie nicht zugänglich.
These 3: Fehlende Rationalität
Die Reformideen speisen sich aus unterschiedlichen weltanschaulich-politischen, psychologischen und soziologischen Quellen: Chancengleichheit, Emanzipation, extrinsische versus intrinsische Motivation, Diskriminierungsverbot, Kreativität, usw.
Den Reformideen mangelt es häufig an Rationalität. Der Bezug der Schule zu ihrem verfassungsmässigen Auftrag, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen der Lernpsychologie und zur Lebenswirklichkeit wird gerne ideologisch umgedeutet, damit die Ideen den modischen Vorlieben und politischen Überzeugungen der Reformer entsprechen. Dies führt zu Widersprüchen, die mitgetragen und an spätere Schulstufen oder Lehranstalten weitergereicht werden.
Als Beispiele mögen zwei Mantras der Reformwütigen gelten. “Schreiben nach Gehör” sollte den Kindern kreatives Schreiben ermöglichen, ohne dass sie sich Gedanken über die Rechtschreibung machen müssten. Dadurch prägten sich Fehlschreibungen ein, die später kaum mehr zu korrigieren waren und sich bis zu Masterarbeiten an Fachhochschulen oder Universitäten erhielten. Die Fehlüberlegung hier: Erstprägungen werden in ihrer langzeit-gedächtnisbildenden Wirkung unterschätzt.
Ein weiteres Beispiel ist die These von der schädlichen extrinsischen Motivation. Dazu der Psychologieprofessor Lothar Schmidt-Atzert: “Die Dichotomie extrinsisch-intrinsisch ist künstlich. Im konkreten Fall ist es sinnvoll, von einem Kontinuum von völlig intrinsisch bis völlig extrinsisch motiviert auszugehen…Die Annahme eines Kontinuums impliziert, dass die Gesamtmotivation für ein Verhalten … nur zum Teil auf innere Faktoren … zurückgeführt werden kann.” (2)
Utopie und Realität
Es ist dieser Wunsch nach Erlösung und der Reiz der Schul-Utopia, die Reformexperimente wie dasjenige der Primarschule Gotthelf so verlockend machen.
Jetzt müssen nur alle diesen Weg einschlagen, um von den Segnungen profitieren zu können. Diesen moralischen Imperativ vermitteln jedenfalls Medienberichte wie der oben angeführte.
Ob die Alten Lehrer oder Coach heissen, ist eine reine Spitzfindigkeit, die von der natürlichen hierarchischen Abhängigkeit ablenken soll. Wichtig ist, dass die Instruktion und die Korrektur der Irrtümer im direkten Kontakt erfolgen.
Ein medizinischer Vergleich sei erlaubt: Nach fünfundzwanzigjähriger Forschung scheint der Durchbruch bei der Behandlung von Alzheimer in Griffnähe. Allerdings zeigen die klinischen Tests, dass man sich zu früh gefreut hat: Die Mittel wirken nicht bei allen Patienten, sie wirken nur im Frühstadium, schieben den geistigen Zerfall bestenfalls um wenige Monate hinaus und weisen unerwünschte Nebenwirkungen auf.
Wunder sind auch bei Schulexperimenten nicht zu erwarten. Es gibt anthropologisch-biologische Konstanten, gleichsam Naturgesetze, denen Schule nicht ausweichen kann. Oben wurden bereits zwei beliebte Irrtümer erwähnt. Hier zwei weitere Beispiele:
- Richtig ist: Jedes Lernen erfolgt autonom. Aber: Auch in der Tierwelt müssen die Alten den Jungen vermitteln, wie es geht, und sie in direktem Kontakt anleiten. Ob die Alten Lehrer oder Coach heissen, ist eine reine Spitzfindigkeit, die von der natürlichen hierarchischen Abhängigkeit ablenken soll. Wichtig ist, dass die Instruktion und die Korrektur der Irrtümer im direkten Kontakt erfolgen. Vermittlung, Unterricht braucht beides: Instruktion und autonomen Nachvollzug.
- Zum Lernen gehört die Eruierung des Fortschritts. Dieser Fortschritt lässt sich am einfachsten und schnellsten innerhalb einer Skala ermessen, die den erreichten Stand zwischen Null und dem möglichen Maximum verzeichnet. Dazu sind Noten (oder Prozentzahlen) nützlich. Wortberichte können im besten Fall den Fortschritt inhaltlich charakterisieren, jedoch nicht angeben, wo man innerhalb der Bandbreite des Leistungsspektrums steht. Das jedoch ist sowohl für Lernende als auch für Aussenstehende eine unerlässliche Information.
(1) Basler Zeitung, 25.10. 2024, Sebastian Schanzer.
(2) Lothar Schmidt-Atzert, Leistungsrelevante Rahmenbedingungen/ Leistungsmotivation, in Karl Schweizer, Leistung und Leistungsdiagnostik, Heidelberg 2006.