Schlussprüfungen – ein entbehrliches Ritual?
Die temporäre Aussetzung der Abschlussprüfungen an Gymnasien während der Coronapandemie führte damals zu einer landesweiten Diskussion über deren Sinn und Zweck. Ist es denkbar, künftig ganz auf sie zu verzichten? Aus den Reihen der Gymnasiallehrkräfte ertönte damals ein eindeutiges «Nein» – mit der Begründung, dass die Maturitätsprüfung eine wesentliche Rolle für die Messung des Bildungserfolgs spiele. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hält eine objektive und faire Bestimmung der Leistung der Lernenden der gewerblich-industriellen Berufsfachschulen (60% der Jugendlichen wählen diesen Bildungsweg) am Ende der Ausbildung jedoch für «nicht mehr zeitgemäss» und will die Schlussprüfungen abschaffen – wie aktuelle Reformen dies aufzeigen.
Die Meinung des SBFI stösst auf Unverständnis derjenigen Lehrpersonen, welche die Konsequenzen einer Abschaffung der Abschlussprüfung ermessen können. Die Gegenwehr in der Lehrerschaft und Politik fällt dementsprechend heftig aus, wie die zurückliegende Vernehmlassung zur Reform «Allgemeinbildung 2030» aufzeigt: Die Mehrheit der Kantone, Ausbildungsverbände und Parteien lehnen das Vorhaben ab. Das SBFI hält bisher unbeirrt am Kurs fest. Dass unbegründete Reformvorhaben jedoch auch scheitern können, zeigt ein aktuelles Beispiel: Die Mehrheit der Delegierten des Schweizerischen Elektroverbandes EIT.swiss entschied sich im Juni 2024 mit 104 von 134 Delegiertenstimmen, dass das Qualifikationsverfahren Montage-Elektriker:in EFZ weiterhin mit schriftlicher Berufskunde-Prüfung erfolgen soll. Der neue Bildungserlass des SBFI sah eine Abschaffung vor.
Vereinfachung der Qualifikationsverfahren aus Kostengründen
Woher stammt die Idee, dass Schlussprüfungen im Berufsbildungssystem nicht mehr «zeitgemäss» sind, auf anderen Bildungsstufen hingegen schon?
Erstmals ist in einer durch das SBFI in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2018 zu lesen, dass die Qualifikationsverfahren in einem verbundpartnerschaftlichen Projekt vereinfacht werden sollen. Als Grundlage liess das SBFI in Absprache mit der Schweizerischen Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) eine Kostenanalyse durch die Firma «Volkswirtschaftliche Beratung AG» erstellen. Die Vereinfachung ist also nicht primär mit pädagogischen Absichten verknüpft, sondern mit finanziellen.
Die von den Kantonen zu tragenden Kosten liegen gemäss Studie bei durchschnittlich 1650 CHF pro Prüfungskandidat:in. Die jährlichen Kosten der QV für die Kantone liegen insgesamt bei rund 110 Mio. CHF (2016). Den Hauptteil der Kosten machen die Expertenent- schädigungen aus, die Erstellung der schriftlichen Abschlussprüfungen nur rund 2%.
Vorhaben ohne Begründung und Empirie
Die Grundlage der Reform des Fachs Allgemeinbildung bildete ein 129-seitiger Bericht einer Beratungsfirma namens «INTERFACE». Diese Firma evaluierte das Fach und begleitete die Reform. Aufgrund einer nicht öffentlich zugänglichen Studie wurde im Bericht das Qualifikationsverfahren als «nicht mehr zeitgemäss» deklariert und der Begleitgruppe der Reform der komplette Wegfall vorgeschlagen – die Diskussion fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der auf dieser Empfehlung (notabene einer privaten Firma, die Folgeaufträge braucht) beruhende Beschluss musste von der im selben Jahr gegründeten Tripartiten Berufsbildungskonferenz (TBBK), die seit Beginn des Jahres 2021 für die strategische Steuerung der Berufsbildung zuständig ist, abgesegnet werden.
In der ersten Sitzung der TBBK im Februar 2021 wurde die „Optimierung der Finanzierung der Qualifikationsverfahren“ als eines ihrer drei Hauptziele formuliert. Wird also auch mit der Abschaffung der Schlussprüfung im Fach Allgemeinbildung ein Sparziel verfolgt? Das erscheint fraglich, da das Sparpotenzial minimal wäre und die Kosten sogar steigen könnten, weil als Ersatz Prüfungsgespräche mit Präsentationen vorgesehen sind, die zwei Lehrpersonen zur Bewertung erfordern. Eine Schätzung der Einsparungen respektive Mehrkosten ist ohne Insiderwissen nicht möglich. Öffentlich einsehbar sind aber folgende Zahlen aus dem Jahr 2024: Der Bildungsetat ist im Kanton Zürich mit 5,6 Milliarden Franken budgetiert, die Gesamtkosten der Qualifikationsverfahren (von denen die Allgemeinbildung einen kleinen Teil ausmacht) aller Berufe wird für den Kanton Zürich aktuell etwa mit 28 Millionen veranschlagt.
Das Vorhaben bleibt bis heute ein Mysterium, da in den Vernehmlassungsdokumenten des Bundes die Abschaffung der Schlussprüfung nicht begründet wird. Nicht verwunderlich also, dass es zu diesem Thema auf politischer Ebene bereits zwei Interpellationen und eine Anfrage an den Bundesrat zu verzeichnen gibt. Die bisherigen Antworten des Bundesrats lassen erkennen: Es fehlt die empirische Grundlage für diesen Entscheid. Dieser Missstand lässt sich dadurch erklären, dass das SBFI aus Zeitgründen zum Reformbeginn auf ein umfassendes Forschungsvorhaben verzichtete und der 129-seitige Bericht «Review Allgemeinbildung 2030 in der beruflichen Grundbildung» das Forschungsinteresse somit lediglich darstellt.
Bedeutung des Fachs «Allgemeinbildung» für das lebenslange Lernen
Mit Erhalt des Fähigkeitszeugnisses sollten Absolventen einer Berufslehre für die Gesellschaft, und die Arbeitswelt vorbereitet sein – ein unbestrittenes Ziel. Bezogen auf die Fähigkeit für lebenslanges Lernen bildet das Fach «Allgemeinbildung» in der beruflichen Grundbildung dafür den Kern der Bildungsziele, wie sie dem Berufsbildungsgesetz (BBG) in Art. 3 zu entnehmen sind:
Lernenden soll «die berufliche und persönliche Entfaltung und die Integration in die Gesellschaft» ermöglicht werden. Und weiter steht in Art. 15 (BBG): Die berufliche Grundbildung umfasse «insbesondere die Vermittlung und den Erwerb der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Kenntnisse und Fähigkeiten, welche die Lernenden dazu befähigen, zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen». Aufgrund der Wichtigkeit dieses Fachs beträgt der Anteil am EFZ-Zeugnis 20%. Die Bedeutung der Allgemeinbildung wird den Lernenden meistens erst nach Abschluss der Berufsausbildung klar – ohne Schlussprüfung können sie dieses Fach aber nicht mehr ernst nehmen. So heisst es denn auch im «Trendbericht 6» zu einer Studie der Qualifikationsverfahren des Schweizerischen Observatoriums für Berufsbildung aus dem Jahr 2024: «Ein Verzicht auf schriftliche Prüfungen könnte jedoch die Bedeutung des Fachs Allgemeinbildung in den Augen der Lernenden herabsetzen und den Anreiz zum Lernen schwächen.»
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen von Maturitätsprüfungen des emeritierten Professors Dr. Franz Eberle ist bekannt, dass Noten von externen Abschlussprüfungen in Bezug auf die Studierfähigkeit prognosevalider sind als die Erfahrungsnoten.
Von der Lehre zum Studium: Die Rolle der EFZ-Note
Die Noten im Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ) sollen genaue Indikatoren dafür sein, dass und wie gut die Absolventen einer eidgenössischen Berufslehre die Bildungsziele erreicht haben. Die Abschlussnote im Fähigkeitszeugnis macht analog zur Maturitätsnote ebenfalls eine direkte Aussage darüber, wie gut die Lernenden für ein Studium nach der Lehre vorbereitet sind. In einigen Kantonen der Schweiz ist der prüfungsfreie Übertritt an Berufsmaturitätsschulen (BMS 2) mit einer entsprechenden Abschlussnote im EFZ bereits die Realität. Eine umfassende Beurteilung ist deshalb besonders wichtig, weil die aktuelle BM-Reform vorsieht, dass die provisorische Aufnahme in den Vollzeitstudiengang der BM2 abgeschafft wird und Lernende zukünftig auch bei ungenügenden Semesternoten zur Berufsmaturitätsprüfung zugelassen werden. Eine EFZ-Abschlussnote setzt sich aus mündlichen, schriftlichen und praktischen Prüfungen in Betrieb, überbetrieblichen Kursen und Berufsschulen zusammen. Die Prüfungsformen haben je ihre eigene pädagogische Begründung sowie Vor- und Nachteile. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen von Maturitätsprüfungen des emeritierten Professors Dr. Franz Eberle ist bekannt, dass Noten von externen Abschlussprüfungen in Bezug auf die Studierfähigkeit prognosevalider sind als die Erfahrungsnoten. Zudem fallen Erfahrungsnoten und mündliche Prüfungen im Mittel signifikant besser aus als externe schriftliche Prüfungen. Bezogen auf das Fach Allgemeinbildung führen die Noten der Abschlussprüfung nicht zu einer höheren Durchfallquote als die Erfahrungsnoten, aber sie verändern die Schlussnoten trotzdem teilweise beträchtlich. In der oben erwähnten Langzeitstudie (2018 – 2023) aus dem Kanton Bern wurde festgestellt, dass nur rund 2% wegen einer ungenügenden Note im Fach Allgemeinbildung ihre Lehre nicht bestehen.
Die Qualität der Ausbildung ist abhängig davon, wie diese geprüft wird
Aus der Testtheorie ist bekannt, dass mit weniger Messgrundlagen die Zuverlässigkeit der Noten sinkt. Umso unverständlicher ist es, dass die Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) den Kantonen eine Reduktion der Prüfungsformen empfahl und sie mit einer Musterstellungnahme unterstützte, in der es heisst: «Die Reduktion der Prüfungsformen wird begrüsst». Eine objektive, von externen Stellen erstellte Schlussprüfung erfüllt jedoch eine wichtige Funktion in der Qualitätssicherung: Sie erlaubt es, Abweichungen zwischen hohen Erfahrungsnoten und niedrigeren Abschlussnoten zu hinterfragen und offenzulegen. Die Qualität einer Ausbildung steht und fällt mit der Qualität ihrer Prüfung – wie auch der 129-seitige Bericht betont: «Die Relevanz der QV für die Bildungssteuerung auf jeder Ebene ist aus der Literaturanalyse unbestritten».
Mögliche Auswege aus der Misere: Studien und Pilotversuche
Die Frage, ob die Absolventen einer Berufslehre die Bildungsziele gleich gut erreichen ohne Schlussprüfungen ist wissenschaftlich ungeklärt. Eine entsprechend fundierte Datengrundlage sollte also geschaffen werden, bevor ein nicht perfektes, aber gut funktionierendes System komplett verändert wird. Das Wissen darüber, wie die QV in den Kantonen prinzipiell umgesetzt werden ist vorhanden, allerdings ist dieses Wissen nicht aufgearbeitet oder analysiert worden. Entsprechend fehlen auch vertiefende wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Über die steuernde Wirkung der QV auf den Unterricht hat das Review beispielsweise keine Studien gefunden. Angesichts dieses offenkundig schwachen Forschungsstandes scheint es an der Zeit, die QV stärker in den Fokus der Forschung und von Entwicklungsprojekten zu rücken.»
Gemäss Berufsbildungsgesetz, Art. 4, wäre der Bundesrat zur Freigabe von Studien und Pilotversuchen befugt. So wäre es aus Sicht des Autors denkbar, dass mit Pilotklassen evaluiert wird, wie sich Semester-, Jahres- und Schlussprüfungen, aber auch deren Wegfall sowie alternative Prüfformen auf den Bildungserfolg auswirken.
Zusätzlich ist zu beachten: Erst vor wenigen Jahren hat die Kompetenzorientierung Einzug in die Berufsfachschulen gehalten und die bisher vorwiegend wissensorientierte Ausbildung infrage gestellt. Berufliche Situationen rückten dadurch stärker in den Fokus des Unterrichts und die Ausbildung orientiert sich verstärkt am praktischen Nutzen. Es ist deshalb unverzichtbar, Kritik an Prüfungsaufgaben, die lediglich Wissen abfragen oder aus Multiple-Choice-Fragen bestehen, ernst zu nehmen. Wenn Kompetenzen ein umfassendes Problemlösen erfordern, sollten Prüfungen dies ebenfalls tun. Viele Lehrkräfte, darunter auch der Verfasser dieses Textes, tun sich noch immer schwer damit, die Prüfungsformate entsprechend anzupassen.
Will man Kompetenzen prüfen, so braucht man zunächst ein klares Verständnis davon, was Kompetenzen überhaupt sind, womit sich ein Problemfeld auftut: Der Kompetenzbegriff ist umstritten. In der Schweiz wird im Schulsystem auf das Konzept von Weinert (2001) zurückgegriffen. Aus der Definition von Weinert wird klar, dass es bei der Kompetenzorientierung im Wesentlichen darum geht Probleme zu lösen und dies bewusst und gezielt zu können. Darin zeigt sich jedoch eine Grundproblematik und somit ein weiteres Problemfeld: Kompetenzen sind nur Potenziale oder Dispositionen. Handeln kann beobachtet werden – Kompetenzen hingegen nicht. Prüfungen müssen somit so angelegt werden, dass der Rückschluss auf zugrunde liegende Kompetenzen möglich ist. Oft kann dies erreicht werden, wenn Prüflinge gebeten werden ihren Lösungsprozess offenzulegen. Eine Unterscheidung von Produkt und Prozess bietet sich demnach an. Das Produkt wäre die Lösung einer Aufgabe oder Fallsituation und der Lösungsprozess der reflektierte Weg, wie es zur Antwort kam.
Im ABU-Unterricht wäre es sinnvoll, Prüfungen stärker handlungsorientiert und alltagsnah zu gestalten. Das bedeutet, Prüfungsaufgaben an Alltagsproblemen auszurichten, bei denen die Kandidaten die Schritte Planen, Durchführen und Kontrollieren durchlaufen – der idealtypische Ablauf einer Handlung. Die zunehmende Digitalisierung im Alltag sollte auch in Prüfungen abgebildet werden. Es braucht auch entsprechend digitale Lehr-Lern-Aktivitäten, abgestimmt auf die Prüfung. Ob Krankenkassenwechsel, Steuererklärung oder die Mietmängelrüge – viele Alltagshandlungen finden digital statt. Berufsschulen benötigen staatliche Unterstützung in Form von Schulungen und digitalen Plattformen sowie interdisziplinäre Teams aus Pädagogen, Juristen, Informatikern und Mediendesignern. Eine eigene empirische Studie zeigt, dass eine innovative Schlussprüfung die Prüfpraxis insgesamt positiv beeinflussen kann.
Unser Unterricht wird mehr durch vorhandene Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien bestimmt als durch ausgeklügelte Formulierungen im Lehrplan.
Zahlreiche Schullehrpläne wurden auf die Kompetenzorientierung umgeschrieben. Die Wirkung ist allerdings bisher bescheiden, denn – das müssen wir ABU-Lehrpersonen offen eingestehen – unser Unterricht wird mehr durch vorhandene Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien bestimmt als durch ausgeklügelte Formulierungen im Lehrplan. Daher entspricht unsere Prüfpraxis im Alltag häufig noch nicht den neuesten Forschungsergebnissen.
Die Schulteams, welche die schriftliche Abschlussprüfung erstellen, stehen jedoch so sehr unter der Beobachtung der übrigen allgemeinbildenden Lehrpersonen, dass sie in jedem Prüfungsdurchgang versuchen, die Kompetenz- und Handlungsorientierung besser einzubauen. Die Möglichkeiten sind allerdings eng begrenzt. Aufgrund all dieser Faktoren ist klar, dass die Kompetenzorientierung noch nicht vollständig in die Prüfpraxis durchgedrungen ist.
Der Wert der Abschlussprüfungen im Berufsbildungssystem sollte nicht untergraben werden – vielmehr könnte das Potenzial als „Innovationsmotor“ genutzt werden, insbesondere mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung.
Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten
Die Vorbereitung auf eine Abschlussprüfung motiviert viele dazu, sich nochmals intensiv mit zentralen Themen auseinanderzusetzen. Im Fach Allgemeinbildung sind dies praxisnahe und relevante Themen wie Versicherungsschutz, Mietrecht, Staatskunde, Steuern, Finanzkompetenz und sprachliche Ausdrucksfähigkeit. In dieser Phase werden die Lernenden begleitet und gezielt mit Methoden unterstützt, die für die Vorbereitung auf umfangreiche Prüfungen wichtig sind – Kompetenzen, die sie auch für zukünftige Weiterbildungen auf der Tertiärstufe benötigen, wie z.B. sich in kurzer Zeit auf grosse Prüfungen in verschiedenen Themenfeldern vorzubereiten.
Sollte das SBFI an der Abschaffung der Abschlussprüfung im Fach Allgemeinbildung festhalten, hiesse dies, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Sinnvoller wäre es, das bestehende Prüfungsformat zunächst gründlich zu untersuchen und dann im Einklang mit anderen Bildungsbestrebungen weiterzuentwickeln. Der Wert der Abschlussprüfungen im Berufsbildungssystem sollte nicht untergraben werden – vielmehr könnte das Potenzial als „Innovationsmotor“ genutzt werden, insbesondere mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung. Weitreichende Reformen ohne solide empirische Basis können die Bildungsqualität beeinträchtigen und den Wirtschaftsstandort Schweiz schwächen.