28. September 2024
Politischer Unterrricht

Haltung oder Selbstbefähigung – das ist hier die Frage

Alain Pichard und Georg Geiger gründeten vor 5 Jahren mit anderen Mitstreitern den Condorcet-Blog. Politisch waren sie einst links, heute politisieren sie in verschiedenen Lagern. Trotz Meinungsverschiedenheiten sind sie sich freundschaftlich verbunden. Claudia Wirz lud die beiden zum Gespräch ein. Dabei ging es um den Auftrag der Schule, die Feinbilder des Condorcet-Blogs, die Politik im Schulzimmer und die unerfreuliche Entsinnlichung des Unterrichts.

Herr Pichard, Herr Geiger, lassen Sie uns zuerst über die Debattenkultur auf dem Condorcet-Blog reden! Wie beurteilen Sie, Herr Geiger, generell das Gesprächsklima auf dem Condorcet-Blog?

Georg Geiger: Grundsätzlich finde ich das Gesprächsklima auf dem Blog in Ordnung. Ich meine allerdings, dass die Breite der Diskussion in Gefahr ist. Es melden sich hauptsächlich «alte weisse Männer» zu Wort, die selber nicht mehr im Schuldienst sind. Dann lese ich ein Interview mit einer jungen VPOD-Frau in der WOZ und bemerke: Diese Stimmen fehlen im Blog. Das bedaure ich sehr.

Claudia Wirz, Journalistin, neu für den Condorcet-Blog arbeitend. Sie lud die beiden Autoren zum Gespräch ein.

Warum erreichen wir die Jungen nicht, Alain Pichard?

Alain Pichard: Es ist tatsächlich eine Generationenfrage, ob man für den Blog schreibt oder nicht. Auch andernorts fragt man sich: Wie gewinnt man junge Leute? Eine einfache Antwort gibt es nicht.

Dass Junge nicht mitmachen, kann man doch nicht den alten weissen Männern anlasten, Herr Geiger?

 Geiger: Natürlich nicht, aber es ist halt trotzdem eine Verarmung. Die Schuld daran gebe ich niemandem. Am meisten Mühe habe ich mit den Stimmen, die nicht mehr im Schuldienst sind und trotzdem den Blog beherrschen und Konzepte vertreten, die aus den 1980er Jahren stammen.

Ist das so, Alain Pichard?

Pichard: Ich teile den Befund von Georg. Ich versuche ständig, junge und neue Talente für den Blog zu gewinnen. Viele trauen es sich nicht zu oder sind überlastet. Aber es gibt auch Leute, die nicht wollen. Vermutlich wegen des angeblichen «Framings». Oft werde ich als «rechts» wahrgenommen, wohl weil ich ab und zu einen Beitrag für die «Weltwoche» schreibe. Dort schreiben übrigens auch Peter Bodenmann oder Micheline Calmy-Rey. Und ich selber schreibe auch für andere Zeitungen. Der Condorcet-Blog ist allerdings weder links noch rechts, sondern liberal und wir wollen nichts mehr und nichts weniger als einen Beitrag zu einer intelligenten Bildungsdebatte leisten. Hier schreiben linke, liberale und konservative Autorinnen und Autoren. Der Diskurs ist unser erklärtes Ziel, der gepflegte Diskurs, notabene.  Und wir dürfen bei aller Selbstkritik auch nicht alles schlecht reden. Die Leserzahlen steigen und wir existieren schon seit 5 Jahren und können uns sogar eine bezahlte Journalistin leisten.

Geiger: Es gibt auf dem Blog aber durchaus eine gewisse Polemik gegen progressiv-urbane Meinungen zur Bildung. Es existiert ein imaginäres Feindbild und zwar dasjenige des progressiven, naiven, linksliberalen Bildungsexperten. Ich denke da besonders an die Rubrik «Grosse Denkerinnen und Denker». Allerdings muss ich eines einräumen: Die Lehrerschaft ist heute dermassen unpolitisch bzw. politisch stumm, dass es schwierig ist, sie für die bildungspolitische Debatte zu mobilisieren.

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Wir haben eine unglaubliche Hierarchisierung erlebt.

Dem Vernehmen nach sind viele Lehrkräfte unzufrieden, doch sie schweigen und machen die Faust im Sack. Warum?

Geiger: Ich habe während meiner ganzen Laufbahn eine Hierarchisierung im Schulbereich erlebt. Tatsächlich führt das dazu, dass viele Angst haben, sich öffentlich und geradeheraus zu äussern.

Pichard: Ich gebe zu, Georg, dass ich ein gewisses Feindbild habe. Die Allianz von Wissenschaft, Politik und Verwaltung, die die Schule neuerdings prägt, kritisiere ich da ganz offen und durchaus mit Lust. Mit dieser Allianz ist der neue Lehrplan gekommen und mit ihm im Schlepptau eine Schule, die Top-Down organisiert wird. Vernehmlassungen werden nur noch pro Forma durchgeführt. Das passt nicht zu unserer schweizerischen Tradition. In der genannten Rubrik machen wir uns ab und an darüber lustig nach dem Motto: Lieber einen Freund verlieren als eine gute Pointe.

Geiger: Da bin ich völlig einig mit Dir, Alain. Die Konfrontation mit akademischen Experten, ist seit 20 Jahren das grosse Malaise im Bildungsbereich. Im Bildungsapparat gibt es eine Szene, die in einer Bravheit und Abgeschlossenheit die Fäden zieht und selber nie für ihre Entscheide geradestehen muss.

Mittlerweile scheint die Unesco dafür zuständig zu sein, was in Schweizer Schulzimmern vermittelt wird. Ist eine solche Zentralisierung wirklich der richtige Weg?

Alain Pichard: Überfachliche Kompetenzen zu beurteilen, ist eine totalitäre Anmassung.

Pichard: Du sprichst die Erklärung von Salamanca zur integrativen Schule an. Ein symptomatisches Beispiel, denn hier hat eine Verrechtlichung der Schule stattgefunden, die in diesem Fall auch noch interpretationswürdig und gar nicht so klar sind. Wenn die holden Ziele der Erklärung dann an der Umsetzung scheitern, ist der Weg für pragmatische Lösungen oft verstellt. Stets heisst es, so stehe es in der Erklärung von Salamanca und so müsse es gemacht werden, ganz egal, ob es funktioniert oder nicht.

Geiger: Ja, man hat den Schulen die Autonomie genommen und das verhindert in der Tat, dass Schulen etwas ausprobieren können oder in einem Wettbewerb der Ideen herausfinden, was funktioniert und was nicht. Das gilt auch für die Frage um die Kleinklassen.

Pichard: Gewiss – wir wollen nicht zurück in die 1970er Jahre und dem damaligen Verständnis von Kleinklassen. Aber es ist schlecht für die Schule, wenn die Probleme, die sich mit den Reformen stellen, aus ideologischen Gründen ignoriert werden und auf kritische Stimmen nicht gehört wird.

Was wäre denn besser als die Integrative Schule?

 Geiger: Man sollte unterschiedliche Mischformen ausprobieren und den Lehrern mehr Kompetenzen geben. So kann man taugliche Lösungen für den Schulalltag finden. Ich war damals in der Volksschule einer der ersten, der mit Heilpädagoginnen zusammengearbeitet hat.

Pichard: Ja, es braucht mehr Autonomie.

Die Gründung des Blogs vor 5 Jahren. Der Diskurs ist ein Ziel des Condorcet-Blogs. Bild Fabian Bütikofer

Sprechen wir über die Politisierung der Schule. Soll die Schule im Unterricht Politik machen, zum Beispiel in Bezug auf Klimawandel, Diversity oder Menschenrechte?

Pichard: Ich bin ein überzeugter Anhänger des Pro-Contra-Settings. In der Demokratie muss man doch miteinander diskutieren! Die Schule sollte nicht vorgefertigte politische Haltungen vermitteln, sondern junge Leute befähigen, sich selber eine eigene Meinung zu bilden, um an der demokratischen Debatte teilnehmen zu können. Das verstehe ich unter guter Bildung. In meinem Unterricht hatte sogar mal ein Vortrag eines christlich eingestellten Schülers zum Kreationismus Platz. Danach ergab sich eine gute und vor allem lehrreiche Diskussion. Es gilt, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen. So lernt man, über Dinge nachzudenken.

Geiger: Die Sache ist tatsächlich komplex. Es gibt in vielen Fragen ja nicht nur Ja oder Nein, Richtig oder Falsch. Eine gewisse Basis an Werten und Haltungen gehört jedoch zur Bildung.

Wie äussert sich denn die Politisierung im Schulzimmer, Alain Pichard?

Pichard: Politik in der Schule fand schon immer statt. Richtig ins “Rutschen” kam es mit der Kompetenzorientierung. Es wurden sogenannte «soft skills» installiert, wie «kann mit Vielfalt umgehen», «kann sich situationsgemäss ausdrücken», «ist kooperationsfähig». Das hat viel mit Moral und Gesinnung, aber nur wenig mit Bildung zu tun. Haltung ist kein Bildungsziel. Ausserdem dürfen wir Haltungen nicht bewerten. Sonst wird das Zeugnis zum «Mitarbeitergespräch».

Geiger: Diese Einschätzung teile ich. Bildung auf Ausbildung zu reduzieren, ist zu billig. Die standardisierte Integration des Schülers in die Microsoft-Kultur ist problematisch. Schüler werden wie Mitarbeiter digitaler Grosskonzerne beurteilt. Ziel ist nicht Exzellenz, Wissen oder individuelle Kreativität, sondern Anpassung. Das ist schlecht und nimmt dem Lehrer überdies Kompetenzen aus der Hand.

Aber was ist denn so schlimm daran, wenn ein Schüler sich situationgemäss ausdrücken kann?

Pichard: Das Ganze ist ein reines Anpassungslernziel. Und wie soll man das beurteilen?

Geiger: Das Kompetenzsystem mutet den Lehrern nicht mehr zu, selber Beurteilungen vorzunehmen und Kommentare zu Schülern anzufügen. Stattdessen gibt es überlange Listen, die ausgefüllt werden sollen. Das ist eine unnütze bürokratische Umstellung.

Pichard: Wir haben es hier nicht mit einer “falschen Pädagogik” sondern mit der Absenz jeglicher Pädagogik zu tun. Die zahlreichen Raster, die derzeit im Umlauf sind, sind Ausdruck eines schrecklichen Gedankenguts.

Geiger: Diese Art der Beurteilung sorgt sogar dafür, dass viele Lehrer heute keine Literatur mehr unterrichten. Denn Literatur lässt sich verschieden interpretieren. Interpretation kann man nicht nach Raster beurteilen, also fallen sie weg. Alles muss nur noch dem Standard gehorchen.

Was ist daran politisch?

Pichard: Schon unser Namensgeber, der Philosoph Jean Marie Condorcet sagte sinngemäss: Gesinnung zu erzeugen ist keine Aufgabe einer öffentlichen Schule und darf deshalb auch kein Lehrplanziel sein. Wird die Bekundung des guten Willens zudem noch als Kompetenz gehandelt, als prüfbare und messbare Kompetenz bewertet, dann enden wir bei einem Erziehungsbegriff mit totalitärem Anspruch. Nehmen wir Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Derart offensichtlich ist hier der Versuch, kleine Kinder mit ideologiebehafteter Weltrettungsprosa in einen homini naturae zu verwandeln. Und was noch schlimmer ist: Auf der Strecke bleibt das Wissen. Die Schüler kennen keine Blumen und Laubblätter mehr, erhalten dafür aber Arbeitsblätter zum Ausfüllen und werden mit Filmen bombardiert.

Geiger: Dass wir den Schulgarten für das Arbeitsblatt aufgegeben haben, ist verheerend. Aber Nachhaltigkeit ist dennoch ein wichtiges Thema. Ich habe mit Gymnasiasten ihren eigenen ökologischen Fussabdruck ausgerechnet. Als Laien erfahren wir auf diese Weise, welche Faktoren relevant sind und welche nicht.

Schüler müssen zuerst begreifen, was Atomkraft ist, bevor sie sich eine Meinung darüber bilden.

Pichard: Meine Schüler würde ich nie loszuschicken, um ihren ökologischen Fussabdruck zu messen. Mein Bemühen ist vielmehr das Wissen, und mein Ziel ist die Mündigkeit. Nehmen wir die Atomkraft: Die Schüler sollen zuerst lernen, was ein AKW überhaupt ist, um sich danach eine eigene Meinung bilden.

Die Schule muss politisch neutral sein. Aber Lehrer sind doch auch nur Menschen und haben politische Ansichten. Wie lässt sich das vereinbaren?

Geiger: Ich kann mich selber nicht mehr im rechts-links-Schema einordnen. Meine politischen Meinungen sind mal extrem links, mal sehr konservativ. Ich habe – retrospektiv – auch schon viel Blödsinn erzählt. Gewisse Aussagen stimmen allerdings heute noch. Ich habe den Eindruck, dass die heutige Generation von Lehrern von der Komplexität der Welt wie erschlagen ist, weshalb sie sich politisch zurückzieht.

Pichard: Der politisch neutrale Unterricht ist eine Chimäre. Die Lehrerinnen und Lehrer haben durchaus politische Meinungen. In der Mehrheit wählen sie links-grün. Und das ist völlig unproblematisch. Hier geht es um Professionalität und Bildungsziele. Letztendlich um Mündigkeit.

Geiger: Am Gymnasium sind die meisten in der Mitte.

Wie soll die Schule denn «neutral» das Klimathema unterrichten?

Pichard: Der Schulgarten oder ein Waldspaziergang sind meines Erachtens dafür viel besser geeignet als die Lernblätter zum Klimawandel, die man im Schulzimmer auszufüllen hat. Man kann nur schützen, was man kennt und liebt. Mit der Klasse in den Wald gehen, Vogelstimmen erkennen lernen, Bäume anschauen – das ist viel mehr wert als das, was in irgendwelchen Büros für die BNE-Akten erstellt wird.

Geiger: Aber nicht nur. Zur BNE kann zum Beispiel auch ein Schellnhuber-Interview gehören. Da erfährt man von einem Physiker und Klimaforscher auf verständliche Weise das, was man über den Klimawandel heute weiss. Es wäre falsch, so eine Lerneinheit als ideologisch zu taxieren.

Pichard: Hans Joachim Schellnhuber ist ein Aktivist, der seine Kritiker als Klimaleugner bezeichnet. Es ist nicht die Aufgabe der Schule, lauter Gretas zu produzieren.

Alle Schüler sollten den IPCC-Bericht kennen.

Geiger: Jeder Schüler muss den «Weltklimarat» IPPC kennen und wissen, was die machen und was deren wichtigste Erkenntnisse sind.

Pichard: Da bin ich einverstanden. Ein Maturand muss wissen, was im IPCC-Bericht steht. Aber wichtig ist eben, dass die politischen Schlussfolgerungen nicht vorweggenommen werden.

Georg: Wir müssten uns eben laufend überlegen, wie wir das Thema Nachhaltigkeit unideologisch an die Schülerinnen und Schüler bringen.

Aber die Jungen interessieren sich doch mehr für Taylor Swift oder Nemo.

 Geiger: Das stimmt. Aber die Bemühungen um das Thema Nachhaltigkeit können einen neuen Blick auf die Welt eröffnen, wenn es gelingt, dieses Thema mit den einzelnen Fächern zu verbinden.

Noch einmal: Wo genau findet nun die Politisierung des Unterrichts statt?

 Pichard: Er kommt neuerdings von oben, in den Lehrplänen und findet im Rahmen einer «Arbeitsblattitis» statt.

Geiger: Das ist die übliche Kritik an Lehrplänen.

Pichard: Früher waren Lehrpläne dafür da, der Bevölkerung zu erklären, was wir in der Schule machen. Mit dem Lehrplan 21 kamen Schwurbelei und ideologisierte Inhalte. Damit erreichen wir das Gegenteil von dem, was wir wollen, und vernachlässigen das, was die Schule eigentlich soll.

Geiger: Du übertreibst. Der Lehrplan 21 ist völlig phantasielos. Das ist pure Langweiligkeit, nicht Ideologie. Und ja, Nachhaltigkeit könnte man wohl am besten mit einem Schulgarten unterrichten.

Pichard: Und im Hauswirtschaftsunterricht. Aber den droht man jetzt auch noch “verkopfen”. Heute haben wir mit dem Fach HAW den Praxisanteil gekürzt und mit theoretischen Arbeitsblättern “bereichert”.

Geiger: Einverstanden. Die Entsinnlichung der Schule ist eine schlechte Entwicklung.

Georg Geiger, Alain Pichard, wir danken Ihnen für das Gespräch

 

 

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Ein Kommentar

  1. Geiger und Pichard heben für mich einen Punkt zu wenig deutlich hervor: Natürlich ist schon nur die Wahl eines Themas (z.B. Klimawandel, Atomenergie) durch die aktuelle politische Diskussion motiviert. Aber: Die Aufgabe der Schule in der Demokratie ist nicht die Herstellung von “Betroffenheit” oder von politischem Aktivismus der Lernenden, wie es im Lehrplan 21 anklingt, sondern Aufklärung, Vermittlung von sachlichem Hintergrundwissen, Erläuterung politischer Standpunkte und Argumente, was dann ganz von selbst zur begründeten Stellungnahme der Einzelnen befähigt. Das mag politisch stark engagierten Lehrpersonen schwerfallen, sollte jedoch in ihrer Professionalität verankert sein. Sie müssen zulassen können, dass vor ihnen sowohl künftige Linke als auch Rechte und Indifferente sitzen. Die Aktualität in der öffentlichen Diskussion sollte Motivation genug sein, um sich mit solchen Themen zu beschäftigen.

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