20. Dezember 2024
«Denn alles Lehren ist mehr Wärmen als Säen»

Ein Essay über die Erziehlehre «Levana» des deutschen Schriftstellers und Pädagogen Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825) – 3. Teil

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: «Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten.»* Wir bringen den 3. und letzten Teil des Essays unseres Condorcet-Autoren Georg Geiger.

Viertes Bruchstück: Die weibliche Erziehung

 Es geht zu Beginn im selben Tonfall weiter: in immer neuen Anläufen breitet sich Jean Paul über «die weibliche Bestimmung» aus. Es ist die Natur, die alles vorgibt, der Körper: «Die Natur hat das Weib unmittelbar zur Mutter bestimmt, zur Gattin bloss mittelbar; so ist der Mann umgekehrt mehr zum Gatten als zum Vater gemacht.» Die Bestimmung des Mannes – «z.B. der Philosoph, der Minister, der Soldat, der Präsident, der Dichter, der Künstler» – ergibt sich aus dem Kontrast mit der weiblichen Natur, wobei zur männlichen Natur gehört, dass sie sich mit dem Geist über die Natur  erheben kann: «Keine Frau kann zur gleichen Zeit ihr Kinde und die vier Weltteile lieben, aber der Mann kann es.» . Das ist ein unglaublicher Satz, man muss ihn mehrere Male lesen, um seine ganze patriarchale Plattheit zu erfassen. Gemäss der von Jean Paul selbst propagierten Natürlichkeit der patriarchalen Geschlechterordnung müsste doch gerade die Frau durch die fürsorgliche Nähe mit ihren Kindern viel fähiger sein, Empathie zu entwickeln.

Condorcet-Autor Georg Geiger, ehem. Gymnasiallehrer in Basel

Aber er geht wohl unhinterfragt davon aus, dass die Frau ihre mütterliche Seite nur im engen Radius der eigenen Kleinfamilie zu kultivieren vermag und dass gerade die willkürlich postulierte Ungebundenheit es dem Manne erlaubt, seine Nächstenliebe im globalen Massstab zu kultivieren. Der Mann scheint sich auch von den Verpflichtungen des liebenden Sich-Kümmerns um seine Kinder so grundlegend selber zu entlasten, so dass er diese dadurch gewonnene Freiheit als Fernliebe in alle Weltteile transferiert werden kann. Welch abstruse gedankliche Männerkapriole!

Die frühkindliche Erziehung ist ganz in der Hand der Mütter: «Die Erziehung der ersten Hälfte des ersten Lebens-Jahrzehnts ist – schon durch den Körper – in Mutterhand gelegt.» Und niemand kann die Mutter ersetzen, denn mit dem «Brautschatz der Liebe schickte die Natur die Frauen ins Leben». Das Wesen der Frau ist Ausdruck dieser Geworfenheit ins Lieben und Pflegen der Kinder: «Nach bekannten Grundsätzen ist die männliche Natur mehr episch und Reflexion, die weibliche mehr lyrisch und Empfindung.» Dem Manne stehe die Rolle der «gesetzgebenden Gewalt des Erziehens» zu, der Frau «die ausübende» Gewalt. Der Mann «liebt den Begriff, das Weib die Erscheinung». Grosse Worte, hingeworfen im Pathos patriarchaler Willkür von einem Mann, der gerade mit seiner Biographie und seinem Wesen auch schon zu seiner Zeit prädestiniert gewesen wäre, differenzierter und komplexer über die Ordnung der Geschlechter nachzudenken.

Was würde er wohl zur heutigen Genderdebatte sagen, wonach es nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Geschlecht gibt?

 

Es ist aber bemerkenswert, dass Jean Paul trotz dieser gottgegebenen Ordnung der Geschlechter immer wieder echte Empörung zeigt über die Geringschätzung der Frauen: «Zwar, was ihr opfert für die Welt, wird wenig von ihr gekannt –  die Männer regieren und ernten – und die tausend Nachtwachen und Opfer, um welche eine Mutter dem Staate einen Helden oder Dichter erkauft, sind vergessen, nicht einmal gezählt; denn die Mutter selber zählet nicht – und so schicken einem Jahrhundert nach dem andern die Weiber unbenannt und unbelohnt die Pfeiler, die Sonnen, die Sturmvögel, die die Nachtigallen der Zeit!» Seine Kritik gipfelt in dem pointierten Satz: «Je verdorbener ein Zeitalter, desto mehr Verachtung der Weiber.» Und schon fast jungianisch im Sinne der Dialektik von Animus und Anima tönt es, wenn Jean Paul pathetisch ausruft: «Mütter, seid Väter! möchte man zurufen und: Väter, seid Mütter! – Denn nur beide Geschlechter vollenden das Menschengeschlecht, wie Mars und Venus die Harmonia erzeugten.» Was würde er wohl zur heutigen Genderdebatte sagen, wonach es nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Geschlecht gibt?

Immer wieder echte Empörung über die Geringschätzung der Frauen

Die Erziehung von Knaben und Mädchen ergibt sich aus dieser natürlichen Ordnung der Geschlechter wie von selbst: «Den Knaben erzieht eine vieltönige Welt, die Schulklassen, Universitäten, die Reisen, die Landsmannschaften und die Bibliotheken; die Töchter bildet der Muttergeist.» Welche eine trockene, lakonische Beschreibung der patriarchalen Ordnung! Es gibt sogar ein Extra-Kapitel zum Thema «Erziehung der Mädchen». Durchaus selbstkritisch beurteilt Jean Paul, dass nach dem bisher Gesagten dieses Unterkapitel kurz ausfallen müsste, «weil jenem zufolge die Mädchen zu nichts als zu Müttern, d.h. zu Erzieherinnen zu erziehen wären.»

Dass dem nicht so sein soll, begründet er folgendermassen: «Allein bevor und nachdem man Mutter ist, ist man ein Mensch; die mütterliche Bestimmung aber, oder gar die eheliche kann nicht die menschliche überwiegen oder ersetzen, sondern sie muss das Mittel, nicht der Zweck derselben sein.» Was er mit dieser «menschlichen Bestimmung» genau meint, bleibt unklar, denn er fährt sofort weiter mit der Veranschaulichung einer wesensmässigen Ungleichheit von Mann und Frau, wenn er meint, «dass das weibliche Geschlecht in noch höherem Grade als das männliche einer sittlich-reinen Atmosphäre, der Einwirkung überwiegend guter Beispiele und Sitten zu seiner Entwicklung bedürfe.» Denn: «Nur Knaben kommen aus dem Augiasstall des Welttreibens mit ein wenig Stallgeruch davon. Jene aber sind zarte, weisse Paris-Aepfelblüten, Stubenblumen, von welchen man den Schimmel nicht mit der Hand, sondern mit feinen Pinseln kehren muss.»

Lustig, dass das gerad der Vielschreiber Jean Paul, der wohl wesentlich mehr Zeit an seinem Schreibtisch oder in seiner Gartenlaube in Bayreuth verbracht hat als seine Frau, meint, Knaben würden sich schon im dritten Monat in Bewegung setzen, Mädchen erst im vierten.

 

Gegenüber sogenannter «Frauenzimmerarbeit» in der weiblichen Erziehung hat Jean Paul grosse Vorbehalte und er stellt gleich zu Beginn die provokative Frage: «Sollte es sonach genug sein, wenn ein Mädchen bloss stickt, strickt und flickt?» Den Nachteil der Fixierung auf die «Finger-Arbeiten» sieht er darin, «dass der müssiggelassene Geist entweder dumpf verrostet, oder den Wogen der Kreise nach Kreisen ziehenden Phantasie übergeben ist.» Mädchen hätten von Natur aus eine «Vorliebe für ankernde Lebensart», den Mann dagegen ziehe es in die Welt: «Er freilich schreitet, und sie sitzt.» Lustig, dass das gerad der Vielschreiber Jean Paul, der wohl wesentlich mehr Zeit an seinem Schreibtisch oder in seiner Gartenlaube in Bayreuth verbracht hat als seine Frau, meint, Knaben würden sich schon im dritten Monat in Bewegung setzen, Mädchen erst im vierten. Aber die Natur pflanze der «bett- und sofalägerigen Frau den Kunsttrieb, nach Tanzen ein, so wie dem faulen Wilden.»

Nun taucht also an dieser Stelle auch noch eine neue Charaktereigenschaft des Wilden aus: faul sei er, von Natur aus! Gegen die weibliche Trägheit empfiehlt Jean Paul Folgendes: «Das Mädchen treibe statt der träumerischen, einseitigen Dreifingerarbeiten die vielseitigen Geschäfte des Hauswesens, welche das Träumen und Selbst-Verlieren jede Minute durch neue Aufgaben und Fragen aufhalten, in den ersten Jahren von der Kochkunst an bis zur Gärtnerei, in den spätern von der Statthalterschaft über die Bedienten an bis zur Rechnenkammer des Hauses.» Und wieder ist es die Natur, die der Frau ihren Platz im Hauswesen zuweist: «Von Natur aus sind die Frauen geborne Geschäftsleute, berufen dazu vom Gleichgewicht ihrer Kräfte und von ihrer sinnlichen Aufmerksamkeit.»

Wer gibt den Ton an in der Beziehung? Der Abschied vom Patriarchat in dieser wohlig-düsteren Ausstattung eines Jean Paul ist doch eine gewaltige Erschütterung aus der Perspektive der Männer.

Ins Curriculum der weiblichen Erziehung gehören gemäss Jean Paul «Kräuterlehre, Sternkunde, einfachste Grundsätze der reinsten und angewandten Mathematik, Geometrie», aber keine Philosophie, denn «sie finden nämlich alles leicht, überall ihre eigenen Gedanken, d.h. Gefühle.» Erdbeschreibung als «blosses Oerter-Register» sei wertlos, Geschichte bitte mit wenig Namen und Jahreszahlen, aber «reich genug an grossen Männern und Begebenheiten». Musik gehöre unbedingt zur weiblichen Seelenerziehung, das Zeichnen hingegen stehle «den Kindern und der Ehe zu viel Zeit.» Fremdwörter könnten die Mädchen aus Kunstwörterbüchern auswendig lernen, auch könne die Aussprache der deutschen Sprache geübt werden, Briefe und Tagebücher seien hilfreich. Und der Wäscheschrank sei der «weibliche Bücherschrank».

Insgesamt ist klar, auf was diese «Naturbestimmung» in der Erziehung hinziele, «denn heute oder morgen tritt doch die Ehe ein». Gerade wegen dieser schicksalshaften Bestimmung des weiblichen Lebens plädiert er für viel Heiterkeit und Scherzhaftigkeit: «Nun, um desto mehr, ihr Mütter, gönnt den lieben, leichten Wesen das Spielen und die Blumen, die Flatter-Minute vor langen Ernst-Jahren.» Seit 200 Jahren ist nun in unserem Kulturkreis diese gottgegebene Ordnung zunehmend in Frage gestellt, doch der Abschied vom Patriarchat in dieser wohlig-düsteren Ausstattung eines Jean Paul ist doch eine gewaltige Erschütterung aus der Perspektive der Männer. 

Fünftes Bruchstück: Bildung eines Fürsten

 Was haben Frauen und adlige Herrscher gemeinsam? Jean Pauls Antwort lautet, «nur Fürsten und Weiber allein werden für eine bestimmte Zukunft erzogen, die übrigen Menschen für unbestimmte, für den Reichtum des Schicksals an Richtungen und Ständen.» Nur im Idealzustand des «höchsten Anstandes» könne sich im Herrscher «die Freiheit eines Wilden» erneuern, womit auch in diesem Kapitel dem Wilden Referenz erwiesen wäre!

Ansonsten verlaufe die Erziehung eines Fürsten in grosser Einsamkeit und Abgeschiedenheit: «Wir alle hinauf und hinab wurden immer, an Kinder-Gemeinschaft verknüpft, zusammenwirkend erzogen: der Erbprinz sitzt allein im Zimmer beim Hofmeister.» Die grösste Gefahr sieht er in der Herausbildung der «Menschenverachtung, die ohnehin so oft auf Thronen regiert.» Die Arroganz der von der Gesellschaft abgeschirmten jungen Elite ist ihm ein Dorn im Auge: «Daher auf den Gesichtern so mancher Fürstenkinder jene überreife, abgelebte, listig-schale, kühle Miene, aus Uebermut des Standes und der Vorjugend und aus Schwäche des Alters gemischt.»

Kriegserklärung an den Krieg

Ein «rein-fester Charakter» gehöre zum Sehen und Handeln eines Fürstensohnes, der sich selbst gegenüber in Bescheidenheit üben und gegenüber seiner Würde Stolz entwickeln solle. Die wichtigsten Tugenden sind für Jean Paul das «Worthalten» und die «Arbeitsamkeit». Das Kunstideal, «Grösse in Ruhe darzustellen», sollte auch das Ideal auf dem Throne sein. Und er empfiehlt das ganz gezielte Reisen in pädagogischer Absicht: «Doch Ein Land mag ein Erbprinz wirklich bereisen, sein eigenes, je tiefer in die untern Stände hinein, desto ergiebiger.» Und es taucht noch eine Art von pazifistischer Tugend auf, die Jean Paul am Herzen liegt, wie man etwa auch in seinem Pamphlet «Kriegserklärung gegen den Krieg» aus dem Jahre 1809 wiederfindet: «Eigentlich sollte nur das Volk (…) über den Krieg mit einem andern (…) abzustimmen haben, ob es sich als Todesopfer dem Gewitter und Sturm des Krieges weihe, oder nicht.» Denn es gibt für Jean Paul eine Art höherer Tapferkeit, «die Tapferkeit des Friedens und der Freiheit, der Mut zu Hause.» Was für eine eindrückliche Wortwahl!

Sechstes Bruchstück: Sittliche Bildung des Knaben

Es gibt für Jean Paul nicht nur eine körperliche, sondern auch eine «geistige Geschlechtstrennung», die er im Zusammenhang mit der sittlichen Erziehung folgendermassen definiert: «…könnte man die Verteilung beider sittlicher Pole mit wechselndem Uebergewicht an beide Geschlechter, also der Liebe an das weibliche, der Stärke an das männliche, folgern, weil jene mehr ausser sich, diese mehr in sich blickend handelt.» Wieder einmal ist die patriarchale Geschlechterordnung gesetzt, diesmal auf der geistigen Ebene.

Auch solle man die Träume der Kinder ernst nehmen und den Gespensterglauben bekämpfen, ganz so, wie es ja der Vater mit dem kleinen Jean Paul auch schon getan hat, wenn er bei Beerdigungen allein in die Sakristei geschickt wurde, um die Bibel zu holen!

 

Körperliche Abhärtung ist für Jean Paul ein wichtiges Anliegen, das er bekanntlich auch  seinen eigenen Kindern abverlangt hat, denn «der Körper ist der Panzer und Kürass der Seele.» Hier einige «Bestandteile zur Stahlarznei der Männlichkeit»: Mit Schmerzen solle man kein Mitleid zeigen, eher solle man Scherz damit treiben: «Man stärke folglich den Knaben, nicht aber etwa mit der Rede: ‘Es thut nicht weh’ – (…) sondern mit der bessern: ‘Was thut’s? Nur weh»

Auch solle man die Träume der Kinder ernst nehmen und den Gespensterglauben bekämpfen, ganz so, wie es ja der Vater mit dem kleinen Jean Paul auch schon getan hat, wenn er bei Beerdigungen allein in die Sakristei geschickt wurde, um die Bibel zu holen! Das Versagen des Knaben solle der Vater nicht verschleiern, das würden nur Mütter tun. Man solle den Knaben «so viel als möglich in die stoische Schule hineinhören lassen – weniger durch Ermahnungen, als durch Beispiele echter Stoiker aller Zeiten – damit er aber nicht den Stoiker für einen Holländer oder gar für einen stumpfen Wilden halte, so lasset ihn sehen, dass das echte Kernfeuer der Brust gerade in jenen Männern glühe, welche ein durch das ganze Leben reichendes Wollen, nicht aber, wie der Leidenschaftliche, einzelne Wollungen und Wallungen haben…» (Da hätten wir nun wieder eine dunkle Seite des Wilden: diesmal  lässt ihn Jean Paul nicht kindlich, naiv, vital oder edel erscheinen, sondern stumpf und zurückgeblieben!) Für den Jüngling «ist nichts seelengesunder, als Männer zu bewundern.» Etwa Sokrates oder Kato.

Jean Paul empfiehlt, Knaben in die stoische Schule hineinhören zu lassen (Bild:  der griechische Stoiker Epiktet, 50-135 n. Chr.)

 

Im Umgang mit dem Lügen, jenem «fressenden Lippenkrebs des inneren Menschen», hält er zu Beginn fest: «In den ersten fünf Jahren sagen sie kein wahres Wort und kein lügendes, sondern sie reden nur.» Doch mit der Sprache und der Formung eines Selbstbewusstseins ist dem Menschen die Möglichkeit zur Lüge gegeben, wie sie auch schon dem «einfachen Wilden» zur Verfügung steht, womit wir eine weitere Eigenschaft des Wilden konstatieren können.

Generell empfiehlt Jean Paul im Umgang mit dem Lügen: «Je freier lassend die Erziehung, desto wahrer das Kind.» Kinder sollten in den ersten sechs Lebensjahren nichts verschweigen. «Ist aber eine Lüge dem Kind erwiesen, so sprecht das Urteil ‘schuldig’, nämlich ‘gelogen’ mit erschrockenem Tone und Blick, mit dem ganzen Abscheu vor dieser Sünde gegen die Natur und den Geist feierlich aus und legt die Strafe auf.» Und als Strafe empfiehlt er «das Verbot zu sprechen, wenn man schlecht gesprochen.» Man solle nicht nachtragend sein und ein schneller Wechsel zwischen Strafe oder Verbot und Liebe sei durchaus angebracht, denn «keine Liebe ist süsser, als die nach der Strenge», wobei er es nicht lassen kann, zu betonen, dass dies den Müttern angeblich viel schwerer falle als den Vätern!

Und ein lange gepflegtes Haustier solle auch nie vor den Augen des Kindes geschlachtet werden. Von langen Reisen rät er entschieden ab, denn es «verwüstet das Kind».

 

Die beste Medizin dagegen ist die Liebe, jene «angeborene, aber verschieden ausgeteilte Kraft und Blutwärme des Herzens», zu der wir nichts brauchen «als bloss, dass sie nicht gehindert werde.» Dabei spielen Fremde und die Eltern eine wichtige Rolle: «Uebrigens enthüllen den Kindern nicht gebende Eltern, sondern gebende Fremde mehr Liebe, sowie umgekehrt nicht liebkosende Fremde, sondern liebkosende Eltern.» Förderlich ist die Entwicklung von Empathie als «Versetzung in fremdes Leben und in Achtung für Leben überhaupt.» Tiere könnten hier sehr hilfreich sein: «Nämlich das Kind lerne alles tierische Leben heilig halten – kurz man gebe ihm das Herz eines Hindus, statt des Herzens eines kartesischen Philosophen.» Und ein lange gepflegtes Haustier solle auch nie vor den Augen des Kindes geschlachtet werden. Von langen Reisen rät er entschieden ab, denn es «verwüstet das Kind».

Vage Empfehlungen zum plötzlich auftretenden Geschlechtstrieb

Im Umgang mit dem stummen und doch plötzlich auftretenden «Geschlechtstrieb» –  jenem «Sprunge zur Geschlechts-Kraft» – fühlt sich Jean Paul gedrängt, auch einen «Absatz über die Verhütung der Wollustsünden» zu liefern, was ihm sichtlich schwer fällt, denn es bleibt bei einer vagen Empfehlung: «Doch geht hieraus für die geistige Stufenzeit des zwölften oder funfzehnten Jahres voll Revolution und Evolution die Regel hervor: Mischt die Geschlechter, um sie aufzuheben;» Von Knaben- und Mädchenschulen hält er nicht viel.

Siebtes Bruchstück: Entwicklung eines geistigen Bildungstriebes

Unter dem geistigen Bildungstrieb versteht Jean Paul jenes menschliche Bestreben, das «nach und durch Willen schafft, nämlich die neue Idee aus den alten Ideen», und er bezeichnet ihn als «das Abzeichen des Menschen». Er verabscheut das «anhäufende Vorlehren», denn dieses liefere dem Bildungstrieb nur Stoffe, nicht aber Reize und Kräfte. Werkstätten, in denen «ein Handwerker nach dem andern den hospitierenden Kindern sein Gewerbe lebendig vorlegte», sind sein grosses Vorbild. (Heute würde man in diesem Zusammenhang von ausserschulischem Lernen sprechen.)

Statt »Sprachen-Lernen» plädiert er in einem ganzheitlichen Sinne für «Sprach-Lernen» und er setzt auf die «Hörlust», die im Kinde angelegt sei. Die Muttersprache ist für ihn «die unschuldigste Philosophie und Besonnenheits-Uebung für Kinder.» Beim Sprach-Lernen solle man sich nicht vor Unverständlichkeit fürchten, denn «eure Miene und euer Accent und der ahnende Drang zu verstehen, hellet die eine Hälfte und mit dieser und der Zeit die andere auf.» Man solle dem Kind gegenüber immer einige Jahre voraus sprechen: «mit dem einjährigen sprecht, als sei es ein zweijähriges, mit diesem, als sei es ein sechsjähriges», und dann folgt wieder einmal eine Begründung für sein zentrales Plädoyer einer pädagogischen Demut und Bescheidenheit: «Bedenke doch der Erzieher, welcher überhaupt zu sehr alles Lernen, den Lehrern zuschreibt, dass das Kind seine halbe Welt, nämlich die geistige ja schon fertig und belehrt in sich trage…»

Früh lernen, eigene Gedanken aufzuschreiben. Jean Paul beim Schreiben in der Gartenlaube.

 

Neben dem Hören und Lesen ist Jean Paul das Schreiben «ein noch engerer Isolator und Lichtsammler der Ideen als das Sprechen.» Dabei sollten die Kinder – konkret spricht er nur von den Knaben ! – lernen, früh eigene Gedanken aufzuschreiben und nicht einfach nachzuschreiben. Am besten würde sich dafür die Briefform eignen. Das Prinzip der Wiederholung sei keine «Spiralfeder der Aufmerksamkeit» und diese könne, gleich wie ein Trieb, weder eingepredigt noch eingeprügelt werden.

Und in Bezug auf die Dauer der eigeforderten Aufmerksamkeitsspanne nimmt er Bezug auf die katholische Kirche: «Den Jesuiten verbieten die Ordensregeln, längere als zwei Stunden zu studieren; – eure Schulordensregeln aber gebieten den Kleinen, so lange zu studieren, d.h. aufmerksam zu sein, als ihr im Alter dozieren könnt;» Und wichtig ist ihm auch, dass es keine Aufmerksamkeit auf alles gebe, denn «keine Kugel ist ganz zu sehen…» Und die Bereitschaft zur Aufmerksamkeit hänge mit dem Interesse an der Sache zusammen.In seinen eigenen zwei «Winkelschulen», an denen er unterrichtete, ist er auf die Lernmethode der »witzigen Aehnlichkeiten» und der Verknüpfung verschiedener Wissensgebiete gekommen. Er machte daraus das Schreibbuch «Bonmots Anthologie meiner Eleven». Hier ein paar Beispiele für diese Spielstunden des Witzes:

Der Knabe G., 12 Jahre alt: «Der Mensch wird von vier Dingen nachgemacht, vom Echo, vom Schatten, Affen und Spiegel. / Die Luftröhre, die intoleranten Spanier und die Ameisen dulden nichts Fremdes, sondern stossen es aus. / Die Alten brauchen einen Gott, um nur alle ihre Götter zu merken.»

 

Das Mädchen W., 7 Jahre alt: «Die Welt ist der Leib Gottes. / Wenn der Puls schnell geht, so ist man krank, wenn er langsam geht, ist man gesund. So bedeuten die Wolken, wenn sie schnell gehen, schlechtes Wetter, und wenn sie langsam gehen, gutes Wetter.»

 

Das Gedächtnis ist gemäss Jean Paul kein schaffendes Vermögen, sondern nur ein aufnehmendes. «Hingegen die Erinnerung, die schaffende Kraft, aus gegebenen Gedächtnis-Ideen eine folgende so frei zu wecken und zu erfinden, oder zu finden, als Witz und Phantasie die ihrigen – diese dem Tiere versagte Willkür und mehr dem Geist gehorchend und daher mit dessen Ausbildung wachsend, – diese gehört ins Reich des Erziehers.» Weitläufig erzählte Geschichten seien die beste Verbindkraft der Erinnerung. Und es tönt schon fast wie Tipps aus der heutigen Hirnforschung, wenn er meint: «Einer einzigen Sache erinnert man sich schwerer, als vieler verknüpfter auf einmal.» Auch hier kann er es nicht lassen, seine Geschlechterstereotypen  aufs Tapet zu bringen: «die Frau behält ebenso schwer Büchertitel, als ihr gelehrter Mann die Namen der Modezeuge;»

Achtes Bruchstück: Ausbildung des Schönheits-Sinnes

Zu Beginn folgt gleich eine Warnung: «Nichts ist gefährlicher für Kunst und Herz, als Gefühle zu früh auszudrücken.» Die Welt der durch äussere Sinne bedingten Schönheiten der Malerei, Musik und Baukunst sollen dem Kind früher vermittelt werden als die Dichtkunst, denn «vor dem dreizehnten oder vierzehnten Jahre, also vor der knospenden Mannbarkeit (…)  sind dem Kinde die poetischen Blumen so sehr getrocknete Arzneipflanzen». Knabe und Kind werden hier wieder synonym verwendet. Doch Reime und Verse könnten schon vor der Pubertät vermittelt werden: «Der Reim erquickt das roheste, wie das jüngste Ohr.» Wenn es um die Erziehung des inneren Sinnes gehe, solle zuerst das Nächste gereicht werden, also zuerst die «vaterländische Wirklichkeit» der Dichter. Zur Bedeutung des Lateinunterrichtes stellt er die Frage: «aber warum entheiligt man diese kanonischen Schriften des Geistes zu Buchstabier- und Lesebüchern?» Für Jean Paul hat die Vermittlung der Antike eine zentrale Bedeutung: «Die jetzige Menschheit versänke unergründlich tief, wenn nicht die Jugend vorher durch den stillen Tempel der grossen alten Zeiten und Menschen den Durchgang zum Jahrmarkte des späteren Lebens nähme.»

Neuntes Bruchstück oder Schlussstein

In den ersten fünf Jahren rät Jean Paul vom Lernzwang ab, «damit der Körper zum Träger der künftigen geistigen Schätze erstarke.» In  späteren Jahren würde das Unterrichten immer mehr mit dem Erziehen zusammenfallen. Als beste Vorschule gelehrter Bildung empfiehlt er den «Dreiklang der Bildung», bestehend aus Latein, Mathematik und Geschichte. Weshalb Latein? Seine Antwort lautet kurz und bündig: «Sprachkürze gibt Denkweise.» Mathematik: «Messkunst als Vermittlerin zwischen sinnlicher und intellektueller Anschauung». Und die Historie: «Geschichte vermählt als eine Religion alle Lehren und Kräfte».

Was sind denn eigentlich Kinder?

Gegen Ende des letzten Kapitels folgt eine berührende Beantwortung der Frage: «Was sind denn eigentlich Kinder?» Hier seine Antwort: «Nur die Angewöhnung an sie und ihre uns oft bedrängenden Bedürfnisse verhüllen den Reiz dieser Seelengestalten, welche man nicht weiss schön genug zu benennen, Blüten, Tautropfen, Sternchen, Schmetterlinge. – Aber wenn ihr sie küsst und liebt, gebt und fühlt ihr alle Namen.»

Drum sag ichs noch einmal: «Ueberall das Ganze meinend»

Nun haben wir uns durch alle neun Bruchstücke dieses pädagogischen Werkes von Jean Paul durchgearbeitet. Es war ein hartes Stück Arbeit, «denn klare Aussagen zum Thema Erziehung sucht man hinter der verschnörkelten, blumigen, oft abschweifenden Sprache von Jean Paul fast verzweifelt und oft vergebens», wie es die Erziehungswissenschaftlerin Liselotte Lüscher in der Rubrik «Vorgestellt» der «vpod bildungspolitik» (Nr.234) nüchtern feststellt. Und doch ehrt sie den Schriftsteller und engagierten Pädagogen mit dem Titel: «Anwalt der Kinder». Ja, das war er. Seine Liebe zu den Kindern ist glaubwürdig. Sein oft vorgetragenes Plädoyer für Heiterkeit ist berührend. Und immer wieder ist er darum bemüht, das Ganze zu sehen.

«Erziehung bewirke wenig», sagt er einmal, und diese heitere pädagogische Bescheidenheit ist für mich das zentrale Vermächtnis: «der Mensch ist früher als der Bürger und unsere Zukunft hinter der Welt und in uns grösser». Mit seiner «Weltweisheit», seiner unorthodoxen Religionspädagogik, seiner schwärmerischen Verehrung gebildeter Frauen, der Kinder und der «Wilden», seiner unerschöpflichen Phantasie, seiner unvermittelt scharfen Gesellschaftskritik und seiner Betonung der Bedeutung der ersten Lebensjahre ist er ein interessantes Abbild der Zerrissenheit jener Zeit, in der die Aufklärung, das Erdbeben der Französischen Revolution und die sich zunehmend wie ein Lavastrom den Weg bahnende Industrielle Revolution das ganze Leben in einem Masse auf dem europäischen Kontinent umpflügten, dass es kaum auszuhalten war.

Seine Liebe zu den Kindern ist glaubwürdig. Sein oft vorgetragenes Plädoyer für Heiterkeit ist berührend. Und immer wieder ist er darum bemüht, das Ganze zu sehen.

 

Und dies nicht nur für das «häusliche Schaltier» Jean Paul, wie ihn der Germanist Pfotenhauer einmal charakterisiert. In der Zeit in Bayreuth, als er daran war, die «Levana» zu verfassen, zog er sich oft in «sein spärlich möbliertes Arbeitszimmer – keine Gemälde, keine Kupferstiche, kaum eigene Bücher, wenige entliehene» zurück, so der Biograph. Aber Tiere hatte er, und die störten ihn nicht bei der Arbeit: Da ist der «Schoosspitz», vorübergehend auch zwei weitere Hunde, eine Dohle, die aus seinem Tintenfass spritzte «wie ein Rezensent», ein Kanarienvogel, ein Eichhörnchen und zwei Laubfrösche zum Zweck der Wetterprophezeiung.

Jean Paul wird zunehmend zum Sonderling, der seine äussere Erscheinung vernachlässigt und der sich partout nicht an die Hausregeln der geselligen Bayreuther Vereinigung «Harmonie» halten will, wonach Hunde nicht in den Conversationssaal mitgebracht werden durften.

So werden täglich aus der stummen, unbekannten Welt diese reinen Wesen auf die wilde Erde geschickt, und sie landen bald auf Sklavenküsten, Schlachtfeldern, in Gefängnissen zur Hinrichtung, bald in Blütenthälern und auf reinen Alpenhöhen an, bald im giftigsten, bald im heiligsten Jahrhundert und suchen nach dem Verlust des einzigen Vaters den adoptierenden hier unten.

 

Lassen wir zum Schluss Jean Paul selber mit seinen abschliessenden Worten in der «Levana» zu Wort kommen: «Ein erstes Kind auf der Erde würde uns als ein wunderbarer ausländischer Engel erscheinen, der, ungewohnt unserer fremden Sprache, Miene und Luft, uns sprachlos und scharf, aber himmlischrein anblickte, wie ein Raphaelisches Jesuskind, und daher können wir jedes neue Kind auf ewig an Kindes Statt erwählen, nicht aber jeden fremden Freund an Freundes Statt. So werden täglich aus der stummen, unbekannten Welt diese reinen Wesen auf die wilde Erde geschickt, und sie landen bald auf Sklavenküsten, Schlachtfeldern, in Gefängnissen zur Hinrichtung, bald in Blütenthälern und auf reinen Alpenhöhen an, bald im giftigsten, bald im heiligsten Jahrhundert und suchen nach dem Verlust des einzigen Vaters den adoptierenden hier unten. Ich dachte einmal mir eine Dichtung vom jüngsten Tage und den letzten zwei Kindern: – das Ende davon mag hier stehen und wieder beschliessen.»

 

(* Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Karl Lange in der «Bibliothek Pädagogischer Klassiker» herausgegebene «Levana», die 1892 in Langensalza in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen ist. Der Text kann aber auch online und kostenlos beim Projekt Gutenberg gelesen werden.)

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Ein Kommentar

  1. N[icht nur ein patriarchalisches Menschenbild, in dem Mann und Frau ihre festen Rollen einnehmen, prägt Jean-Pauls Denken, sondern auch ein konservativ ständisches. Er widmet seine Erziehlehre als “untertänigstgehorsamster” Verfasser “mit tiefer Ehrfurcht” der bayerischen Königin Caroline. Diese spricht er als Landesmutter an. So wie die Mutter “in jedem tiefen Stande” “die Sonne ist, welche den Morgentau der ersten Tränen sanft erwärmt und trocknet”, so ist Königin Caroline eine noch “innigere” Sonne, die “eine weite Zukunft erwärmt” und “ferne Zeiten und Länder beglückt”. Seine Rollenzuschreibung der Frauen ist wohl nicht abwertend, sondern funktional zuordnend aufzufassen. In der Widmung erhebt er die Fürstin metaphorisch zu stellarer Grösse, eine Apotheose des Mütterlichen.

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