21. November 2024
Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch

Die Bildungsforschung hat keinen grossen Erkenntnisgewinn gebracht

Mit etwas Verspätung – am Montag, statt am Sonntag – veröffentlichen wir den Sontagseinspruch von Professor Wolfgang Kühnel, der uns den leider verstorbenen Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke in Erinnerung ruft. Der “Weisse Rabe” der Erziehungswissenschaft erklärt uns auch den wichtigen Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten.

Normalerweise diskutieren wir aktuelle Entwicklungen, den letzten internationalen Test, seltsame neue Lehrpläne, eine Fehlentscheidung wichtiger Institutionen, die Einrichtung einer neuen Kommission, die Digitalisierung, das Wirken unternehmensnaher Stiftungen usw.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Heute möchte ich ausnahmesweise auf etwas zurückgreifen, das vor 20 Jahren formuliert wurde, aber doch eine erstaunliche Aktualität zu besitzen scheint. Würde man das Datum der Veröffentlichung nicht sehen, könnte man das für einen aktuellen Beitrag halten, dabei war der Autor weder Hellseher noch hatte er prophetische Gaben. Es geht um den folgenden Text von Hermann Giesecke (1932-2021), bekannt als so etwas wie ein Altmeister der Pädagogik in Deutschland:

http://www.hermann-giesecke.de/erzwiss.pdf

Seine legendäre Formulierung “So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu” haben vermutlich die meisten schon gesehen.

Neben solchen grundsätzlichen Äußerungen sollte man aber auch seine Einschätzung zu der modernen empirischen Bildungswissenschaft und dem damit zusammenhängenden “pädagogisch-

9. August 1932 in Duisburg; † 4. September 2021 in Lenglern, deutscher Erziehungswissenschaftler: Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Milieu.

industriellen Komplex” (das Wort fällt auf S. 155 unten) beachten. Das ist durchaus aktuell: Auf der gerade zu Ende gegangenen Didacta 2024 in Köln wurde man von dieser Reklame-Glitzerwelt der Bildungsindustrie geradezu erdrückt. Das Heil scheint nur noch in der profitablen Digitalisierung zu liegen, anderes gibt es nicht mehr.

Schon der dritte Satz spricht von einem “Auseinanderdriften” der Wissenschaft und der schulischen Praxis. Und dann heißt es: “Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen der Erziehungswissenschaft?”

Immerhin sind die ersten PISA-Studien bereits in die Diskussion einbezogen und waren vielleicht sogar ein Anlass für Giesecke, das zu schreiben: “Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten.” Auf der zweiten Seite stellt er fest: “Die Praxis hat ihre eigene Logik …

Unsere Bildung wird nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”.

Deshalb sind alle Versuche unbefriedigend geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine gewünschte Richtung zu steuern.” Da mögen allen Mitgliedern aller “Steuerungsgruppen” im Bildungswesen die Ohren klingen, besonders von dieser hochrangigen Steuerungsgruppe, besetzt mit Staatssekretärinnen und Staatssekretären:

https://www.bildungsbericht.de/de/autor-innengruppe-bildungsbericht/autorengruppe#1

“Bildungsmanagement” heißt das heute, unsere Bildung wird also nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”. Da kann wohl jeder froh sein, der seine Bildung noch in der Zeit vor dem “Bildungsmanagement” erworben hat.

Bildungsmanagement: Der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis ist sehr gering.

Und es geht um die “Erwartungen der politischen Öffentlichkeit”: “Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen Bildungsforschungen Handlungsanweisungen … Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.” Dass das in den 20 Jahren der bisherigen PISA-Tests so einfach nicht funktioniert hat, wissen wir heute, aber Giesecke erklärt eine prinzipielle Unmöglichkeit schon auf der dritten Seite, weil “der Ertrag  der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis sehr gering ist.” Er spricht von einer “künstlichen und auf den Forschungszweck hin konstruierten Wirklichkeit, die mit der, die dem Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat.”

Das gipfelt neuerdings in den nationalen IQB-Tests darin, dass es als Ergebnis immer heißt, x Prozent der Teilnehmer hätten leider die Mindeststandards verfehlt, andererseits aber fast niemand weiß, wie diese Mindeststandards genau aussehen. Die Lehrer wissen nicht, was sie  machen sollen, damit ihre Schützlinge die Mindeststandards erreichen.

Die KMK hat nur Regelstandards veröffentlicht, und die haben andere Ansprüche, sie sollen wohl — grob gesagt — der Schulnote “befriedigend” entsprechen, die Mindeststandards dagegen dem, was (nahezu) ALLE erreichen sollen, so die theoretische Vorstellung.

Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können.

Hinzu kommt, dass in all diesen Tests nicht das geprüft wird, was vorher gelehrt und gelernt wurde, sondern bewusst anderes, nämlich übergreifende “Kompetenzen”.

Genau diese Frage stellt auch Giesecke: “Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann?” Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können. Man definiert die Verbesserung des Unterrichts dann über die Verbesserung der Testergebnisse, aber alle wissen, dass in die Testergebnisse so viele andere (z.B. soziale) Faktoren eingehen, dass man das praktisch gar nicht trennen kann. Jeder kennt die achselzuckenden Statements der prominenten Empiriker, dass sie zu den Ursachen der Ergebnisse und ihrer Veränderungen natürlich keine Aussage machen können, sie messen ja nur. Dann kann aber auch niemand wissen, wie man diese Ergebnisse nun effizient beeinflussen kann.

Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.

Giesecke listet auf Seite 154 als mögliche Ursachen auf: “das Desinteresse vieler Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als Resultat der Demontage der Schule als staatliche Institution gedeutet wird; die Verrechtlichung des Lehrerdasein, die sanktionierende Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim erstickt von bürokratischer Gängelung und materieller Unterausstattung ganz zu schweigen.”

Korrelation hat nichts mit Kausalität zu tun.

Und dann steht auf derselben Seite unten der Kernsatz, den am besten alle auswendig lernen sollten: “Die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen ist nämlich das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.”

Die empirische Bildungswissenschaft überschüttet uns geradezu mit Millionen von statistischen Korrelationen, aber die Klärung von Kausalitäten hält damit nicht annähernd Schritt. Nur eine Korrelation habe ich in den großen Testberichten von PISA & Co nie gesehen: Die zwischen Intelligenz (also IQ nach einem der üblichen Intelligenztests) und Testerfolg. Da redet man nur etwas verschämt von “kognitiven Fähigkeiten”, die aber als solche nicht mit Punkten oder Stufen versehen werden. Böse Zungen vermuten gerade in diesem Fall eine Kausalität, und zwar weitgehend unabhängig von dem Wirken der Lehrer, deren praktische Einflussmöglichkeiten nicht so einfach durch statistische Korrellationen beschrieben werden können. Auf Seite 164 heißt es dazu: Politik und Wissenschaft “sehen in den Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was durch die Output-Orientierung  der Bildungsforschung noch verstärkt wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun. …

Warum ist es so schwierig, gewissen Kindern Basiskompetenzen beizubringen.

Die Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B. öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, WARUM es gegenwärtig kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen beizubringen.” Obwohl wir in Zeiten ständiger Meinungsforschung leben und fast täglich erfahren, wie viele Wähler nun welche Partei wählen würden, scheint es kaum repräsentative Umfragen unter Lehrern zu den vieldiskutierten und heiklen Themen (etwa zu Disparitäten bei den Ergebnissen oder zum Abwärtstrend in den letzten 10 Jahren) zu geben.

Und so nebenbei wendet sich Giesecke auch noch dem ewigen Zankapfel der deutschen Bildungspolitik zu, dem Schulsystem (Seite 163):

“Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion. Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse die Mängel des  dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere Variante zu plädieren,  als sei das wissenschaftlich geboten.”

Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern? Das dreigliedrige Schulsystem ist schuld!

Tatsächlich hatten wir damals und haben wir heute einen Mainstream in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, der fest daran zu glauben scheint, dass das dreigliedrige System ursächlich für vieles ist, was man lieber nicht hätte: Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern usw. Aber wieder ist die Kausalität nicht stringent begründet. Schon in Frankreich mit seinem einheitlichen Schulsystem gibt es dieselben Probleme, es gibt sogar noch mehr Schulabbrecher, und auch bei PISA rangiert Frankreich bei den sozialen Disparitäten stets hinter Deutschland, Luxemburg und Ungarn auch.

Einen gewichtigen Nachteil des gegliederten Systems kennen alle: Das ist der kritische Moment des Übergangs von einer einheitlichen Grundschule in mehrere Varianten einer weiterführenden Schule. Dass dabei Fehler passieren, ist prinzipiell nicht vermeidbar. Aber nur Giesecke scheint zu thematisieren, dass auch ein einheitliches System eben Nachteile und Fehlermöglichkeiten haben könnte, die aber gleichwohl in der Mainstream-Argumentation noch nicht einmal benannt und untersucht werden sollen. Was ist das für eine Wissenschaft, die bestimmte Fragen nicht zulässt (oder gar per se als “verboten” oder in der Politik als “rechtes Gedankengut” betrachtet)?

Wenn die Grundschule 9- oder 10-jährig wäre und es danach um den Übergang auf ein 2- oder 3-jähriges “Stummelgymnasium” ginge, wie gerecht wäre denn da der Übergang? Wie will man das bewerkstelligen, ohne dass wieder im Gymnasium die höheren sozialen Schichten  überrepräsentiert sind?

Es sei auch an so manche “wissenschaftliche Eintagsfliege” erinnert. Als die Werte für Deutschland bei der IGLU-Studie nach oben gingen, bei PISA aber weiter schwach waren, jubelten diejenigen, die es schon immer wussten: “Das nicht gegliederte Schulsystem ist einfach leistungsfähiger und gerechter dazu”, z.B. hier:

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/laengeresgemeinsameslernen/vortrag_prof_bellenberg_5.2.2010.pdf

Schon wenige Jahre später gingen auch die Werte bei IGLU nach unten und bei den nationalen Grundschultests des IQB ebenfalls. Die Eintagsfliege war gestorben.

Auch Klaus-Jürgen Tillmann, bekannt durch seine Bielefelder Laborschule, hat in dem Band “Hamburg macht Schule” (Sonderheft 2009) auf Seite 14  verkündet, die 6-jährige Grundschule sei der 4-jährigen überlegen, weil die damaligen Testergebnisse in Berlin besser ausfielen als in Hamburg bei ansonsten vergleichbaren Verhältnissen. Nur leider war es schon 10 Jahre später genau umgekehrt, womit auch diese Eintagsfliege verschwunden ist. Korrelationen ändern sich von Test zu Test, Kausalitäten aber bleiben etwas länger. Jedenfalls sollte man wohl davon ausgehen können.

Festzuhalten bleibt: Giesecke beschrieb vor 20 Jahren ziemlich genau die Probleme, die wir auch heute haben. Und konsensfähige Lösungen sind damals wie heute nicht in Sicht. Aber dieser Aufsatz ist aus einem Geist heraus geschrieben worden, der uns Hoffnung machen kann. Es lohnt sich, den ganzen Artikel zu lesen und mit der aktuellen Situation zu vergleichen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Vor fünfzig Jahren, am 5. Dezember 1973, hat sich Hans Peter Tschudi nach vierzehn sehr erfolgreichen Jahren im Bundesrat von der Vereinigten Bundesversammlung verabschiedet. Gewählt worden war der Basler Regierungsrat und Ständerat als «wilder» Kandidat am 17. Dezember 1959. Der 46-jährige Basler Sozialdemokrat setzte neue Massstäbe. Der Professor für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht erhielt mit dem Departement des Innern (EDI) eine Schlüsselstellung in der Landesregierung. Worüber man aber weniger weiss, ist die Tatsache, dass Tschudi auch in der Bildung starke Spuren hinterliess. Der Historiker Charles Stirnimann hat dem ersten Basler Bundesrat in einem Beitrag der bz eine Würdigung erwiesen. Wir veröffentlichen hier eine gekürzte Version, welche den Bildungspolitiker Tschudi und seinen bemerkenswerten Werdegang in den Mittelpunkt rückt.

3 Kommentare

  1. Der Artikel bestätigt, was der bekannte Schweizer Heilpädagoge Emil E. Kobi vor vierzig Jahren formuliert hatte:
    „In der Tat wurde im pädagogischen Bereich wahrscheinlich noch nie so viel geforscht und zugleich so wenig bewirkt wie in unserer Zeit, und das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag droht sich zunehmend zuungunsten des letzteren zu verschieben.“ (Emil E. Kobi 1984, S. 34)

  2. Bildung muss m. E. nicht erforscht sondern gelebt werden. Was in den letzten drei Jahrzehnten erforscht und umgesetzt wurde, hat der Bildung ausschliesslich geschadet.

  3. Wenn sich die Bildungsforschung auf das Glatteis der Unterrichtsgestaltung begibt, verliert sie bald einmal ihren festen Stand. Der Beitrag von Wolfgang Kühnel deckt auf, dass von den Erziehungswissenschaften wenig Konkretes zur Verbesserung des Unterrichts zu erwarten ist. Am deutlichsten zeigt sich diese Hilflosigkeit bei der Krise des Deutschunterrichts an unserer Volksschule. Schon seit bald zwanzig Jahren ist bekannt, dass ein erheblicher Teil unserer Schulabgänger Mühe mit dem Verstehen einfachster Texte hat und sich mit der deutschen Sprache schwertut. Die Schwachstellen wurden in verschiedenen Untersuchungen mehrfach bestätigt. Laut dem als Erfolgsgarant bezeichneten neuen Steuerungskonzept der Lehrplan-Verantwortlichen der EDK sollte jeweils dort der Hebel angesetzt werden, wo ein klarer Handlungsbedarf besteht. Doch das hochgelobte Steuerungskonzept hat völlig versagt. Bereits ist viel Zeit verstrichen und eine Wende zum Guten ist bei der Deutschförderung nicht in Sicht.
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