21. Dezember 2024
Verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler

Eine Erosion des Bildungswesens

Als vor bald 20 Jahren in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, gab die Bildungspolitik unter dem Stichwort “Inklusion” ein grosses Versprechen ab: Alle Kinder, egal, wie verschieden sie sind, sollen einen Platz in den Regelklassen finden – unabhängig von Lernschwierigkeiten, schulischer Begabung, psychischen Problemen oder Verhaltensstörungen. Die “Inklusion” ist eines der grossen Dogmen der Bildungsreformer. Aber was gut gemeint ist, stösst in der Praxis an Grenzen. Die Sonntagszeitung veröffentlichte vor kurzem einen Bericht eines anonymen Lehrers, der bald eine 9. Klasse aus der obligatorischen Schulzeit entlassen wird. Fazit: Kaum notiert von der Öffentlichkeit, stellen wir eine eigentliche Erosion der Bildungsqualität fest. Opfer sind wie immer die unterprivilegierten Kinder und die Einwanderergeneration. Der Autor ist der Redaktion der Sonntagszeitung bekannt.

Eigentlich bin ich Mathematik-, Naturkunde- und Physiklehrer. Der desolate Lehrkräftemangel machte es aber nötig, dass ich während meines Einsatzes an dieser Schule abwechslungsweise als Troubleshooter auch noch Französisch, Englisch, Deutsch und Geschichte unterrichten muss. Das ist nicht weiter tragisch. Erstens besitze ich aufgrund meiner seminaristischen Ausbildung ein Generalpatent, das heisst, ich bin befugt, alle Fächer zu unterrichten, und zweitens ist es von Vorteil, dass diese schwierige Klasse nicht zu viele Lehrkräfte hat.

Zunächst einmal ein kleines Soziogramm: Von den 24 Schülerinnen und Schülern dieser 9. Klasse, die ich vor zwei Jahren übernommen habe, sind 13 Knaben und 11 Mädchen. Sage und schreibe 8 Schülerinnen und Schüler dieser Klasse können wenige Wochen vor dem Schulabschluss kaum richtig lesen und schreiben. Das ist ein Drittel.

Knapp ein Drittel der Eltern benötigt trotz langjährigem Aufenthalt in der Schweiz bei Elterngesprächen einen Dolmetscher.

Rund 20 von ihnen sprechen zu Hause nicht Deutsch, obwohl 18 der 24 Schülerinnen und Schüler in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind. Knapp ein Drittel der Eltern benötigt trotz langjährigem Aufenthalt in der Schweiz bei Elterngesprächen einen Dolmetscher. Ich unterrichte eine sogenannte integrierte Klasse. In der Stammklasse sind alle Schulkategorien versammelt: wir haben 11 Sekundarschülerinnen und -schüler, 7 Realschüler (allesamt Knaben) und 6 Schülerinnen, die einen Realstatus haben, aber kaum auf Realniveau unterrichtet werden können. Sie sind überfordert.

Gravierend sind die ständigen Disziplinlosigkeiten. In meiner Klasse konnte ich sie durch meine langjährige Unterrichtserfahrung unter Kontrolle behalten, aber sie geben zu tun. In den anderen Klassen haben die Frechheiten, die Pöbeleien und Beleidigungen gegenüber dem Lehrkörper massiv zugenommen. «Bitch», “Fick dini Fotze” und die ostentative Weigerung, Anweisungen von Lehrkräften zu befolgen, geschehen wöchentlich. Die Hälfte der Knaben-WC’s an unserer Schule musste wegen Vandalismus geschlossen werden.

Ausserschulische Anlässe sind zwar gern gesehen, werden aber immer wieder durch lustloses, undiszipliniertes Auftreten gestört. Dazu ein Beispiel: Bei einer Velotour kam es zu drei Unfällen und in der Badi gingen von 20 Schülerinnen und Schülern nur 6 ins Wasser.

Verzweifelte Eltern verteidigen ihre Kinder

Viele Lehrpersonen sind am Ende ihrer Kräfte und versuchen dennoch, den Karren zu ziehen. Die Schulleitung spricht Schulverweise aus, was einen enormen administrativen und zeitlichen Aufwand bedeutet. Bis zu einer Woche liegt in ihrer Kompetenz. Verzweifelte Eltern, die mit ihrem Nachwuchs selbst nicht mehr zu Rande kommen, verteidigen ihre Kinder, verbünden sich mit ihnen gegen die Lehrkraft, in der Hoffnung damit etwas Goodwill in den eigenen vier Wänden “einzukaufen”, nach dem Motto: “Schau, wie ich mich für dich einsetze, und jetzt sei du doch etwas lieber mit mir.”

Viele Familien, deren Kinder in der Schule Schwierigkeiten verursachen, befinden sich in einem sozialen Sondersetting, haben z. B. eine Familienbegleiterin. Nach einem Unterrichtsrauswurf lief ein Achtklässler zu seiner Familienbegleiterin ins Büro und erzählte ihr seine Version der Dinge. Die junge Sozialarbeiterin nahm den Hörer und telefonierte der Schulleiterin, nicht etwa, um den genauen Sachverhalt zu eruieren, sondern um der Schulleiterin empört mitzuteilen: “Man hat K. angeschrien.”

15 bis 20 Prozent kommen einer Verdreifachung der problematischen Fälle gleich

Die Schulen haben hier schon manche Sturmphase überstanden und immer wieder gelang es den Lehrkräften einen einigermaßen geregelten Unterricht zu garantieren. Bis vor kurzem legten etwa 5 Prozent der Schülerinnen und Schüler die soeben geschilderten Verhaltensweisen an den Tag und zeigten sich in irgendeiner Weise lernresistent. Mit 95% der jungen Menschen konnte man jeweils arbeiten. Inzwischen ist dieser Anteil an den Schulen in meiner Gemeinde teilweise auf bis zu 20 Prozent gestiegen. Das bedeutet zwar immer noch, dass 80 bis 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler gut arbeiten und sich anständig benehmen. Aber 15 bis 20 Prozent kommen einer Verdreifachung der problematischen Fälle gleich. Das heisst dreimal so viele Elterngespräche, dreimal so viele Anmeldungen bei den dafür vorgesehenen Institutionen, eine Verdreifachung der Wartezeiten.

Als Lehrkraft habe ich alle Hände voll zu tun, die Disziplin aufrecht zu erhalten.

Ein Problem ist auch der grosse Absentismus. Absenzen bis zu 60 Lektionen und mehr pro Jahr sind nicht mehr die Ausnahme sondern bilden die Mehrheit. Als Lehrkraft habe ich alle Hände voll zu tun, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Das erreiche ich, indem ich eine  strenge Linie fahre, durch ständigen Kontakt mit den Eltern, der Entfernung aus dem Unterricht bei Unterrichtsstörungen und Verfrachtung in Sondersettings.

Ich habe schon sehr viele Neuntklässler in das Berufsleben entlassen und stelle fest: Das Lernverhalten in meiner jetzigen Klasse, in der ich seit etwa zwei Jahren unterrichte, ist bei einem Drittel der Schülerinnen und Schüler immer noch völlig unterentwickelt, das Können liegt weit unter einem Niveau, das ich als normal taxieren kann. Gerade im Fach Mathematik beherrscht die Realgruppe grundlegende Kompetenzen beim Bruchrechnen, bei den proportionalen Zuordnungen oder gar in der Algebra nicht. Einfache Volumen- und Quaderberechnungen gehen. Ist allerdings das Volumen gegeben und die Höhe gefragt, ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Berechnungen mit der Dichte? Keine Chance! Geschwindigkeitsberechnungen? Nie durchgenommen.

Oberstes Prinzip: Kein Chaos, die Schülerinnen und Schüler müssen lernen können.

Es ist in der Stammklasse unmöglich einigermassen komplexe geschichtliche Zusammenhänge spontan zu diskutieren. Für einen Drittel braucht es immer Spezialaufgaben, die aber kaum selbständig, sprich ohne Aufsicht  gelöst werden. Dozieren geht, konkrete Fragen, die einfache Antworten verlangen, gehen. Einzel- und Gruppenarbeiten funktionieren bei der Hälfte dieser Schülerinnen und Schüler kaum. Der Unterricht macht daher auch mir selbst sowie den Schülerinnen und Schülern wenig Spass. Ich musste die Sitzordnung dahingehend ändern, dass ich keine Lerninseln mehr zulasse. Hufeisen und Einzelpulte stärken einen lehrerzentrierten Unterricht. Oberstes Prinzip: Kein Chaos, die Schülerinnen und Schüler müssen lernen können.

Am Freitag ist in den 9. Klassen jeweils Projekttag. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in dieser Zeit an eigenen selbstgewählten Projekten. Wir müssten bereits einen Viertel der Schülerschaft vom Projekt ausschliessen und anderweitig beschäftigen. Grund: Sie können es einfach nicht! Die traditionelle Ausstellung der Arbeiten mit Präsentationen müssen wir ausfallen lassen. Erstens ist die Qualität zu schlecht und zweitens kommt die Mehrheit unserer Eltern nicht an solche Schulanlässe.

Ein Dank gilt hier den vielen Betrieben, die es trotz ungenügender Voraussetzungen versuchen wollen.

Die Erosion der Unterrichtsqualität ist nach Corona, dem ständigen Zustrom neuer Schüler sowie wegen den vielen Problemfällen und dem gravierenden Lehrkräftemangel nicht mehr zu kaschieren. So wird nichts mit dem jungen Nachwuchs, der den so dringend benötigten Fachkräftemangel beheben soll.

Mit einem riesigen Einsatz gelang es meinem Team und mir, dass wenige Wochen vor dem Schulabschluss anfangs Juli 18 Schülerinnen und Schüler  einen Lehrvertrag in der Tasche haben. Ein Dank gilt hier den vielen Betrieben, die es trotz ungenügender Voraussetzungen versuchen wollen. Drei Mädchen besuchen eine weiterführende Schule. Bei drei Jugendlichen konnte bislang keine Lösung für eine Integration in den Arbeitsmarkt gefunden werden – sie sind aufgrund ihres Könnens und ihres Verhaltens schlicht nicht vermittelbar.

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Ein Kommentar

  1. Das ist besorgniserregend und beileibe nicht eine Zustandsbeschreibung von Verhältnissen an lediglich dieser einen Schule.
    Die Grundlage für solche Zustände liegt im falschen Erziehungsverständnis betroffener Eltern – seien es Eltern von Migrantenkindern mit zusätzlich noch Sprachproblemen oder Eltern wohlstandsverwöhnter Richkids. Überall dort, wo in opportunistischer Art und Weise Eltern den Kniefall vor ihrem Kind praktizieren, geht es schief, und zwar richtig schief. Und diese Erziehungshaltung ist leider im Zunehmen begriffen…

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