Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat es getan, Gewerbeverbandspräsident Hans-Ulrich Bigler oder Nationalrätin und Ständeratskandidatin Esther Friedli auch: Sie wechselten die Partei. Die Jurassierin Baume-Schneider war in ihren wilden Jahren bei der kommunistischen Sozialistischen Arbeiterpartei und wechselte zur SP, Bigler begann bei der FDP, wurde 2019 aus dem Nationalrat abgewählt und versucht sein Glück nun bei der SVP, und Toni Brunners Berndeutsch sprechende Lebenspartnerin verliess die CVP ebenfalls Richtung SVP.
Aufsehen erregte die Zürcher Kantonsrätin Isabel Garcia: Zwei Wochen nach der Bestätigung im Amt wechselte sie von den Grünliberalen zur FDP und kippte die «Klima-Allianz». Empörungsprofis starteten eine Petition, welche Garcia zum Rücktritt auffordert. Allen gemeinsam: die politische Marschrichtung nach rechts. Die Gegenrichtung ist selten: Der Arboner Lokalpolitiker Lukas Auer wechselte 2021 von der CVP zur SP, damit er Präsident der regionalen Unia werden konnte.
Warum tun sie das? Stellen sie mit den Jahren fest, dass Sozialismus, Etatismus und Planwirtschaft keine bessere Welt erschaffen? Werden mit dem Alter Werte wie Traditionen, Zuverlässigkeit und Sicherheit wichtiger? Mutieren jugendliche Gutmenschen zu altväterischen Egoisten? Die Politikwissenschaft tappt im Dunkeln: Politik-Professor Adrian Vatter von der Uni Bern kann auf Anfrage «keine vertiefte systematische Studie zum Thema» nennen. Sein Kollege Michael Hermann wählte einen anderen Ansatz. Er untersuchte während 30 Jahren das Abstimmungsverhalten und stellte 2015 im Tagesanzeiger fest: «Es ist die Jahrgangsgruppe von 1956 bis 1970, die eine markante Wende vollzogen hat. Einst war dies die progressivste aller Generationen, heute stimmt sie etwas konservativer als der Schnitt.»
Der «Nebelspalter» geht auf die Suche nach weiteren «politischen Migranten» und wird in der Bielerseeregion fündig.
Alain Pichard – Der Tabubrecher
Alain Pichard ist der «bekannteste Lehrer der Schweiz». Der gebürtige Basler begann sein politisches Leben bei der Partei der Arbeit (PdA), war Gewerkschafter und trat später den Grünen bei. Pichard ist ein Lehrer von der Front, unterrichtete während Jahren an einer sogenannten «Brennpunktschule» mit einem Migrantenanteil von 90 Prozent plus. Wegen des akuten Lehrermangels übernahm er kurz nach seiner Pensionierung erneut eine Oberstufenklasse in Biel.
Der junge Lehrer setzte zunächst auf Partizipation und Basisdemokratie. Weil die Schüler deswegen weder motivierter waren noch mehr lernten, wechselte er mit den Jahren zum Prinzip «fördern und fordern». 2006 beging er einen Tabubruch, genauer gesagt zwei: Er verfasste für die VPOD-Zeitung einen Beitrag über Integrationsprobleme an Bieler Realschulen und benannte die problematischsten Volksgruppen. «Weil nicht sein kann, was nicht sein darf», verweigerte der VPOD die Publikation und Pichard veröffentlichte den Artikel «Türken, Albaner, Brasilianer» in der Weltwoche, dem Hofblatt des Klassenfeindes.
Kritik an Sozialindustrie und Lehrplan 21
Obwohl sich das Social-Media-Zeitalter erst am Horizont abzeichnete, brach ein Shitstorm über Pichard und seine Familie herein. «Man beschimpfte mich als Schweinehund und Blocher-Gesellen», erinnert er sich. Schulkameraden seiner Kinder wechselten die Strassenseite, die Grüne Partei Biels erwog Sanktionen bis zum Parteiausschluss. Pichard ging schliesslich von selber. Für die Grünliberalen sass er von 2009 bis 2016 im Bieler Parlament, seit 2022 ist er im Grossen Rat des Kantons Bern. Seine Schwerpunkte waren und sind Bildungs- und Gesellschaftspolitik. Mit scharfer Zunge und spitzer Feder kritisiert er Auswüchse der Sozialindustrie oder das Bürokratenmonster Lehrplan 21. Er betreibt für «Freunde des gepflegten Bildungsdiskurses» den Blog condorcet.ch, verfasst für diverse Medien (auch den Nebelspalter) Artikel und Kolumnen, ist regelmässiger Gast bei Radio und Fernsehen. Sein Credo: “Die Schule ist gut, wenn die Schüler und Schülerinnen in der Schule etwas lernen, und sie ist nicht gut, wenn sie das nicht tun.” Und warum Condorcet? “Der französische Philosoph, Mathematiker und Aufklärer hat eine immense Bedeutung für die Bildungsgeschichte der Schweiz. Und er steht ein für die Erziehung zu Mündigkeit.”
«Sozialismus heisst: Weniger Gerechtigkeit, mehr Armut, weniger Freiheit und mehr Umweltzerstörung.»
Pichard schildert seinen politischen Werdegang: «Ich wuchs in einem sozialdemokratisch geprägten Milieu der 60er- und 70er-Jahre auf.» Seine deutsche Mutter war eine glühende Anhängerin von Helmut Schmidt. Der Vater war aufstiegsorientiert, konservativ, aber ebenfalls eher links. «Meine erste politische Aktion war der Kampf gegen die Schwarzenbach-Initiative als 15-jähriger Gymnasiast.»
«Socialism doesn’t work»
Als Gegner des Vietnamkriegs und beeindruckt von der Widerstandskraft des kommunistischen Vietcongs trat er als 16-Jähriger in die PdA ein. «Auch ein naiver Protest gegen meine amerikafreundlichen Eltern.» Schon damals wirkte Pichard an der Basis: als Vertreter im Schülerrat des Gymnasiums, im Soldatenkomitee in der Armee oder im N5-Komitee als Vogelliebhaber «und vor allem als Gewerkschafter». So gründete er die VPOD-Lehrergruppe in Biel, eine linke Lehrergewerkschaft.
Pichard war mehrfach in der Sowjetunion und lernte Russisch, hatte dort Freunde. Mit den Jahren reifte die Erkenntnis: «Socialism doesn’t work.» Denn Sozialismus heisst: «Weniger Gerechtigkeit, mehr Armut, weniger Freiheit und mehr Umweltzerstörung.» Als die Solidarnosc in Polen verboten wurde, trat er aus der PdA aus. Pichard attestiert der Partei im Rückblick trotzdem eine hohe Authentizität: «Wir haben im Gegensatz zu politischen Aktivisten der POCH und der Revolutionären Marxistischen Liga im Facharbeitermilieu politisiert.» Er fühlte sich unter diesen Leuten immer wohl. “Sie waren solid unterwegs, waren für Umverteilung, hatten nichts gegen billigen Strom und ein Stück Fleisch auf dem Teller, fuhren gerne Auto und legten grossen Wert auf Bildung. Wenn ich verlangt hätte, dass 16-Jährige, die nicht aufstehen wollen, Sozialhilfe bekommen, hätten die mir den Vogel gezeigt.” Ihr Motto: «Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.»
Kritik an tendenziöser Ausstellung
Bei den Grünen gab es zwei Themenbereiche, die intern jeweils heftige Reaktionen auslösten: die Migrationsfrage, «beziehungsweise meine Haltung, dass die Integration keine Einbahnstrasse ist» und sein Engagement für Israel, «ein Teil meiner Verwandtschaft in den USA ist jüdisch». So kritisierte er 2012 eine tendenziöse Ausstellung zur Nakba, der Vertreibung von 700 000 Palästinensern. Pichard, Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Israel, sprach von «Geschichtsklitterung». Das brachte die damalige grüne Gemeinderätin in Bern, Mitglied des Patronatskomiees der Ausstellung und spätere Nationalrätin Regula Rytz auf die Palme. Pichard aber beharrte: Wichtige Fakten würden unterschlagen, «etwa die enge Beziehung des arabischen Grossmuftis zu Hitler oder die Vertreibung von Juden aus arabischen Ländern».
«Innerhalb der Linken ist die Stimmung sehr oft intolerant und ideologisch.»
Bei den Grünliberalen fühlt sich Pichard gut aufgehoben. «Vorschläge zu Problemlösungen prüfen wir unter drei Gesichtspunkten: Bringt die Lösung wirklich etwas? Wie ist der Aufwand im Verhältnis zum Ertrag? Hat die Lösung Nebenwirkungen?» Wenn die Prüfung positiv ausfällt, dann unterstützen die Grünliberalen diesen Vorschlag, «egal woher er kommt». Und: “Wir fallen nicht um, wenn es heiss wird.” In der GLP herrsche ein freier Geist und guter Umgang. Hier werden auch Minderheitsmeinungen akzeptiert. Innerhalb der Linken, «dazu gehören auch die Grünen», sei die Stimmung sehr oft «zum Abschneiden», will sagen «intolerant und ideologisch».
Linke «extrem humorlos»
Zum Phänomen, warum sich Politiker mit den Jahren eher nach rechts orientieren, sagt Pichard: «Dies müsste man noch genauer untersuchen.» Das Links-Rechts-Schema habe indes ausgedient, heute sei es eher eine Milieu-Frage. «Urbane, universitätsnahe und staatsnahe Kreise, Kulturschaffende, Medienleute und Staatsangestellte gegenüber dem produktiven Sektor, Arbeitern, Mittelständlern sowie Unternehmern.» Sind eher rechts eingestellte Personen toleranter als Linke? «So pauschal kann man das nicht sagen», meint Pichard. Aber in der Tendenz würden Linke «sehr oft mit Diffamierung, Kontaktschuld, also wenn man mit den ’falschen Leuten’ zusammen ist, Verboten, Unterdrückung und Canceln» reagieren und zudem «extrem humorlos» daherkommen.
Pichard malt ein düsteres Bild. «Was heute in den Medien und in der Debatte abgeht, muss einem Sorgen bereiten.» Als Linker in den 70er-Jahren sei er nie diesen Druckversuchen ausgesetzt gewesen wie heutzutage Leute, die andere Thesen als den Mainstream vertreten. Diese linke Diskursverweigerung führe auch zu einer flachen intellektuellen Argumentationsfähigkeit. «Die linke Themensetzung ist öde, die Lösungsvorschläge stereotyp und die Diskurskultur ist geprägt vom dauernden Beleidigtsein. Die interessanten Themen kommen heute von der liberal-konservativen Seite.»
Wie recht er hat! Bravo Alain Pichard.