Die Worte der sozialdemokratischen Kantonsrätin drückten ein grosses Erstaunen aus: «Schade, ich dachte die Sache sei klar. Ärzteorganisationen und die WHO fordern seit langem die Einführung von Reanimationskursen in der Schule.» Geradezu martialisch tönte Mitmotionär André Roggli. Er sei schockiert, dass man dagegen sein könne , wenn sich 14-jährige um lebensrettende Massnahmen kümmern sollten.
Ich bin immer gerührt, wenn ich sehe, welche Wirkungsmächtigkeit man der Schule und uns Lehrkräften zutraut. So sollen wir aus dicken Schülern dünne machen, sie zu weniger Gewalt anhalten, sie vor AIDS und Frühschwangerschaft bewahren, sie vom Drogenkonsum abhalten, ihnen einen geordneten Umgang mit Handy und Socialmedia beibringen oder sie bezüglich Rassismus sensibilisieren. Natürlich sollen sie auch biologisch kochen, Rücksicht auf die Natur nehmen, Energie sparen, sich politisch engagieren
Vielleicht werden meine nun folgenden Einsichten als Kränkung empfunden, und ich bitte die Leserinnen und Leser dieses Blogs es nicht weiterzusagen: Nach 44 Jahren Unterrichtserfahrung komme ich zum Schluss, dass die Möglichkeiten von Unterricht beschränkt sind, in gewissen Schulzonen sogar sehr beschränkt. Wir können zurzeit nicht einmal mehr einen lebensrettenden Schwimmstil garantieren. Ein Ratskollege meinte spöttisch: Das ist ja der Grund für diese Motion, wenn die Kinder schon nicht schwimmen können und halbertrunken aus dem Wasser gezogen werden, könnte man sie wenigstens reanimieren.
Die Schule überfordert sich, wenn sie ständig nach Aufgaben sucht, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen.
Doch Spass beiseite. Die Schule überfordert sich, wenn sie ständig nach Aufgaben sucht, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen. Und das hat mit dem Wesen von Unterricht zu tun, die auf Lernprozessen basieren. In das Portfolio einer Lehrkraft gehört ein gewisser Werkzeugkasten zum Aufbau von Wissen und Kompetenz. Das fängt mit der Erfassung des Präkonzepts an, geht zu einer konkreten Problemstellung, welche eine gedankliche Forschungsaktivität auslöst. Dann folgt die Vertiefung, basierend auf Visualisierung, Lektüre und wechselnden Situationsschilderungen. Anschliessend folgen Anwendung und – das geht meistens vergessen – das Üben. Fehlen Elemente dieses pädagogischen Basiskonzepts, werde die Schülerinnen und Schüler den Stoff relativ schnell wieder vergessen.
Wenn man eine Schule aber mit lauter interessanten Kompetenzerwartungen überfrachtet, fehlt die Zeit, die ja ein knappes Gut ist.
Was Frau Walpoth und Herr Roggli anmahnen ist eine Pädagogik des Abhakens. Man macht es und geht dann zum nächsten Thema. Der Treppenwitz dieser Parlamentskomödie ist, dass sie von Parlamentariern vorgebracht wurden, deren Parteien von knapp acht Jahren den Lehrplan mit seiner Outputorientierung vorbehaltlos unterstützt haben. Eines der vielen Ziele dieses Lehrplans war es ja, dass man nicht mehr einfach Stoffe durchnimmt, sondern auch schaut, wie die Wirkung ist, bzw. was die Schülerinnen und Schüler am Schluss können. Kompetenzen aufzubauen, benötigt Zeit. Wenn man eine Schule aber mit lauter interessanten Kompetenzerwartungen überfrachtet, fehlt die Zeit, die ja ein knappes Gut ist. Deshalb gilt es Prioritäten zu setzen und diese mit einem Zeitbudget zu versehen. Tun wir das nicht, haben die Lernenden an unserer Schule Dutzende von interessanten Impulsen eingetrichtert bekommen, beherrschen aber in dieser Hektik ganz basale Kompetenzen nicht mehr. So verlassen 20% unserer Schulabgänger die Volksschule ohne richtig lesen und schreiben zu können.
Deswegen verweigerte Bildung Bern, sonst immer offen für holistische Zielsetzungen, für einmal die Gefolgschaft. Der grüne Parlamentarier Manuel C. Widmer brachte es während der Debatte auf den Punkt: «Wenn der Grosse Rat mittels Motionen immer wieder in den schon heute über dicht gefüllten Lehrplan neue wertvolle Inhalte reinpackt, verringert sich der Handlungsspielraum der Schule.»
Am Ende setzte sich aber die Weltrettungs-Prosa durch. Die Motion wurde in ein Postulat umgewandelt und überwiesen.
Gendern, die Frage ob LBTQB oder I ist viel wichtiger. Und die Mobbingprävention. Und Nachhaltigkeit. Und…
Es tut richtig gut, wenn ein Schulpolitiker wie Alain Pichard endlich einmal mit aller Deutlichkeit sagt, dass die Schule nicht alles übernehmen kann, was aus gesellschaftlicher Sicht wünschbar ist. Leider haben wir einen Lehrplan, der diesen Wünschen weitgehend entgegenkommt. Zwei frühe Fremdsprachen lernen ist toll. Medienkompetenz für Primarschulkinder vermittelt man im Schnellverfahren. Präventionsprogramme verschiedenster Couleur bringt eine moderne Schule problemlos unter einen Hut. Und sehr Verhaltensoriginelle haben selbstverständlich in jeder Regelklasse bestens Platz. Dass vielen Lehrpersonen bei dieser Anspruchshaltung der Gesellschaft allmählich der Kragen platzt, überrascht nicht. Eine Schule, die sich gegen diesen aufgesplitterten Bildungsauftrag nicht entschlossen wehrt, wird zum Ort des oberflächlichen Abhakens von Kompetenzzielen. Es ist dringend nötig, dass wir uns fragen, welche wesentlichen Ziele zum Grundauftrag der Volksschule gehören. Die Bildungspolitik täuscht sich gewaltig, wenn sie glaubt, mit der Einführung des neuen Lehrplans ihre Hauptarbeit abgeschlossen zu haben. Jetzt gilt es, all die mit grossartigen Versprechungen verbunden Bildungsprogramme auf ihre Wirksamkeit zu untersuchen und den Mut aufzubringen, ineffiziente Projekte des Wunschbereichs zu streichen. Das wird unsere Schule weiterbringen.