Das ist mal etwas Neues. Conradin Cramer will sich an diesem späteren Mittwochnachmittag, ganz untypisch für ihn, “dezidiert wehren” – gegen eine Motion von FDP-Grossrat Andreas Zappalà, der “Einführungsklassen an allen Schulstandorten” fordert.
Der Erziehungsdirektor weiss zu diesem Zeitpunkt, dass er mit diesem Anliegen im Grossen Rat scheitern dürfte, zu gross scheint die Zustimmung der Parlamentarier.
Aber was bleibt ihm anderes übrig?
Also wehrt er sich gegen die Forderung, die da lautet: Wenn ein Kind nach dem Kindergarten noch nicht reif für die Primarschule ist, soll es die 1. Klasse in zwei Jahren absolvieren dürfen. In Riehen hat man damit gute Erfahrungen gemacht. Nun soll das überall möglich sein.
Top-down-Entscheid
Cramer sieht das anders. Die Schulhäuser hätten alle unterschiedliche individuelle Massnahmen ergriffen, um die Probleme in den Griff zu bekommen. “Das ist viel besser als eine Zentralisierung, ein Top-down-Entscheid, der für alle gilt.”
Für ihn ist klar: Es braucht im Schulhaus auf dem Bruderholz andere Mittel als im Schulhaus Dreirosen.
Deshalb sind individuelle Umsetzungen, denen auch der Grosse Rat 2019 zugestimmt hat, das bessere Instrument. Also bittet er das Parlament um eine Umwandlung der Motion in einen Anzug – damit die Regierung zwei Jahre Zeit für eine Antwort hat.
Cramer bemüht sich vergebens. Und gerät stark unter Druck, von allen Seiten, was durchaus Seltenheitswert hat. Nur seine Partei, die LDP, und die Hälfte der SP-Fraktion stellen sich hinter ihn.
Ansonsten: eine Salve an kritischen Voten.
“Unsorgfältig”
SP-Grossrätin Sasha Mazzotti, selbst Kindergärtnerin, hält die individuellen Massnahmen der Schulhäuser für wenig aussagekräftig (“unsorgfältig”, “Copy/paste”). Sie kritisiert die heutige Praxis scharf: “Oft ist es so, dass man einfach eine zusätzliche Heilpädagogin in den Kindergarten steckt, damit ein entwicklungsverzögertes Kind doch noch in die 1. Klasse kommt. Am Gras ziehen, dass es schneller wächst: ein super Beispiel, das nie funktioniert.”
Und Mazzotti weist auf etwas hin, was das Erziehungsdepartement gern verschweigt: In einer Umfrage der Freiwilligen Schulsynode mit Tausenden von Lehrern hätten sich “83 Prozent der Lehrer” für Einführungsklassen ausgesprochen.
Am Gras ziehen, dass es schneller wächst: ein super Beispiel, das nie funktioniert.
Sasha Mazzotti, Basler SP-Grossrätin
Dann folgen zustimmende Worte – und ganz ähnliche Erklärungen.
Von SVP-Grossrätin Jenny Schweizer (“Es sollen doch alle Kinder die Option haben”).
Von Basta-Vertreterin Heidi Mück (“Ich habe selbst einmal eine Einführungsklasse unterrichtet – nach zwei Jahren in einer solchen können gerade Spätzünder problemlos in die integrative Schule wechseln”).
Von EVP-Parlamentarierin Brigitte Gysin (“Was in Riehen gelingt, sollte in allen Stadtgebieten möglich sein”).
Von GLP-Bildungspolitikerin Sandra Bothe-Wenk, die gar nichts mehr gross sagen und (vorbildlich) Zeit sparen will, weil sie den Vorrednerinnen zustimmt. Mega-Druck für Conradin Cramer.
“Keine Kleckserei”
Da hilft es ihm auch nichts, dass er auf ein durchaus berechtigtes, unschönes Detail hinweist. Das Wort “alle” versteht er so, dass jedes Schulhaus eine Einführungsklasse haben muss. So steht es auch tatsächlich im Vorstoss.
Die Parlamentarier interpretieren es anders, sprechen von der Möglichkeit für alle, wenn es Sinn ergibt – die Schulhäuser dürfen sich aber auch zusammentun.
Am Ende hat Cramer keine Chance. 56 Grossräte sind für die Motion, nur 27 für den Anzug. Der Regierungsrat nimmt aber “viel Positives” aus der “versöhnlichen” Debatte mit. Er will die geäusserten Forderungen beim “Massnahmenkonzept” für die Schule bedenken. Und dieses werde “keine Kleckserei” und sehe “umfassende Verbesserungen” vor. Da klingt Conradin Cramer dann wieder ganz wie gewohnt.
Es entbehrt nicht der Ironie, wenn Kramer punkto Einführungsklassen individuelle Massnahmen einer «Zentralisierung» im Top-down-Prinzip vorzieht. Ist der Mann tatsächlich Erziehungsdirektor? Wie kann er in seiner Funktion nicht mitbekommen haben, dass es in seiner Domäne, der Bildungspolitik, nur noch dem Zentralismus dienende Top-down-Entscheidungen gibt: Passepartout, Lehrmittelzwang, Kompetenzorientierung, Fächerzusammenlegungen, Integration, Inklusion, Frühfremdsprachen, Teilautonomie der Schulen und Checks sind nur ein paar wenige Beispiele dafür, wie Reformen in den letzten Jahren top-down durchgedrückt wurden, gegen alle berechtigten Widerstände von Lernenden, Lehrenden, Eltern und AkteurInnen der Wissenschaften. Doch ist Kramer sich dessen natürlich bewusst, bedient er sich als Exekutivinstanz ja selbst zur Genüge des Top-down-Prinzips. Nein, ihm geht’s erstens darum, alles zu bekämpfen, was der kontraproduktiven Integrationsideologie zuwiderläuft. Und zweitens wie so vielen Bildungsdirektoren, alles abzulehnen, was nicht auf dem eignen Mist gewachsen ist, auf dass der Egotrip zur Selbstprofilierung gelingen möge.