Eine lebendige und lebensnahe Schule
100 Jahre nach dem Erscheinen der «Essais» greift Locke die Forderungen Montaignes nach einer lebendigen und lebensnahen Schule, in der Welt- und Menschenkenntnis, Selbstdenken und Sittlichkeit gelehrt werden, wieder auf. Die Erziehungsmethoden des Mittelalters, die in die beginnende Neuzeit übernommen worden waren, hatten in Montaigne ihren ersten Kritiker gefunden. Locke war in Holland auf Montaignes Schrift gestossen, nachdem er sich schon seit Jahrzehnten mit dem Erziehungsproblem beschäftigt hatte. Die Mängel des englischen Erziehungswesens hatte er in seinen Schuljahren und selbst in Oxford zur Genüge erfahren. Einen eigentlichen Lehrerstand gab es nicht und der Unterricht vermittelte bestenfalls fragmentarische Kenntnisse der lateinischen und griechischen Vokabeln und bedeutete für die Schüler quälende Langeweile. Die Rute wurde so häufig verwendet, dass sie im Schulgeld eingerechnet wurde. Deshalb setzte Locke anstelle der Schule auf den Privatunterricht (Hofmeister-Erziehung).
In dieser Epoche des verwahrlosten Erziehungswesens haben Lockes «Gedanken über Erziehung» den Zeitgenossen die Wichtigkeit der pädagogischen Probleme klargemacht, entscheidende Anregungen für die neuzeitliche Pädagogik geliefert und sind dem «Emil» Rousseaus mit Montaignes «Essais» Pate gestanden.
John Locke
Der 1632 geborene Locke wurde von seinem Vater, einem Anwalt, sorgfältig erzogen, der ihm mit 14 Jahren die Aufnahme in die Westminster School ermöglichte. Das Studium der Schriften Bacos von Verulam und René Descartes veranlasste Locke in Oxford nach den «klassischen Wissenschaften» noch Medizin und Staatswissenschaften zu studieren. Nach einer Deutschlandreise als englischer Gesandtschaftssekretär liess er sich in Oxford nieder, wo ihn Lord Ashley Cooper, der spätere 1. Graf von Shaftesbury, als Leibarzt und Erzieher seines Sohnes in sein Haus aufnahm. Als sein Gönner in Ungnade fiel, suchte Locke Zuflucht in Holland. 1693 erschienen seine «Gedanken über Erziehung» die aus Ratschlägen an seinen Freund für die Erziehung des Sohnes hervorgegangen waren.
Gedanken über Erziehung
Die «Gedanken über Erziehung» sind ein «Handbuch» der Privaterziehung, der Unterricht sollte – ähnlich wie später bei Rousseau – durch den universalen Hofmeister erfolgen. Nur so, glaubte Locke, könne die Individualität des Zöglings genügend berücksichtigt werden: «Von allen Menschen, denen wir begegnen, sind neun unter zehn das, was sie sind, gut oder böse, brauchbar oder unnütz, durch die Erziehung; das ist es eben, was die grossen Verschiedenheiten unter den Menschen hervorbringt. Die kleinen, fast unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr wichtige und dauernde Folgen; und es ist hier wie bei den Quellen gewisser Flüsse, wo ein leises Anlegen der Hand die lenksamen Wasser in Kanäle leitet, welche ihnen einen ganz verschiedenen Lauf geben, durch diese unmerkliche Leitung, welche man ihnen gleich bei der Quelle gibt, empfangen sie dann verschiedene Richtungen und langen zuletzt an entfernten und auseinanderliegenden Orten an.» Damit legte er sein erzieherisches Credo einer fast unbegrenzten Erziehbarkeit des Menschen ab.
Weil das höchste Ziel des menschlichen Strebens die Glückseligkeit ist, liegt der Sinn der Erziehung darin, den Menschen zur Erreichung seines Glücks zu befähigen, in dem man Körper und Geist bildet.
Unbegrenzte Erziehbarkeit
Der Mensch ist erziehbar, weil seine Psyche von Geburt an den Eindrücken der Aussenwelt ausgesetzt ist, die sich in die Psyche einschreiben, wie in ein Stück unbeschriebenes Blatt Papier und damit die psychische Prägung und den Charakter bestimmen. Alle Vorstellungsinhalte des Menschen entstammen den Erfahrungen und Erlebnissen, die damit seine Handlungen und sein Willen determinieren. Es liegt in der Hand der Erziehung durch Vermitteln bestimmter Vorstellungen, auf die Ausbildung des Charakters, auf Sittlichkeit und Vernunft, Einfluss zu nehmen. «Wir sind geboren», sagt Locke, «um, wenn wir es wollen, vernünftige Menschen zu sein, aber nur Gebrauch und Übung machen uns dazu, und wir sind es wirklich nur bis zu dem Grade, als Nutzung und Fleiss uns gefördert haben.»
Weil das höchste Ziel des menschlichen Strebens die Glückseligkeit ist, liegt der Sinn der Erziehung darin, den Menschen zur Erreichung seines Glücks zu befähigen, in dem man Körper und Geist bildet. Juvenals «Mens sana in corpore sano» muss das Grundprinzip jeder echten Erziehung sein. Die leibliche Gesundheit der Heranwachsenden muss erhalten und gefördert werden. Statt Kinder zu verhätscheln und zu verzärteln sollten sie wie Bauernkinder erzogen werden. Ausreichender Schlaf und gesunde, einfache Nahrung sind die Grundlagen körperlicher Entwicklung.
Dem Willen muss die Richtung auf die Tugend gegeben werden, die nichts anderes als die Selbstbeherrschung ist.
Geistige Erziehung
Die geistige Erziehung ist die Ausbildung von Wille und Verstand. Dem Willen muss die Richtung auf die Tugend gegeben werden, die nichts anderes als die Selbstbeherrschung ist. Nur wer sich seine Wünsche versagen kann, ist fähig, den Gesetzen der Vernunft zu folgen. Um wahrhaft gut zu sein, muss man Herr über sich selber werden. Die Erziehung zur Sittlichkeit muss früh beginnen, wenn sie das Leben beherrschen und bestimmen soll. Je früher mit der planmässigen Erziehung begonnen wird, desto erfolgreicher kann sie werden. Über falsches Verhalten hinwegzusehen, weil es ja noch ein Kind sei oder sich darüber als Eigenart zu freuen, macht den Menschen später unfähig, sich dem Diktat seiner Vernunft zu unterstellen. Man darf sich dann nicht wundern, wenn aus dem tyrannischen Kind, später ein ebensolcher Erwachsener wird.
Nach Plato ist die Wahrhaftigkeit der Anfang einer grossen Tugend. Um das Kind zur Wahrhaftigkeit erziehen zu können, darf seine Aufrichtigkeit und Offenheit durch nichts eingeschränkt werden. Dazu muss zwischen Erzieher und Zögling ein unerschütterliches Vertrauen herrschen. Das Kind soll zu einem höflichen und anständigen Benehmen gegenüber denjenigen erzogen werden, die dem Range nach unter ihm stehen: «Man sollte nicht dulden, dass Kinder die Wertschätzung der menschlichen Natur über dem zufälligen Unterschied der sozialen Rangstellung aus den Augen verlieren. Je mehr sie besitzen, um so freundlicher sollte man sie lehren im Verkehr zu sein und um so mitleidiger und sanfter gegen diejenigen ihrer Brüder, die niedriger stehen und denen ein kärglicherer Anteil zugefallen ist.» Der Mensch muss für die Gemeinschaft gebildet werden, den das Glück seines Lebens hängt von der Einfügung in das gesellschaftliche Ganze ab, die durch Wohlerzogenheit, Höflichkeit und feine Bildung erleichtert wird.
Erziehung zur Persönlichkeit
Der Erzieher muss mit grösster Sorgfalt und Umsicht ausgewählt werden. Damit er dem Kind solche Werte vermitteln kann, muss er selbst wohl erzogen sein und von der Familie besonders geachtet werden. Je höher die Wertschätzung des Erziehers, umso sicherer sein erzieherischer Erfolg. Kein Geld ist so nützlich angewendet, wie das für die Kindererziehung. Besser man hinterlässt den Kindern ein kleineres Vermögen und eine grössere Bildung.
Diese Ziele sind nur erreichbar, wenn der Erzieher in vorbildlicher Weise das ist, was der Zögling werden soll: eine Persönlichkeit.
Zur sittlichen Erziehung gehört unumgänglich, dass der Zögling ein Welt- und Menschenkenner werde. Der Erzieher muss ihm ein weltmännisches Benehmen beibringen und ihm den Nachahmungstrieb für alles wecken, was ausgezeichnet und lobenswert ist. Diese Ziele sind nur erreichbar, wenn der Erzieher in vorbildlicher Weise das ist, was der Zögling werden soll: eine Persönlichkeit. Dabei muss seine Individualität berücksichtigt werden und man soll das Kind als freien und gleichberechtigten Menschen behandeln. Fehler und Verirrungen sollen mit ihm vernünftig besprochen werden. Schelten, Schläge oder Belohnungen irgendwelcher Art sind von der Erziehung fern zu halten.
Bildung ist der Anfang des Gentleman, aber Lesen, gute Gesellschaft und Nachdenken müssen ihn vollenden.
Intellektuelle Bildung
Die intellektuelle Bildung ist auf Sittlichkeit und Lebenstüchtigkeit auszurichten. «Das Geschäft der Erziehung in Bezug auf das Wissen», schreibt Locke, «ist, denke ich, nicht einen Schüler in allen oder in einer Wissenschaft fertig zu machen, sondern seinem Geist jene Freiheit, jene Beschaffenheit, jene Gewohnheit mitzuteilen, die ihn in den Stand setzen könnte, jede Art von Wissen, auf die er sich legt oder die ihm im Laufe seines Lebens nötig wird, zu erlangen.» Wissen zu vermitteln, ist gegenüber der Schulung der Urteilskraft eine zweitrangige Aufgabe. Wenn man den Schüler niemals etwas auf blosse Autorität hin glauben lässt, fördert man seine Wahrheitsliebe und seinen Scharfsinn. Erst wenn der Schüler sich die Kenntnisse der Natur und des Menschen angeeignet und durch Reisen seinen Horizont erweitert hat und somit als wahrer Welt- und «Gentleman» gelten darf, kann der Erzieher seine Arbeit als beendet betrachten. Und wenn «dem jungen Herrn die Ehe in naher Aussicht steht, ist es an der Zeit, ihn seiner Gebieterin zu überlassen».
Bedeutender liberaler Influencer
Lockes zahlreiche Errungenschaften hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die moderne Welt: Nicht nur auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, die Verfassung der Vereinigten Staaten, die Verfassung des revolutionären Frankreichs und der meisten Verfassungen liberaler Staaten sondern auch auf deren öffentliches Bildungswesen. Dass er an den freien Willen glaubte, darf ihm nicht angekreidet werden, wurde «Das Unbewusste» doch erst 200 Jahre später durch Pierre Janet, Freud und Adler entdeckt. Im Gegensatz zu den Forschern, die immer noch die Intelligenz-Gene suchen oder rätseln, ob die Intelligenz zu 30 oder 80 % vererbt sei, war für den Rationalisten Locke ebenso wie später für den Psychologen Alfred Adler und den Anthropologen Adolf Portmann klar, dass der Mensch nicht mit psychischen Eigenschaften auf die Welt kommt, weil er durch die Erziehung erst Mensch wird.
Quelle:
John Locke: Gedanken über Erziehung https://www.projekt-gutenberg.org/locke/erzieh/erzieh.html