Das Buch von Bonfranchi und Perret füllt eine Lücke in der pädagogischen Sachliteratur: Konzeptionell originell und unterhaltsam geschrieben, bringt es die brennenden Fragen der aktuellen Heilpädagogik auf den Tisch und diskutiert sie ungeschminkt und erfrischend direkt. Dabei schöpfen beide Autoren aus ihrer reichen praktischen Erfahrung.
Wenn das Buch sich auch unmittelbar an Personen im Bereich der Heilpädagogik richtet, so ist es nicht minder gewinnbringend für Lehrerinnen und Lehrer, Studenten und auch politische Entscheidungsträger, die in anderen pädagogischen Bereichen tätig sind. Viele Fragen, die sich im regulären Schulbetrieb stellen, werden durch die speziellen Herausforderungen der Sonderpädagogik zusätzlich noch akzentuiert. Im Mittelpunkt stehen Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderungen, Verhaltensauffälligkeiten oder geistiger Behinderung.
Die Zusammenarbeit zwischen der promovierten Psychologin und dem promovierten Pädagogen basiert auf ihrer jahrzehntelangen Erfahrung im Bereich der schulischen Sonderpädagogik.
Die Zusammenarbeit zwischen der promovierten Psychologin und dem promovierten Pädagogen basiert auf ihrer jahrzehntelangen Erfahrung im Bereich der schulischen Sonderpädagogik. Beide arbeiteten als Lehrkräfte und auch als Führungspersonen von heil- oder sonderpädagogischen Einrichtungen. Beide haben sich zur Thematik schon verschiedentlich in Artikeln und Büchern geäussert und wagen nun eine Kooperation.
Spannendes Ping-Pong zwischen den Autoren
Das Buch besteht aus 33 Kapiteln oder Fragestellungen zur aktuellen heilpädagogischen Praxis. Dabei bringen die Autoren zu jeder Fragestellung eine Input-Stellungnahme, die jeweils vom anderen kommentiert wird. So entsteht ein lebhaftes und spannendes Ping-Pong zwischen zwei Menschen, die wissen, wovon sie sprechen. Die Sprache ist frei vom üblichen pädagogischen Expertenjargon und deshalb leicht und flüssig lesbar. Zusätzlich zu Themen wie «Fordern und Fördern», «Beziehung und Bildung» oder «Integration von Kindern mit einer Behinderung in die Regelschule» erfährt man in spannenden Exkursen mehr über die historischen und pädagogischen Hintergründe unseres Schulwesens. Eine kritische Grundposition zu aktuellen Entwicklungen rund um die Heilpädagogik – zum Beispiel hinsichtlich der Unterrichtsmethodik, der Integration und der Ausbildung – ist dabei nicht zu übersehen.
Ihr Buch ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Kinderzentriertheit im zunehmend verwaltungstechnischen Abwickeln von sonderpädagogischen Massnahmen.
Plädoyer für mehr Kinderzentriertheit
Die beiden stehen kritisch zum Weg, den die Heilpädagogik eingeschlagen hat. Ihr Buch ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Kinderzentriertheit im zunehmend verwaltungstechnischen Abwickeln von sonderpädagogischen Massnahmen. Immer wieder lassen sie auch Einblicke in ihre persönliche Biografie und Entwicklung zu. Das schafft für die Leserin und den Leser eine glaubhafte Verbindung und Identifikationsmöglichkeit.
Der Vorteil dieses unkonventionellen Buches ist auch sein Nachteil: Die ungeordnete Themenvielfalt wirkt auf mich verwirrend. Es kommt zu inhaltlichen Wiederholungen, die durch eine verstärkte Struktur hätten vermieden werden können.
Trotz dieses Einwands ist dieser gedankliche Fitness-Parcours für alle mit der Schule Verbundenen erfrischend und regt an zum Nach- und Überdenken der eigenen Haltungen. Viele der geschilderten Phänomene wie beispielsweise die steigende Zahl von ADHS-Diagnosen oder die Thematik der Lernschwächen finden ihren Niederschlag auch in der Regelschule, und die Konfrontation damit ist deshalb auch für «normale» Lehrkräfte ein Gewinn. Ich werde das Buch den Kolleginnen und Kollegen meines Schulteams wärmstens empfehlen.
Riccardo Bonfranchi und Eliane Perret
Heilpädagogik im Dialog. Praktische Erfahrungen, theoretische Grundlagen und aktuelle Diskurse
30. Juni 2021 bei Athena/wbv
Taschenbuch, 252 Seiten.