Nach der Grundschule besuchte Zulliger das Progymnasium in Biel. 1908 trat er ins staatliche Berner Lehrerseminar in Hofwil ein, das damals von Ernst Schneider geleitet wurde, der wegen seiner Verbindungen zur Psychologie bzw. Psychoanalyse stark angefeindet wurde.
Während 47 Jahren, von 1912 bis 1959, war Zulliger Dorfschullehrer in Ittigen bei Bern. Dort erhielt er einen tiefen Einblick in das Denken und Fühlen des einfachen Volkes und in dessen Verwurzelung in die Natur. Er unterrichtete in der Oberschule mit vorwiegend schwachen Schülern aus Bauern- und Handwerkerfamilien, trotzdem haben seine Erkenntnisse allgemein gültigen Charakter. Er wollte auch kein Rezeptbuch für Erziehung schreiben, sondern zu Diskussionen anregen.
Wissensvermittlung und Erziehung verbinden
Zulliger war durch Oskar Pfister und Hermann Rorschach mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung gekommen und versuchte, die von diesem gewonnenen Erkenntnisse auf den Schulalltag zu übertragen. Pfisters Erziehungskonzept der „Pädanalyse“, das auch von Adlers Lehre beeinflusst war, diente ihm als Vorbild.
Von 1917 bis 1927 versuchte er die Freudschen Lehren für die Volksschulpädagogik fruchtbar zu machen. In den folgenden zehn Jahren entwickelte er die psychoanalytische Pädagogik für die Schule und von 1930 bis 1935 entstand seine Spieltherapie („Heilende Kräfte im kindlichen Spiel” 1952).
Als Volkserzieher schrieb er zahlreiche Jugendbücher und war 22 Jahre lang Redaktor der Eltern-Zeitschrift. In seinen zahlreichen jugendpsychologischen und pädagogischen Publikationen und in Vorlesungen an den Universitäten Zürich und Bern vermittelte er seine pädagogischen Erfahrungen. Seine Bücher wurden in 13 Sprachen übersetzt, wiederaufgelegt und machten ihn weit über die Schweiz hinaus bekannt.
Die Bedeutung der Gemeinschaftserziehung
Ausgehend von der Beschäftigung mit der psychischen Entwicklung und den Störungen beim einzelnen Kind entwickelte er neben der Einzelfallhilfe seine Gruppenerziehung, der er eine grosse Bedeutung zumass. Die Technik der Einzelbehandlung änderte er in die von ihm entwickelte deutungsfreie Spieltherapie ab, die in seinem Werk Heilende Kräfte im kindlichen Spiel (1952) beschrieben ist.
Aus der von ihm beobachteten und analysierten gruppendynamischen Prozessen zwischen Lehrer und Schülergruppe entwickelte er seine Gemeinschaftserziehung, die er 1961 in seinem Buch „Horde, Bande, Gemeinschaft“ beschrieb.
Sein Anliegen in den Büchern und Vorlesungen war, die Erzieher darüber aufzuklären, dass sie nicht wissen konnten, ob sie die Kinder möglicherweise ungenügend oder gar nicht verstehen:
„Wenn wir uns praktisch mit Kindern beschäftigen wollen, sei es als Psychologen, als Kinder-Psychotherapeuten, Psychagogen, Facherzieher, Heilpädagogen oder Eltern, dann setzen wir voraus, dass wir diese Kinder verstehen. Wir nehmen dies ohne weiteres an – und wir sind davon zum vorneherein dermassen überzeugt, dass wir keinen Augenblick daran denken, wir könnten sie – vielleicht – doch nicht verstehen oder missverstehen. (…) Der Mann, der sich anschickt, nachweisen zu wollen, dass wir die Kinder nur ungenügend oder gar nicht verstehen, bin ich. Ich bin froh darüber, wenn Sie mich nicht einfach zum vorneherein ablehnen und mir Ihr kritisches Wohlwollen entgegenbringen wollen. Um Ihnen zu erleichtern, dies zu tun, verspreche ich Ihnen, im Verlaufe meiner Vorlesungen auch die Wege aufzuzeigen, welche zum Verständnis der Kinder führen. Dies ist mein Anliegen.“
In seinem Buch „Einführung in die Kinderseelenkunde“ fügte er hinzu:
„Es genügt nicht, dass wir, wenn wir Kinder verstehen wollen, einzelne isolierte psychologische Daten an ihnen feststellen. (…) Wir müssen den dynamischen Ablauf erkennen können. Dynamische Psychologie ist nötig, nicht statistische, wenn wir Kinder verstehen wollen. Entwicklungspsychologie ist dynamische Psychologie.“
Die Lehrerstudenten sollten so ausgebildet werden, dass sie später in der Praxis eigene störende Persönlichkeitsanteile in Konfliktsituationen mit Schülern erkennen und allenfalls Rat holen können.
Die Erziehungsprozesse in Gruppen sind für Pädagogen von zentraler Bedeutung. Die Erziehung in der Schule ist vor allem Erziehung zur Gemeinschaft. Nur wenn der Lehrer seine Kinder anleitet und zuerst die Beziehung zwischen Lehrer und Schülergemeinschaft fördert, kann er seinem erzieherischen Auftrag gerecht werden. Im Sinne Zulligers ist die Bildung einer Gemeinschaft aus den Einzelindividuen einer Schulklasse die vorrangige Aufgabe eines psychologisch geschulten Lehrers. Die Lehrerstudenten sollten so ausgebildet werden, dass sie später in der Praxis eigene störende Persönlichkeitsanteile in Konfliktsituationen mit Schülern erkennen und allenfalls Rat holen können.
Für Zulliger hatte das Lernen von Schulwissen grosse Bedeutung. Es gibt dem Lehrer gleichzeitig die Möglichkeit, mit dem Schulstoff erzieherisch zentrale Sachverhalte zu vermitteln (Gewissensbildung, Vermittlung von guten Vorbildern, Förderung kooperativen Verhaltens usw.). Durch das Fördern des gegenseitigen gefühlsmässigen Verständnisses der Gruppe wird auch die intellektuelle Seite der Schüler erfasst und sie können effizienter arbeiten.
Heute wird die Gemeinschaftserziehung auch als „Glückserziehung“ bezeichnet. Siehe dazu „Kanamori: Schüler auf das Leben vorbereiten“ im Condorcet Blog: https://condorcet.ch/2020/02/kanamori-schueler-auf-das-leben-vorbereiten/
Bei Hans Zulliger verschmolzen der Erzieher und der Lehrer in einen Pädagogen, der seinen Kindern als Wegweiser dient, der mitwandert, helfen wollte und es auch konnte.
Zulliger war Ehrendoktor der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Bern und der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg.
Quellen:
- Ingrid Bigler-Marschall: Hans Zulliger.In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Friedrich Koch: Der Aufbruch der Pädagogik: Welten im Kopf – Bettelheim, Freinet, Geheeb, Korczak, Montessori, Neill, Petersen, Zulliger.Rotbuch, Hamburg 2000,
- https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Zulliger