Viele Schulen führen Gespräche über digitale Medien, digitale Geräte, digitalen Unterricht. Sie reagieren damit auf die Digitale Transformation, also eine Umwälzung von Gesellschaft und Wirtschaft durch den Medienwandel, den wir gerade erleben. Vergleichbar ist diese Transformation mit der Erfindung des automatisierten Buchdrucks, die dazu geführt hat, dass Menschen Wissen ganz anders aufgenommen und weitergegeben haben. Ähnlich tiefschürfend ist der Wandel, den wir erleben und in den letzten 20 Jahren erlebt haben.
In der Schweizer Schulkultur immer betont werden, wie gut die Schulen schon arbeiten, wie viel sie schon machen. Das nennt man Digital Washing – Entlastung.
Die Gespräche, die an Schulen dazu geführt werden, unterliegen aber oft den Gesetzen von Digital Washing. Der Bildungsexperte Dejan Mihajlović bezeichnet damit das Phänomen, dass Organisationen gerne so tun, als würden sie zeitgemässe und damit digitale Verfahren anwenden – obwohl sie dazu gar nicht bereit sind. Mehr noch: Gespräche über »Digitalisierung« sind eigentlich ein Vorwand, um die Veränderung nicht angehen zu müssen. Die Gespräche machen nämlich meist klar, dass erstens alles sehr aufwendig und zweitens gar nicht unproblematisch ist: für die Schülerinnen und Schüler, für die Lehrkräfte, die Schule an sich. Drittens zeigen die Gespräche, dass es zu jedem Aspekt unterschiedliche Meinungen und Vorgehensweisen gibt – und die Auswirkungen aller Veränderungen viertens erst in der Zukunft wirklich absehbar werden. Fünftens muss in der Schweizer Schulkultur immer betont werden, wie gut die Schulen schon arbeiten, wie viel sie schon machen. So entsteht durch Digital Washing eine Entlastung: Wir leisten bereits was, die grossen Veränderungen kommen erst noch und sind so kompliziert und gar nicht nur positiv fürs Lernen. Lasst uns also erstmal weitermachen wie bisher.
Kinder lernen heute in digitalen Kontexten lesen, schreiben und rechnen – nur halt nicht in der Schule.
Und deshalb hat sich an der Schulkultur noch kaum was geändert, obwohl ein umfassender Medienwandel stattgefunden hat. Kinder lernen heute in digitalen Kontexten lesen, schreiben und rechnen – nur halt nicht in der Schule. Sie kommunizieren digital, unterhalten sich digital, spielen digital – aber in der Schule darf all das nur in kleinen Dosierungen vorkommen.
Wie kommen Schulen weg von Digital Washing, wie sollten sie sich gegenüber den digitalen Verfahren, die heute den Alltag vieler Menschen prägen, positionieren?
Dazu gibt es zwei Ansätze: Erstens sollten sich Schulen um ihr Kerngeschäft kümmern: das Lernen junger Menschen. Alles, was Schulen tun, sollte rund um dieses Lernen aufgebaut sein. Digitale Medien sollten in Lernumgebungen ganz selbstverständlich eingesetzt werden. Ohne Diskussionen, ohne zögerliches Abwägen, ohne Euphorie. Nüchtern, pragmatisch – aber auch selbstverständlich. Weil Menschen heute digital arbeiten, digital kommunizieren, digital leben: Deswegen sollten auch Schülerinnen und Schüler digital lernen. Sie bereiten sich auf die Welt vor, in der digitale Kompetenzen entscheidend sind. Diesen Ansatz könnte man postdigital nennen: Postdigitale Schulen entscheiden nicht, ob digitale Geräte und Medien eingesetzt werden, für sie ist es selbstverständlich, dass sie eingesetzt werden können.
Keine langwierigen ideologischen Diskussionen führen
Schüler als Mitforschende
Zweitens sollten Schulen von Gesprächen abrücken und Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen: ausprobieren, wie Digitalität wirkt, zusammen mit Kindern und Jugendlichen, die oft mehr Erfahrung als Lehrpersonen haben. Lehrerinnen und Lehrer sollten ihre Erfahrungen untereinander teilen können, ohne daneben langwierige ideologische Diskussionen zu führen. Schulen würden so zu Laboren der Digitalität – die Kinder wären dabei nicht die Versuchskaninchen, sondern Mitforschende, die an Entscheidungen beteiligt würden, die ihre Lernsettings betreffen.
Philippe Wampfler
Mit seinem Vorwurf des Digital Washing an die Adresse derer, die eine Umrüstung der Schulen auf digitale Praxis vorgeben, obwohl sie diese in Wirklichkeit verhindern wollen, wagt sich Philippe Wampfler weit aus dem Fenster:
1. Er beurteilt das Verhalten der Lehrerschaft im Umgang mit der Digitalisierung pauschal als unehrliche Verhinderungstaktik, ohne die bisherigen Anstrengungen der Schulen zu würdigen. Vielmehr sollen seine Ausführungen in subtiler Weise Schuldgefühle wecken, man tue noch viel zu wenig.
2. Er suggeriert, dass längst Konsens darüber herrsche, dass digital unterstützter Unterricht für das Lernen generell unabdingbar sei, dass jede Diskussion über den Sinn, den Nutzen und die Gefahren der Digitalisierung deshalb überflüssig und ein Zeichen von Rückständigkeit sei.
3. Er verabsolutiert seinen technokratischen Anspruch, Didaktik und Methodik müssten zwingend auf Digitalisierung getrimmt werden, ohne ihn sachlich zu begründen. Ein Verweis auf die Allgegenwart digitaler Hilfsmittel genügt ihm als didaktische Begründung.
Traurig, wenn Leute, denen man gerne unabhängiges Denken und Unterrichtserfahrung zugestehen würde, einen derart unreflektierten und anmassenden Standpunkt einnehmen, der gleichzeitig ihre völlige Hörigkeit gegenüber der IT-Branche verrät.
Aufgrund beinahe täglich geführter Diskussionen mit Bildungsverantwortlichen stimme ich Philippe Wampfler bezüglich des Digital Washing grundsätzlich zu – allerdings nicht ohne anzufügen, dass diese Bildungsverantwortlichen, angefangen bei den Dozierenden an den PHs und nicht endend bei den VolksschullehrerInnen, eigentlich unschuldig sind. Wenn “Kinder heute in digitalen Kontexten lesen, schreiben und rechnen lernen, …” ist das wohl ein sehr schöner Gedanke, nur stimmt er nicht. Um zu lesen und zu schreiben müssten die SchülerInnen ein ´digitales´ d.h. ein webbasiertes Sprachlabor unterhalten dürfen. In welchem Kontext SchülerInnen ausserhalb der Schule rechnen lernen (was immer man unter “Rechnen” verstehen soll), ist mir schleierhaft.
White washing kann ich nachvollziehen, doch wenn digital in der Gesellschaft noch nicht einmal richtig begonnen hat, warum dann post digital? Da sind wir vielleicht in 30 Jahren oder so …