Am 28. August 2020 schrieb die SP-Bildungspolitikerin Miriam Locher einen Beitrag für den Condorcet-Blog, in welchem sie die Positionen ihrer Partei in Fragen der Bildung darlegte. Überraschenderweise erntete die Baselbieterin dafür zum Teil deftige Kritik. Nun könnte man ja annehmen, dass diese Voten eher von der politischen, präziser bürgerlichen Konkurrenz geäussert wurden. Dem war aber nicht so. Die kritischen Reaktionen stammten ausnahmslos von ehemaligen Sozialdemokraten oder Lehrkräften, welche angaben, früher sozialdemokratisch gewählt zu haben.
Tief sitzender Frust
Kein Zweifel, die Bildungspolitik der letzten 20 Jahre wurde massgeblich von Sozialdemokraten mitgeprägt. Kaum eine umstrittene Reform, die nicht von der SP unterstützt wurde: HarmoS, Frühfremdsprachen, Passepartout, Kompetenzorientierung, Lehrplan 21, Inklusion, Hierarchisierung und Professionalisierung der Schulaufsicht usw. Urs Kalberer spricht in seinem Artikel von den vielen «Bildungsleichen», die im Beitrag von Miriam Locher verschwiegen wurden.
Bei aller berechtigter Kritik darf man allerdings vier Tatsachen nicht vergessen:
- Es gab auch viele Linke und sozialdemokratische Lehrkräfte, welche sich gegen diese Auswüchse gewehrt haben. Vor allem unter den Gymnasiallehrern erfuhren wir einen mächtigen Sukkurs, als es beispielsweise um die HarmoS-Reformen ging.
- Den Condorcet-Blog gäbe es nicht ohne die zahlreichen Sozialdemokraten und linken Bildungspolitikerinnen und -politiker. Die beiden ehemaligen SP-Präsidenten der Stadt Basel Daniel Goepfert und Roland Stark arbeiten ebenso in unserem Blog mit wie die die junge Zürcher SP-Gymnasiallehrerin Désirée Ludwig. Auch der Uniprofessor Bernard Schneuwly aus Genf argumentiert dezidiert links.
- Die Verdienste der Sozialdemokratie für unser Bildungssystem sind unschätzbar. Vor allem die Kinder der Arbeiterklasse erfuhren durch die Aufweichung der starren Selektion echte Aufstiegschancen. Lange Zeit war die Sozialdemokratie auch ein Garant für gute Lehrerlöhne und eine starke öffentliche Schule.
- Innerhalb der SP gibt es jüngere BildungspolitikerInnen, welche sich vorerst noch sanft, aber dennoch deutlich von der bisherigen SP-Bildungspolitik abwenden.
Wie in vielen grösseren Parteien gibt es in der schweizerischen Sozialdemokratie in der Bildungspolitik völlig entgegengesetzte Kräfte. Während die Berner SP-Grossrätin Karin Fisli forderte, man solle LehrplangegnerInnen gar nicht mehr unterrichten lassen, setzen sich die jüngeren SP-Landräte Kirchmayr und Locher für die Lehrmittelfreiheit ein. Während die prominenten SP-Nationalrätinnen Jacqueline Fehr und Pascale Bruderer 2008 noch ein flächendeckendes Bildungsmonitoring (mit Zertifizierung) forderten, sieht die SP-Baselland dieses Monitoring kritisch und versuchte sogar, den Check S3 zu beseitigen, was wegen – notabene – der FDP und der SVP nicht gelang.
Philipp Loretz: Sie sind clever, dossierfest und verfolgen neue Ziele.
Philipp Loretz, Redaktionsmitglied im Condorcet-Blog, Mitglied der LVB-Geschäftsleitung und des Bildungsrates ist dezidiert der Auffassung: «Locher und Kirchmayr sind clever, haben einen weiten Horizont, sind dossierfest, können gut zuhören und verfolgen neue Ziele.»
Auch ich erlebe immer wieder, dass es innerhalb der SP viele vernünftige und pragmatische Kräfte gibt, die auch den Mut haben, gegen offizielle Positionen der eigenen Partei aufzutreten. So brandmarkte SP-Mitglied Michel Laffer, Sekundarlehrer in Biel, beispielsweise die Einführung der Filière Bilingue in seiner Stadt als Verrat an grundlegenden Prinzipien seiner Partei und lancierte einen Protestbrief. Viele SP-Lehrkräfte unterschrieben ihn. Der frühere SP-Politiker, Philosoph und heutige Condorcet-Unterstützer Markus Waldvogel organisierte in Biel an vorderster Front den Widerstand gegen die Kompetenzorientierung und die HarmoS-Vereinbarungen. Nicht zu vergessen, die bewundernswerte Standhaftigkeit des ehemaligen Kultusministers von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb. Der deutsche Sozialdemokrat geisselt ohne Rücksicht auf persönliche Anfeindungen die PISA-Doktrin, den Vermessungswahn und die Kompetenzorientierung in unserem nördlichen Nachbarland. Und auch er gehört zu unseren geschätzten Condorcet-Unterstützern.
Vielleicht kommen dann nicht immer die Lösungen zustande, die wir vertreten, aber Kompromisse, mit denen sich leben lässt.
Es gilt, diese Kräfte innerhalb der Sozialdemokratischen Partei zu bestärken und vorwärts zu schauen. Auch wenn wir von unseren kritischen Positionen jeweils sehr überzeugt sind, sind sie nicht sakrosankt und stets diskussionswürdig. Wenn uns Leute aus dem vermeintlich gegnerischen Lager zuhören und entgegenkommen, sollte man in den Dialog eintreten. Vielleicht kommen dann nicht immer die Lösungen zustande, die wir vertreten, aber Kompromisse, mit denen sich leben lässt. Der Kanton Baselland und die beiden SP-Politiker Locher und Kirchmayr machen es vor!
Alain Pichard
Erfolgreicher Widerstand kann nur von der Basis kommen und muss von möglichst allen Parteien unterstützt werden. Für die Bevölkerung ist das glaubwürdig, was die Lehrer als Fachleute vertreten. Die Lehrerbasis muss dafür sorgen, dass die Lehrervereinigungen ihre Interessen vertreten.
Erfolgreiche Beispiele sind: Im Kanton Zürich wurde das Neue Volksschulgesetz von 2002 dank dem Widerstand der Lehrer mit 52% Nein versenkt. Drei Jahre später wurde das praktisch unveränderte Gesetz vom Volk angenommen, weil der Widerstand der Lehrer zusammen gebrochen war. 2012 wurde die obligatorische und freiwillige Einführung der „Grundstufe“ vom Zürcher Stimmvolk abgelehnt, weil die Kindergärtnerinnen Widerstand geleistet und das Volk aufgeklärt haben. Ein weiteres Beispiel sind die Erfolge der Starken Schule beider Basel.
Alain Pichard erweist sich mit seinem Beitrag über den unverzichtbaren Partner SP als pragmatischer Brückenbauer. Wie für viele meiner Reallehrerkollegen war für mich die SP in sozialen Fragen lange Zeit ein Garant für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem und für die Förderung schwächerer Jugendlicher. Doch um die Jahrtausendwende hat sich in der Zürcher SP das Interesse stark auf Bildungsprogramme verlagert, die in erster Linie den stärkeren Schülern zugute kamen: Zwei Fremdsprachen an der Primarschule, Verteilung der Schulstunden auf viele Fachlehrpersonen, Ideologisierung im Bereich der Kleinklassen und zum Schluss eine peinlich unkritische Haltung gegenüber dem vollmundigen Bildungsprogramm des neuen Lehrplans. Während im Nachbarkanton Schaffhausen die SP engagiert im Kampf für eine massvolle Beschränkung bei den frühen Fremdsprachen auftrat, rührte die Zürcher SP lautstark die Werbetrommel für Ernst Buschors grosses Frühsprachenprojekt.
Wie in der Nordwestschweiz scheint sich nun aber auch in Zürich bei der SP eine neue Generation von schulnahen Politikern in Bildungsfragen bemerkbar zu machen. Einige fragen sich, weshalb manche Bildungsreformen in der Lehrerschaft keinen Rückhalt finden und was denn schief gelaufen ist. Es ist aber noch viel ideologischer Schutt wegzuräumen, bis bei den bekannten Dauerbaustellen endlich bessere Lösungen realisiert werden können. Die Schule kann nicht der Hauptmotor für gesellschaftliche Veränderungen sein, sonst überfordert man das ganze System. Vielmehr gilt es, ohne parteipolitische Scheuklappen genau hinzuschauen, was sich in der Schulpraxis als erfolgreich erweist und was schülergerechten Unterricht auszeichnet. Damit diese Herkulesaufgabe gelingt, lohnt es sich pragmatisch zusammenzuarbeiten.