Die Corona-Pandemie zeigt uns nicht nur, wie sehr wir in unserem Alltag auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen sind. Dank der Berichterstattung in den Medien bietet sie uns auch die seltene Gelegenheit, gleichsam in Echtzeit zu beobachten, wie eine Forschungswissenschaft funktioniert. Was wir am Beispiel von Virologie und Epidemiologie sehen, ist aber nicht auf diese Disziplinen beschränkt, sondern lässt sich mit wenigen Modifikationen auf andere Disziplinen wie die Unterrichtsforschung übertragen. Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien spielen auch in Schule und Unterricht eine immer grössere Rolle. Umso wichtiger ist es, dass sich die Nutzer der Unterrichtsforschung ein klares Bild von deren Funktionsweise und Leistungsfähigkeit machen.
Im ersten Teil dieser kleinen Serie von vier Beiträgen haben wir gesehen, wie falsch die in Bildungspolitik und Bildungspraxis weit verbreitete Auffassung ist, durch wissenschaftliche Studien liessen sich gesicherte Erkenntnisse gewinnen, um in kontroversen Fragen Entscheidungen herbeizuführen.
Im ersten Teil dieser kleinen Serie von vier Beiträgen haben wir gesehen, wie falsch die in Bildungspolitik und Bildungspraxis weit verbreitete Auffassung ist, durch wissenschaftliche Studien liessen sich gesicherte Erkenntnisse gewinnen, um in kontroversen Fragen Entscheidungen herbeizuführen. Wissenschaft ist kein Ersatz für Politik, und in einer demokratischen Gesellschaft kann sie es auch gar nicht sein. Wissenschaftliche Forschung bietet auch keine Garantie für Wahrheit, wenn auch in der Wahrheit die regulative Idee der Wissenschaft und deren Kommunikationsmedium liegen.
Diese Aussage soll nun anhand von drei Forschungsparadigmen, die in der Unterrichtsforschung weit verbreitet sind, vertieft werden. Heute geht es um das Experiment, im dritten und vierten Teil werden Statistik und Fallstudie im Mittelpunkt stehen.
Das Experiment als Leitstern moderner Wissenschaft
Zu den Einsichten in das Funktionieren einer modernen Wissenschaft, die wir dank der Corona-Krise gewinnen, gehört, dass nicht jede Disziplin auf gleiche Weise an ihren Gegenstand herangeht. Virologen und Epidemiologen unterscheiden sich in den Methoden, die sie in ihrer Forschungspraxis verwenden, auch wenn es in beiden Disziplinen um Gesundheit und Krankheit geht.
Epidemiologie ist eine Sozialwissenschaft
Es mag ungewohnt sein, die Epidemiologie eine Sozialwissenschaft zu nennen, jedoch ist offensichtlich, dass sie nicht mit Einzelfällen, sondern mit Massenphänomenen beschäftigt ist, die nicht mit naturwissenschaftlichen, sondern mit sozialwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Während in der Epidemiologie statistisch gearbeitet wird, liegt der methodische Fokus der Virologie auf dem Experiment.
Das Experiment gilt nicht nur in den Naturwissenschaften als Königsweg der Erkenntnisgewinnung. Seine hohe Wertschätzung verdankt es wesentlich der Tatsache, dass es das analytische Denken, wie es im Schosse der neuzeitlichen Philosophie entwickelt wurde, geradezu idealtypisch in Forschungshandeln umsetzen lässt. Um zu klaren Urteilen zu finden, forderte René Descartes (1964), ein Problem in Anlehnung an das Vorgehen der Mathematik einerseits «in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen» (S. 31), und andererseits «mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach … bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen» (ebd.).
Auch Galileo Galilei orientierte sich an der Mathematik, als er im Saggiatore die Natur mit einem Buch verglich, das in mathematischen Zeichen geschrieben ist. Mit Hilfe der Mathematik fand er zu völlig neuen Erkenntnissen über die Beschaffenheit der physischen Welt. Wie Carl Friedrich von Weizsäcker (1990) ausführt, stellte Galilei Gesetze auf, «die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind» (S. 107). Während sich Aristoteles und die an ihm orientierte vormoderne Wissenschaft an den natürlichen Erscheinungen orientierte, zeigte Galilei, wie sich neue Phänomene hervorbringen lassen, indem die Natur mit Hilfe des Experiments in ihre elementaren Bestandteile zerlegt wird.
Entgrenzung der alltäglichen Erfahrung
Insofern erschliesst das Experiment einen Zugang zur Wirklichkeit, der hinter die Kulissen der alltäglichen Wirklichkeit führt. In den Worten von Adolf Portmann (1982) verlassen wir mit der experimentellen Forschung den Mediokosmos unserer Lebenswelt und greifen in den Mikrokosmus des unendlich Kleinen und in den Makrokosmus des unendlich Grossen aus. Indem wir zutage fördern, was sich hinter der Bühne des alltäglichen Lebens abspielt, gewinnen wir Einblick in die Kausalstruktur der Wirklichkeit, was es erlaubt, verändernd in den Lauf der Dinge einzugreifen.
Die Entgrenzung der alltäglichen Erfahrung beruht wesentlich darauf, dass der Forschungsgegenstand durch Variation seiner Bedingungen systematisch untersucht wird. Das hat für die Nutzung des Experiments als Instrument der wissenschaftlichen Forschung eine bedeutsame Konsequenz: Nur wenn der Gegenstand ein solches Vorgehen zulässt, kann es sinnvollerweise eingesetzt werden.
Weil die Komponenten komplexer Phänomene – wie zum Beispiel einer Wetterlage oder einer Kerzenflamme – vielfach miteinander verknüpft sind, ihre Dynamik schwer berechenbar ist und Einflüsse von aussen nicht-lineare Effekte zur Folge haben, ist über deren Zustände zu keinem Zeitpunkt ein sicheres Wissen möglich.
Einfach, kompliziert und komplex
Wenn wir zwischen drei Arten von Phänomenen unterscheiden, nämlich einfachen, komplizierten und komplexen, dann ist das Experiment auf die Erforschung von einfachen und komplizierten Phänomenen zugeschnitten. In beiden Fällen lässt sich der untersuchte Gegenstand in seine Teile zerlegen, ohne dass er zerstört wird. Man denke an eine Maschine, die wir auseinandernehmen, um ihre Funktionsweise zu untersuchen. Setzen wir sie anschliessend wieder zusammen, wird sich nichts Wesentliches verändert haben. Dagegen zerstören wir komplexe Phänomene, wenn wir bei deren Untersuchung in gleicher Weise vorgehen. Weil die Komponenten komplexer Phänomene – wie zum Beispiel einer Wetterlage oder einer Kerzenflamme – vielfach miteinander verknüpft sind, ihre Dynamik schwer berechenbar ist und Einflüsse von aussen nicht-lineare Effekte zur Folge haben, ist über deren Zustände zu keinem Zeitpunkt ein sicheres Wissen möglich. Dementsprechend sind sie analytisch nicht beherrschbar, was das Experiment als Forschungsmethode praktisch ausschliesst.
Der pädagogische Forschungsgegenstand
Was folgt daraus für die Unterrichtsforschung? Ist deren Gegenstand einfach, kompliziert oder komplex? Es besteht wenig Zweifel, dass es sich beim Unterricht um ein komplexes Phänomen handelt. Lehrkräfte sind einer Fülle von Ereignissen ausgesetzt, die nur schwer vorhersehbar sind, oft gehäuft auftreten, kaum Zeit für gründliches Nachdenken zulassen und schnelles Reagieren verlangen. Unterricht heisst auch, dass keine Situation mit einer anderen genau übereinstimmt. Lehrerinnen und Lehrer können nicht erwarten, dass unter gleichen Umständen Gleiches geschieht. Bereits im nächsten Moment kann sich die Situation ändern – eine notorische Erfahrung von Lehrkräften, die sehr gut wissen, dass man nicht jede Klasse gleich behandeln kann und nicht jeder Tag gleich ist wie ein anderer.
Ist das Experiment damit ungeeignet für die Unterrichtsforschung? Nicht unbedingt. Experimentelle Studien haben auch in den pädagogischen Wissenschaften ihre beredsamen Vertreter. So etwa bei den Wortführern einer evidenzbasierten Bildungspolitik, von der im ersten Teil die Rede war. Sie sind der Ansicht, dass nur experimentelle Studien der pädagogischen Praxis jenes Wissen zur Verfügung stellen können, das ein zielsicheres Handeln ermöglicht. Gemäss Robert Slavin (2002) werden wir im Bildungswesen erst dann Fortschritte machen, wenn wir beginnen, Schule und Unterricht mit streng kontrollierten Experimenten zu erforschen.
Idealisierung der Wirklichkeit
Ohne Simplifizierung des Forschungsgegenstandes geht dies aber nicht. Da Experimente auf die Untersuchung von einfachen oder komplizierten Phänomenen zugeschnitten sind, muss die Komplexität der Unterrichtssituation reduziert werden, wenn sie experimentell erforscht werden soll.
Aussergewöhnlich ist dies aber nicht, wie der Physiker Hans-Peter Dürr (1995) zeigt. Denn die Naturwissenschaften machen es nicht anders. Deren Erfolg beruht wesentlich darauf, dass sie Komplexität annäherungsweise als Kompliziertheit behandeln. Das ist so zu verstehen, dass der Gegenstand der experimentellen Forschung in den Naturwissenschaften nicht nur einfach oder kompliziert ist, sondern auch als einfach oder kompliziert interpretiert wird. Indem wir mit einem komplexen Phänomen umgehen, als ob es kompliziert wäre, vermögen wir die strengen Kriterien der experimentellen Forschung einzulösen.
Wie ein physikalisches Experiment die natürliche Wirklichkeit nicht abbildet, sondern unter idealen Bedingungen rekonstruiert, führt auch die experimentelle Unterrichtsforschung nicht zu einem Abbild der Unterrichtswirklichkeit, sondern zu einer Konstruktion, die bestenfalls in der Theorie richtig ist.
In diesem Sinn kann auch in der Unterrichtsforschung experimentell geforscht werden. Insofern das Experiment die Methode der Wahl ist, um Kausalstrukturen aufzudecken, wäre es sogar erwünscht, wenn in Schule und Unterricht mehr experimentelle Studien durchgeführt würden. Allerdings muss man sich der Vereinfachungen, die dabei in Kauf genommen werden, bewusst sein. Wie ein physikalisches Experiment die natürliche Wirklichkeit nicht abbildet, sondern unter idealen Bedingungen rekonstruiert, führt auch die experimentelle Unterrichtsforschung nicht zu einem Abbild der Unterrichtswirklichkeit, sondern zu einer Konstruktion, die bestenfalls in der Theorie richtig ist. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung experimentell gewonnener Erkenntnisse in bildungspolitische oder pädagogische Handlungen ist daher nicht möglich.
Der Grossteil der pädagogischen und psychologischen Unterrichtsforschung verfährt jedoch nicht experimentell, sondern nutzt Methoden, wie sie auch in der Epidemiologie zum Einsatz kommen. Nicht das Experiment, sondern die Statistik gibt vor, wie Unterrichtsforschung zu betreiben ist. Davon soll im nächsten Teil des Beitrags die Rede sein.
Literaturverzeichnis
Descartes, René (1964). Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übersetzt von Lüder Gäbe. Hamburg: Meiner.
Dürr, Hans-Peter (1995). Naturwissenschaft und Poesie. Begreifen und Spiegeln der Wirklichkeit. In: Ders.: Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad. Bedeutung und Gestaltung eines ökologischen Lebensstils (S. 96-119). Freiburg i.Br.: Herder.
Portmann, Adolf (1982). Goethes Naturforschung. In: Ders.: Biologie und Geist (S. 259-276). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Slavin, Robert E. (2002). Evidence-Based Education Policies. Transforming Educational Practice and Research. Educational Researcher (31), no. 7, 15-21.
Weizsäcker, Carl Friedrich von (19906). Die Tragweite der Wissenschaft. Stuttgart: Hirzel.
Die experimentelle Unterrichtsforschung ist zweifellos ein komplexes Phänomen, das hohe Anforderungen an die pädagogische und psychologische Feinfühligkeit des Wissenschaftlers stellt. Die Schwierigkeit ist, dass jeder Lehrer und jeder Schüler in der Klasse einmalige Persönlichkeiten sind und deshalb das komplexe Zusammenspiel ebenfalls einmalig ist. Ein einziger Schüler kann das Geschehen in der Klasse stark beeinflussen. Die adäquate Interpretation der Vorgänge in einem Klassenzimmer ist sehr wahrscheinlich nur demjenigen möglich, der über eine langjährige Unterrichtserfahrung und angewandte psychologische Menschenkenntnis verfügt. Im Prinzip müsste er die Persönlichkeit des Lehrers und aller Schüler genau kennen. Die Reduktion der Komplexität kann hier sehr leicht zu Fehlinterpretationen führen. Das zeigt sich zum Beispiel bei den vielen gescheiterten Versuchen, die Leistungen der Lehrkräfte objektiv bewerten zu können.