24. November 2024

Vom magischen Dreieck der Pädagogik

Guter Unterricht ist ein anspruchsvolles Feld. Da hinein drängen mehr und mehr Akteure, Ansprüche, Amtsvorschriften. Das gefährdet das Gleichgewicht. Ein Plädoyer für die Balance im Bildungsdreieck von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Carl Bossard: Interessant, weil man den Beruf liebt.

Vieles im pädagogischen Alltag kann auf drei Punkte reduziert oder durch drei geteilt werden. Johann Heinrich Pestalozzi machte es mit seinem pädagogischen Dreiklang von Kopf – Herz – Hand vor. Es ist die zeitlose Trias der „drei grossen G“: Grundwissen, Grundhaltungen, Grundfertigkeiten. Pestalozzi wusste, wie wichtig Bildung für junge Menschen ist und dass man alles zusammen entwickeln muss: die Gefühle im Herzen, den Scharfsinn im Kopf und die Geschicklichkeit der beweglichen Hand. Er hat es begriffen, hat es gelehrt, und oft ist er in der Praxis gescheitert. Aber versucht hat er es mit einer nie versiegenden Leidenschaft.[1] Darum hat er bei den Kindern gewirkt.

Den Beruf leidenschaftlich lieben

Von dieser pädagogischen Leidenschaft spricht der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus. Im autobiografischen Werk „Der erste Mensch“ beschreibt er seinen verehrten Lehrer Louis Germain. In zwei Sätzen skizziert Camus den geheimnisvollen Dreiklang, wenn er von Germains Unterricht sagt, er sei “aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant“ gewesen. In dieser Klasse fühlten die Kinder “zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.“[2]

Diese Leidenschaft ist zentrales Element im pädagogischen Dreieck von Lehrperson – Kind – Welt. Die „Welt“ als Symbol für das Neue, das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, oder eben die Unterrichtsinhalte. Es ist eine dreifache Beziehung: erstens vom Pädagogen zur Welt, wie sie Camus‘ Primarlehrer verkörpert, zweitens von der Lehrerin zum Kind, und als Drittes vom jungen Menschen zu den Lerngegenständen: „die Welt […] entdecken“, wie es Louis Germain seinem kleinen Schüler Camus ermöglichte.

Der Mensch wird am Menschen zum Menschen

Camus: „Il aimait passionément son métier.“

Camus’ bewegende Autobiographie veranschaulicht, wie zentral die Lehrperson und ihr Unterricht in diesem magischen Dreieck der Pädagogik ist: Bildung braucht Beziehung. Bildung ist an Menschen gebunden. Das zeigt sich immer wieder: Am Menschen wird der Mensch zum Menschen. Lehrpersonen und ihre Schüler begegnen sich im „Stoff“ als Kulturgut.

Genau das meinte wohl Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation. Am Tag der Nobelpreis-Übergabe schrieb er seinem Lehrer: „Als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.“[3] Welche Reverenz vor seinem ehemaligen Lehrer!

Schule als Institution ist primär Interaktion

Das Ferment wirksamer Schulen bilden Lehrerinnen und Lehrer; sie verbinden konzentrierten Unterricht mit feinfühliger Erziehung. Es gibt keine guten Schulen ohne gute Lehrpersonen, betont der Zürcher Ordinarius für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Roland Reichenbach. Wörtlich sagt er: „Und diese Lehrpersonen müssen den Schülerinnen und Schülern klar machen: Erstens: Was du hier lernst, ist wirklich wichtig. Zweitens: Mir ist es ein Anliegen, dass du das lernst. Drittens: Ich glaube fest daran, dass du das schaffst. Und viertens: Ich werde dir dabei helfen und dich unterstützen.“[4] Und Reichenbach fügt bei: „Diese vier Punkte klingen vielleicht banal, aber sie sind ganz zentral, und man sollte sie auf keinen Fall vergessen.“

Ich glaube fest daran, dass du das schaffst.

Der Literat Camus und der Erziehungswissenschaftler Reichenbach umschreiben beide das Gleiche, nur mit anderen Worten. Beide reden von der schülerzentrierten und leidenschaftlichen Lehrperson und ihrer hohen menschlichen Verantwortung fürs Lernen der Kinder.

Die komplexe Vielfalt im Klassenzimmer

Wer ins Schulzimmer blickt, erkennt schnell, was diese Verantwortung konkret bedeutet und was sich innerhalb dieser vier Wände an Entscheidendem ereignet. Hier sollen die jungen Menschen lernen, mit Kopf und Hand zu arbeiten – und mit dem Herzen dabei zu sein – und so all das zu erwerben, was wir für die Grundsäulen des Lebens halten: Rechnen sowie Schreiben, Lesen, Sprechen – auch in zwei Fremdsprachen. Dazu allein und miteinander Probleme lösen und Kenntnisse aus der nahen und fernen – auch der vergangenen – Welt erwerben. Dann Freude gewinnen an der Bewegung und am Schönen, am Musischen und Kreativen sowie Respekt entwickeln vor den Mitmenschen und der Natur.

Die Kinder sollen überdies das Lernen trainieren und die Ausdauer, offen sein für andere Ansichten und ihre Meinung fair vertreten können. Und so manches andere mehr: ein immenser Berg und eine höchst anspruchsvolle Aufgabe im subtilen Dreieck zwischen Lehrperson – Kind – Unterrichtsinhalt.

Das Korsett künstlich konstruierter Komplexität engt ein

Die Regelungsdichte in der Schule nimmt zu.

Wer steuert in diesem pädagogischen Dreieck die Lernprozesse? Die Lehrerin! Der Lehrer! So die selbstverständliche Antwort. Doch sie trifft nicht mehr zwingend zu. Die Fächerfülle steigt, die Regelungsdichte nimmt zu, die Vorschriften intensivieren sich, die Strukturen werden enger, die Schuladministration wächst – und damit auch die Zahl der Akteure. Das schwächt den pädagogischen und menschlichen Spielraum der Lehrperson; das schnürt ihren Freiheitsraum spürbar ein. Eine künstlich konstruierte Komplexität des Systems gefährdet die zwingend notwendige Balance im pädagogischen Dreieck.

Erfahrene Lehrer warnen seit langem, dass das Feu sacré zu ersticken drohe unter einem Papierberg an Dekreten und Direktiven, Reglementen und Vorgaben. Viele erleben es so: Unnötige Konferenzen und Zusatzaufgaben rauben Zeit und lenken vom Wesentlichen ab. Das wirkt sich aus.

Camus‘ Lehrer: „Il aimait passionément son métier.“

Die Schule lebt vom inneren Feuer der Lehrpersonen. Sie ist ein unersetzliches Kapital. Der Leidenschaft für die Welt entspringt das vitale Engagement für den pädagogischen Auftrag. Das ist die alte Idee der Pädagogik. Diese humane Energie beflügelt Kinder.

Jede administrative Massnahme, jede behördliche Vorschrift, jede Schulreform müsste demzufolge doch bewirken, dass Lehrerinnen und Lehrer, um nochmals an Camus‘ Wort zu erinnern, ihren Beruf leidenschaftlich lieben können – stimulierende Voraussetzung für einen guten Unterricht. Basis dazu ist die Balance im Bildungsdreieck.

 

[1] Vgl. Peter von Matt (2001), Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München/Wien: Carl Hanser Verlag, S. 91.

[2] Albert Camus (1997): Der erste Mensch. Reinbek b. Hamburg, S. 125, 128. Im autobiographischen Roman heisst Camus’ Lehrer Monsieur Bernard.

[3] Ebda, S. 282 [Datum des Briefes: 19.11.1957].

[4] Roland Reichenbach (2015), „Kein Mensch ist bildungsfern,“ in: https://www.srf.ch/wissen/lernen-gewusst-wie/kein-mensch-ist-bildungsfern [Status: 27.01.2020].

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