Die 2014 gegründete Michaela Community School, die das erste Mal an den nationalen Prüfungen teilnahm, hat Schülern, von denen viele aus benachteiligten Verhältnissen kommen, zu einigen der besten Ergebnisse aller nicht selektiven staatlichen Sekundarschulen des Landes verholfen.
Noch bemerkenswerter: Indem die Michaela Schule auf den bewährten Klassenunterricht, auf geordnete Strukturen und traditionelle Werte wie Autorität, Anstand und Disziplin setzte, schaffte sie den „Brexit“ aus der 50jährigen Geschichte erfolgloser progressiver Schulreformen in Grossbritannien. Dabei setzte sie nicht nur das nie erreichte Ziel dieser Reformen, die Chancengleichheit, in die Tat um, sondern erzielte vier Mal bessere Ergebnisse als der nationale Durchschnitt.
Mehr als die Hälfte (54%) aller Klassenstufen der Michaela Schule erreichte die Note 7 oder höher (entspricht dem alten A und A*), was mehr als doppelt so hoch war wie der nationale Durchschnitt von 22%. Fast jeder Fünfte (18%) glänzte mit der Höchstnote 9, verglichen mit 4,5% im Inland, und in der Mathematik war jedes vierte Ergebnis die Höchstnote 9.
Erfahrungen mit dem staatlichen Schulsystem
Die Gründerin der Michaela Schule, Katharine Birbalsingh, hatte als erfolgreiche Absolventin der Universität von Oxford auf eine glänzende Lehrerkarriere verzichtet und begann in einer unterprivilegierten Londoner Schule zu unterrichten. Sie stellte jedoch bald fest, dass an den staatlichen Schulen vieles falsch lief: “Meine Erfahrung, die ich über ein Jahrzehnt lang in fünf verschiedenen Schulen gemacht habe, hat mich zweifelsfrei davon überzeugt, dass das System gescheitert ist, weil es arme Kinder arm hält.”
Durch ihren Blog To Miss With Love, wo sie seit 2007 anonym über ihre Erfahrungen als Lehrerin an einer Inner City Sekundarschule in London schrieb, wurde sie bald bekannt.
“Bildung heisst, den Kindern Wissen beizubringen und nicht Kompetenzen.” – Katharine Birbalsingh
Der größte Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen
Als sie das Buch The Schools We Need and Why We Don’t Have Them (Die Schulen, die wir benötigen und warum wir sie nicht haben) des renommierten amerikanischen Schulkritikers und Vertreters der traditionellen Unterrichtsmethoden E.D. Hirsch las, wurde ihr bewusst, woran die Schule krankte: „Bildung sei, den Kindern Wissen zu lehren und nicht Kompetenzen (skills) beizubringen“. Für Hirsch ist der Grund, warum die meisten Studenten am Community College und nicht an der Universität landen, nicht die angeborenen Fähigkeiten oder der familiäre Hintergrund, sondern das für den akademischen Aufstieg fehlende Grundwissen über kulturelle Begriffe und Konzepte.
Von der Bildungspolitik der Labour Party enttäuscht, hielt sie eine Rede an der Conservative Party-Konferenz 2010, wo sie das staatliche britische Bildungssystem kritisierte und die Bildungspolitik der Partei unterstützte. Mit dieser Rede erlangte sie nationale Berühmtheit, verlor aber ihren Job als stellvertretende Leiterin einer von der Regierung geführten Schule im Süden Londons.
In ihrem 2011 erschienenen Buch To Miss with Love schreibt Birbalsingh: „Ich mache mir Sorgen, dass ich meinen Job verliere, weil ich dieses Buch geschrieben habe. Als Berufsstand werden wir stark davon abgehalten, uns gegen das System auszusprechen. Aber ich glaube, der größte Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen. Wie eine Freundin von mir bei der Lektüre sagte: To Miss with Love wagt es, das zu sagen, was wir Lehrer immer denken, aber niemand sagt.“
Chancengleichheit für die Unterprivilegierten
Birbalsingh gründete ihre eigene Schule, eine gebührenfreie Gemeindeschule (kostenlose, staatlich finanzierte, von örtlichen Behörden unabhängige „Freie Schule“) für Unterprivilegierte und wirtschaftlich Benachteiligte im Londoner Bezirk Brent. Im September 2014 startete die Michaela Community School mit 120 Schülern (für 2020 sind 840 Schüler geplant). Die Schüler, die zur Michaela Schule kamen, konnten sich keine Privatschule leisten. Aber sie brauchten Ordnung und Disziplin im Leben, die ihnen in ihren Familien und Gemeinschaften verzweifelt fehlten. Die Schule wird von vielen Medien als „strikteste Schule Grossbritanniens“ verunglimpft. Von den Laisser-faire-Standards, die man an britischen Schulen beobachten kann, grenzt sie sich wohltuend ab.
„Ich ließ Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems war, das Kinder scheitern ließ.” – Katharine Birbalsingh
Mit der neuen Michaela Sixth Form ( die letzten drei Jahre der Sekundarschule) wird die Tradition der Schule in Bezug auf akademische Exzellenz, hohe Standards und außergewöhnliche Ergebnisse für die Schüler fortgesetzt. Für September 2020 werden Bewerber gesucht, die einen Studienplatz in Oxford, Cambridge und anderen Spitzenuniversitäten in Großbritannien und der ganzen Welt anstreben.
„Ich ließ Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems war, das Kinder scheitern ließ. Ich habe mir vorgenommen, nie mehr ein weiteres Kind scheitern zu lassen, und wenn mir das gelingt, dann hat die Michaela Schule nicht nur sie gerettet, sondern auch mich. Es ist möglich. Wir müssen nur anders denken.“ – Katharine Birbalsingh, The Spectator 19. März 2016
Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit lehren
In der Schulordnung wurde festgehalten, welches Benehmen und Verhalten von den Schülern erwartet wurde. Birbalsingh hatte die Erfahrung gemacht, dass eine Schule Gefahr läuft, bei ihren Schülern eher Hilflosigkeit, Egoismus oder Abhängigkeit zu schaffen als Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit, wenn sie zu freizügig ist und zu viele Ausnahmen zulässt. Sie meint, wenn eine Schule ihre Standards für ärmere Schüler aufgrund ihrer Armut oder ihres schwierigen Heimlebens herabsetze, erweise sie ihnen einen schlechten Dienst und erwecke den Eindruck, dass sie nicht genug an sie glaube.
OECD-Direktor Andreas Schleicher, beeindruckt von dem Besuch der erfolgreichen Michaela Schule im November 2019, meinte: „Vielleicht ist es an der Zeit, den lehrergeleiteten Unterricht und das schülerorientierte Lernen nicht mehr gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, das eine sei altmodisch und erdrückend, das andere zukunftsorientiert und befähigend. Beide Ansätze haben eindeutig ihren Platz.”
Zu Katharine Birbalsingh
Birbalsingh wurde in Neuseeland als ältere von zwei Töchtern des Lehrers Frank Birbalsingh aus Guyana und seiner Frau Norma, einer Krankenschwester aus Jamaika, geboren und ist in Kanada aufgewachsen. Ihr Großvater Ezrom S. Birbalsingh war Leiter der kanadischen Missionsschule in Better Hope, Demerara, Guyana. Mit fünfzehn Jahren übersiedelte sie ins Vereinigte Königreich, wo ihr Vater an der University of Warwick als Gaststipendiat weilte.
Sie studierte Französisch und Philosophie an der University of Oxford. Nach ihrem Abschluss ließ sie sich im Vereinigten Königreich nieder. Sie schreibt regelmäßig für den Daily Telegraph. Ihr im März 2011 veröffentlichtes Buch To Miss with Love, das ihre Erlebnisse während eines Schuljahres beschreibt, wurde sofort zu einem Bestseller: Es wurde zum Buch der Woche gewählt und von Radio BBC 4 als Serie ausgestrahlt. 2017 wurde sie auf Anthony Seldons Liste der 20 einflussreichsten Personen im britischen Bildungswesen aufgeführt. 2019 erhielt sie den Contrarian Prize als Schulleiterin, die es wagte, das Bildungssystem herauszufordern..
Peter Aebersold, Zürich
Quellen:
https://oecdedutoday.com/working-hard-and-being-kind/ Bericht von Andreas Schleicher OECD
https://de.wikipedia.org/wiki/Katharine_Birbalsingh
Katherine Birbalsingh: To Miss with Love, Penguin Books 2011, ISBN 978-0-670-91899-7
Katherine Birbalsingh et al.: Battle Hymn of the Tiger Teachers: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2016, ISBN 978-1909717961
Katharine Birbalsingh et al.: Michaela: The Battle For Western Education. Tiger Teachers Take Two: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2020, ISBN 978-1-912906-21-5
Private Schools for the Poor: A case study from India
James Tooley and Pauline Dixon (2003)
Die britischen Autoren haben in Grossstädten in verschiedenen Entwicklungsländern (Hyderabad, Lagos…() feiwillig von armen Eltern gegründete und kostenpflichtig (!) betriebene Privatschulen untersucht. Die Schüler dieser Schulen erzielten durchwegs viel bessere Prüfungsresultate als die “peers” aus kostenlosen Staatsschulen. Dafür gibt es gemäss den Autoren verschiedene Erklärungen. Ein wichtiger Grund ist aber, dass die Kinder wissen, wie sehr sich ihre Eltern das Schulgeld von ihrem kargen Einkommen absparen müssen, d.h. welche Opfer die Eltern zugunsten ihrer Kinder eingehen.
Interessant an diesen Schulen ist zudem für uns, die wir fest an die Segnungen eines staatlich dominierten kostenlosen Bildungssystems glauben, allein schon die Leichtigkeit, mit der in diesen armen Ländern der “Markteintritt” in das Schulwesen ermöglicht wird.
Wer mehr darüber erfahren will, findet unter Pauline Dixon (Newcastle University) viel Material.
Wie das Beispiel zeigt, ist der Erfolg der Michaela Schule, nicht darauf zurück zu führen, dass sie eine „freie“, vom Staat finanzierte, Schule ist. Ebenso wenig der Misserfolg der staatlichen Schule, weil sie vom Steuerzahler finanziert wird. „Frei“ kann eben auch bedeuten, dass die Schule ein anderes Konzept und andere Methoden wählen kann, als die Staatschule. Bei der weltweiten Meta-Meta-Studie von John Hattie über die Wirkungsfaktoren des Schulerfolgs spielt das Geld keine Rolle, hingegen jedoch in allererster Linie der Lehrer. Bei der Michaela Schule wurde die Form der „Freien Schule“ aus der Not gewählt, weil in den staatlichen Schulen den Lehrern die de jure gewährte Methoden- und Lehrmittelfreiheit de facto nicht mehr gewährt wird, wie das auch bei uns der Fall ist. Die ehemaligen Kolonien sind immer noch sehr auf den Westen ausgerichtet und übernehmen von dort auch Schulreformen, die sich nicht bewährt haben. Ein einigermassen aussagefähiger Erfolgsvergleich zwischen Schulen müsste untersuchen, unter welchen Bedingungen und wie die Lehrer dort arbeiten.