Das menschliche Leben vollzieht sich von Anfang an im Spannungsfeld zwischen integrativen und separativen Lebensformen. Beide haben ihre Berechtigung. Die Frage ist nur, welches der beiden Prinzipien sich im Moment für das weitere Gedeihen des heranwachsenden Menschen als geeigneter und damit erfolgreicher erweist. Wer von uns will denn schon jederzeit mit andern zusammen sein? Jeder ist zuweilen auch mal gerne allein, will sich nicht ununterbrochen in der Vielfalt der Individualitäten, der Interessens- und Begabungsunterschiede aufhalten, sondern ganz gerne wieder einmal sich selber sein oder aber sich unter seinesgleichen bewegen. Was ist denn daran so schlimm und diskriminierend? Ist denn die Forderung „Jedem das Gleiche“ wirklich eine gerechte Forderung bei den unterschiedlichen Ausgangslagen, die Menschen angesichts ihrer konstitutionellen Besonderheit, ihrer intellektuellen und sprachlichen Verschiedenheiten und ihrer sozialen Herkunft aufweisen? Ist es denn nicht menschlicher, sie dort (einstweilen) zu fördern, wo auf ihre momentane Lage und ihre Schwierigkeiten besonders eingegangen werden kann, damit sie für die nächstfolgende Schulstufe, den Beruf und das Leben eine bessere Ausgangslage haben?
Wer sagt denn, der Besuch einer gut geführten Sonderschule oder Sonderklasse, die von einer vielseitigen und entsprechend ausgebildeten heilpädagogischen Fachkraft geführt wird, sei für die Schüler beschämend, niederdrückend und eine seelische Belastung? Nur wo das Kind selbst spürbare Lernerfolge hat, wird es wieder gern zur Schule gehen, und die Eltern werden das bei anfänglichem Widerstand bald zu schätzen wissen.
Viel wichtiger als die letztlich organisatorische Frage, ob separative oder integrative Erziehungs- und Förderungsmassnahmen angebracht sind, ist die Frage, was denn heilpädagogische Massnahmen grundsätzlich gegenüber der Alltagserziehung und dem sogenannten Normalschulunterricht voraushaben sollten, was inhaltlich anzubieten ist und wie im konkreten Einzelfall die bestmögliche Förderung erfolgen kann. In dieser Hinsicht müssen keineswegs umwerfend neue Wege beschritten werden. Vielmehr wäre notwendig, sich wieder einmal auf das zu besinnen, was an entwicklungspsychologischen und heilpädagogischen Erkenntnissen längst bekannt ist und nur von jenen übersehen wird, die aus ideologischer Verblendung davon nichts mehr wissen wollen, es nicht verstanden haben und demzufolge auch nicht in die Praxis umsetzen können.
Es sei hier an folgende vier Grundsätze einer heilpädagogisch fundierten Erziehung und Bildung erinnert:
1. Entwicklungs- und behinderungsspezifische Tatsachen respektieren
Die seelisch-geistige Entwicklung der Kinder, je mehr diese auf Hilfe angewiesen sind, bedarf der Präsenz, Hingabe und Betreuung durch möglichst wenige und konstante Erzieherpersonen. In dieser Phase geht es vor allem um die Bewahrung des Vertrauens in diese Welt, was nur durch eine Atmosphäre der Sicherheit und der Kontinuität des Zusammenlebens gewährleistet ist. Je weniger diese Stabilität im primären Bereich des Hauses gewährleistet ist, desto mehr ist darauf zu achten, dass sie im schulischen Bereich die Regel bleibt. Zu viele begleitende Fördermassnahmen verhindern die kontinuierliche pädagogische Aufbauarbeit.
2. Basale Förderung als Grundlage allen Lernens
Wichtiger als die Frage, wo das Lernen zu erfolgen hat, ist die Frage nach den Voraussetzungen allen Lernens, wo immer auch der Grundstein dafür gelegt wird. Lernen muss wieder in einem viel umfassenderen Sinn verstanden werden, nicht einfach als das, was gewöhnlich unter Aneignung von Kulturtechniken gemeint ist. Es geht um das, was jedem erfolgreichen Unterricht vorausgeht: Sinnesschulung, Förderung der Wahrnehmung, der Sensorik und Motorik, der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, alsdann die Pflege der guten Gewohnheiten, das Üben von Fertigkeiten und die Sozialisation als allgegenwärtiges Anliegen. Dazu ist aber unumgänglich, die Klassenzusammensetzung so vorzunehmen, dass vorerst nicht allzu grosse Unterschiede in den intellektuellen, sprachlichen und entwicklungsmässigen Ausgangslagen bestehen.
3. Optimale emotionale Voraussetzungen für das Lernen
Nicht alle Kinder bringen dieselben Grundlagen für eine Einschulung und ein erfolgreiches Lernen während der Schulzeit mit. Dennoch ist für alle das emotional positive Erlebnis der Schulsituation entscheidend. Das Kind muss sich im Klassenverband in erster Linie wohl und sicher fühlen, dort abgeholt werden, wo es steht und damit angemessen gefördert statt überfordert werden. Haben die Eltern solcher Kinder dies einmal erkannt – auch wenn sie der Einweisung ihres Kindes in eine Sonderklasse vorerst noch ablehnend gegenüberstanden haben – dann ziehen auch sie die besondere Schulung ihres Kindes einer Scheinintegration, angehäuft von einer Batterie flankierender Einzelmassnahmen, die das Kind nurmehr verwirren statt festigen, in jedem Fall vor.
4. Der Wahrheit verpflichtet sein im Denken, Entscheiden und Handeln
Mit der Einsicht, wonach wichtiger ist, dass sich das Kind entwickelt und was es schliesslich gelernt hat, als wo es zur Schule gegangen ist, haben sich Eltern wie Lehrpersonen endlich zur Wahrheit durchgerungen. Sie opfern die wirkliche Situation nicht weiterhin falschen Erwartungen, halten nicht mehr länger ihre eigenen Pläne für die tatsächlichen Bedürfnisse ihrer Kinder. Nur wer sich den harten Tatsachen stellt, erkennt auf neuer Grundlage auch wieder die Möglichkeiten und kann Hoffnung schöpfen.
Diese Grundsätze gilt es im heilpädagogischen Alltag umzusetzen, in welchem Rahmen sie auch immer erfolgen. Wo und wann sich integrative oder segregative Massnahmen als die momentan geeigneten erweisen, wie viel begleitende Förderung und Therapie den Lernfortschritt begünstigen oder hemmen, muss in jedem einzelnen Fall wieder neu geprüft und später überprüft werden. Die heute grassierende Integrationsideologie auf sämtlichen Stufen der Volksschule, mit der parallel dazu erst noch alle Sonderklassen und Sonderschulen aufgehoben worden sind, hat sich als Bumerang erwiesen und wird als heilpädagogischer Irrtum des letzten Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Die Anzeichen dafür sind nicht mehr zu übersehen.
Peter Schmid, Dr. phil., Primarlehrer. Studium der Pädagogik, Philosophie und Heilpädagogik an der Universität Zürich. Schulpsychologe. Dozent am Heilpädagogischen Seminar Zürich 1973-2000, Kantonsrat 1984-87, Präsident der Grünen Partei der Schweiz 1987-90, Nationalrat 1987-95. 1996-2004 Vizestatthalter im Bezirk Steckborn (nebenamtlicher Untersuchungsrichter).