23. November 2024
Digitalisierung

Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion

Der Präsident des LVB (Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland) mahnt in seinem Editorial der Verbandszeitschrift «lvb inform» zu einem vorsichtigeren Vorgehen in Sachen Digitalisierung der Schulstuben. Er drängt auf “evidenzbasierte Nutzungsregeln” und fordert die Bildungsbehörden sowie die Lehrkräfte auf, den Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» der UNESCO, der vor den negativen Folgen einer unreflektierten digitalen Transformation warnt, endlich ernst zu nehmen.

Liebe Leserin, lieber Leser

Als unser ICT-begeisterter Chemielehrer Mitte der 80er Jahre behauptete, in Zukunft würde jeder Haushalt über einen Personal Computer verfügen, lachten wir über seine verrückte Prophezeiung. Und tatsächlich sollte sich unser damaliger IT-Turbo gewaltig geirrt haben: Die meisten Haushalte verfügen heutzutage nämlich nicht über einen Rechner, sondern über etliche digitale Endgeräte in Form von PCs, Laptops, Tablets und Smartphones.

Bildschirme, so weit das Auge reicht – buchstäblich!

Mit der basellandschaftlichen ICT-Schuloffensive wurde die Bildschirm-Armada weiter ausgebaut. An den Sekundarschulen gehören persönliche Tablets bereits zum Standard. Und die Gemeinden sind aufgefordert, auch Primarschulkinder mit iPads – also überdimensionierten Smartphones auszurüsten. Um die Ähnlichkeit der beiden Schiefertafeln zu kaschieren, werden die Tablets liebevoll «digitale Lernbegleiter» genannt. Härzig!

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, BL und Präsident LVB. Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland: Die eindeutigen wissenschaftlichen Belege nicht länger ignorieren
Bild: fabü

Weniger härzig sind jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse, die dem übermässigen Einsatz digitaler Technologien ein bedenkliches Zeugnis ausstellen. Unter Berufung auf 89 internationale Studien warnt die UNESCO in ihrem 435 Seiten starken Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» [1] vor den Folgen einer unreflektierten digitalen Transformation. Das umfangreiche Datenmaterial weise auf einen negativen Zusammenhang zwischen intensiver ICT-Nutzung und den Leistungen der Schüler hin. Das renommierte Karolinska Institut hat die schwedische Bildungsbehörde unlängst aufgefordert, die eindeutigen wissenschaftlichen Belege nicht länger zu ignorieren. Der Einsatz digitaler Werkzeuge führe erwiesenermassen u.a. zu mehr Ablenkung, schwäche die Konzentrationsfähigkeit, behindere das Arbeitsgedächtnis und verschlechtere damit die Lernleistung markant. Pikant: Ausgerechnet Kinder mit besonderen Bedürfnissen wie z.B. ADHS treffe die Digitalisierung besonders hart. [2]

Darüber hinaus wirke sich auch das Lesen und Schreiben am Bildschirm negativ auf das Leseverständnis aus. «Der negative Effekt beträgt 36 Prozent, was etwa zwei Jahren Leseentwicklung in der Mittelstufe entspricht.» Ähnliches hatte 2019 schon die Stavanger-Erklärung ans Licht gebracht: Das Lesen von gedruckten Texten ist effektiver, vor allem wenn es darum geht, Texten Informationen bzw. Zusammenhänge zu entnehmen und sie wiederzugeben.

Zudem verweisen die schwedischen Psychologen und Neurowissenschaftler auf eine weitere Studie, die «einen positiven Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit (z.B. Depression, Angstzustände, […] geringes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Schlafprobleme) und der körperlichen Gesundheit (z.B. Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, schlechtere motorische Fähigkeiten)» beschreibt.

Sechs Jahre später sind die Baselbieter Schulen (inkl. Sekundarstufe II) noch immer meilenweit entfernt von gemeinsamen, evidenzbasierten Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Lernenden orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.

Bereits 2017 mahnte der LVB, dass ein sinnvoll ausgestalteter digitaler Wandel nur gelingen kann, wenn die Elefanten im Raum – die unübersehbaren schwierigen Aspekte, die am liebsten niemand zur Sprache bringen möchte – ernst genommen werden. Sechs Jahre später sind die Baselbieter Schulen (inkl. Sekundarstufe II) noch immer meilenweit entfernt von gemeinsamen, evidenzbasierten Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Lernenden orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.

Die Mindeststandards der Bildung müssen erreicht werden.

Angesichts der besorgniserregenden Faktenlage sind verbindliche Leitlinien dringend erforderlich. Die geistige und körperliche Unversehrtheit gehört ins Zentrum pädagogischer Medienkonzepte. Der Schutz der Privatsphäre muss gewährleistet sein. Es ist z.B. nicht einzusehen, warum Minderjährige nach Schulschluss und am Wochenende für Lehrpersonen erreichbar sein sollen – und umgekehrt. Weder mein Zahnarzt noch mein Gärtner stehen mir nach Ladenschluss zur Verfügung.

Der Eingriff der Schule in das digitale Erziehungskonzept der Eltern ist zu unterlassen. Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind verbindlich zu klären. Der Einsatz von iPads in der Basis- und Unterstufe ist zu hinterfragen. Kurz: Die Schule ist aufgefordert, ihre pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und den negativen Folgen der grassierenden digitalen Vereinnahmung der Kinder und Jugendlichen entschieden entgegenzutreten.

Philipp Loretz

Präsident LVB

P.S.: Um mich vom Vorwurf der ICT-Feindlichkeit zu entlasten, noch dies: Das Magazin [3], das Sie in den Händen halten, habe ich für Sie mit InDesign gestaltet – am Bildschirm, mit Maus, Tastatur und Timer

 

Quellen:

[1] Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» der UNESCO

[2] Stellungnahme des Karolinska Instituts

[3] lvb inform, Septemberausgabe 2023

 

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Welche Rolle spielt die Motivation bei den PISA-Testresultaten?

In einer ersten Reaktion auf die Resultate der interkantonalen Vergleichstests (24.5.19) hat der LCH-Präsident Beat Zemp das Problem der unterschiedlichen Motivation ins Spiel gebracht (Der Condorcet-Blog berichtete. Siehe Kommentar «Nationale Vergleichstests – vor Schnellinterpretationen sei gewarnt» 25.5.19).
Eine Studie in den USA und China scheint zumindest einen Hinweis dafür zu geben, dass Beat Zemps Vermutung nicht so abwegig zu sein scheint. Im Deutschlandfunk wurde die Studie der University of California in San Diego näher besprochen. Das Fazit: Die Motivation der Schüler wurde zu wenig berücksichtigt. Alain Pichard fasst zusammen und kommentiert.

2 Kommentare

  1. Offensichtlich erzeugt das Wort “Digitalisierung” bei etlichen Bildungsverantwortlichen eine Art neurohormonale Erregung… mündend in eine manisch-euphorische Zwangshandlungsdisposition.

  2. Philipp Loretz bringt es auf den Punkt. Mir gefällt besonders der Satz: “Der Eingriff der Schule in das digitale Erziehungskonzept der Eltern ist zu unterlassen.” Als Eltern einer 13- und einer 15-jährigen Tochter wurden wir in den letzten Jahre digital ständig von der Schule ausgebootet. Wollen wir z.B., dass die Geräte möglichst nicht zum Einsatz gelangen oder dass sie um 20 Uhr weggelegt sind, gibt es immer wieder schulische Gründe, dies zu umgehen. Die Geräte werden jedoch nicht dazu verwendet, effektivere Lernmethoden anwenden zu können (weil es sie noch gar nicht gibt!), sondern sind bloss Ersatz für Papier. Ich bedauere, dass die Schule glaubt, auf einen Zug aufspringen zu müssen. Dies, obwohl psychische Probleme bei Kindern doch zugenommen haben. Wann wird endlich der Mut aufgebracht, nicht jede Entwicklung mitmachen zu müssen? Dies alles erinnert mich an das frühe Fremdsprachenlernen und die Vorgehensweise bei der Inklusion. Zuerst Millionen ausgeben, dann – in einigen Jahren – merken, dass es eben doch keinen Sinn macht.

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