Schulpsychologie

Der Stein auf dem Herzen

Als in Basel noch nach vier Jahren Primarschule selektiert wurde, landeten Akademikerkinder auf Elternwunsch praktisch automatisch im Progymnasium. Die Gymnasien waren entsprechend aufgebläht und platzten fast aus den Nähten. Deshalb war es ungewöhnlich, dass sich in meine Realklasse (= Sekundarschulniveau) in Kleinbasel ein solcher Knabe verirrte. Markus Stoll (Name geändert) war Sohn eines Biologen und einer ebenfalls akademisch ausgebildeten Mutter. Condorcet-Autor Felix Schmutz und seine Geschichte über eine eigenartige Rebellion.

 

Schon bald lasen wir einen Text im Lesebuch, in dem das Wort “Wattenmeer” auftauchte. Ein Mädchen streckte auf und fragte: “Was ist Wattenmeer?” Ich schaute in die Klasse, ob sich jemand meldete.

Markus Stoll, der in der hintersten Bank sass, warf seine Hand in die Höhe. Aus dem Stegreif hielt der Zwölfjährige eine Rede zum Wattenmeer, die sogar den Brockhaus oder heute Wikipedia in den Schatten gestellt hätte. Alles was man geografisch und biologisch zum Wattenmeer erklären konnte, legte er elaboriert dar in einem Ton, der fast ein bisschen genervt wirkte, dass jemand das nicht wisse.

Condorcet-Autor Felix Schmutz

Zweiundzwanzig Köpfe drehten sich erstaunt nach ihrem Kameraden um. Ungläubig und mit weit geöffneten Mündern lauschten die Arbeiter- und Migrationskinder seinen Ausführungen. Es ging ihnen wie mir. Jemanden mit einem solchen Wissenshintergrund und verbalen Ausdrucksvermögen hatte ich bis zu jenem Zeitpunkt an der Realschule noch nie erlebt.

“Originelle” Rechtschreibung

Als ich die ersten Aufsätze korrigierte, lieferte Markus einen Text in fabelhaftem Deutsch und klarer Schrift ab. Nur eines fiel sofort auf: Wenn ein Wort mehrmals auftauchte, schrieb er es jedes Mal anders. Pädagogisch ausgedrückt, seine Rechtschreibung war “originell”, aber leider in keiner Weise dudenkonform.

Das tat dem Deutschlehrer weh in der Seele. Wie konnte jemand derart geschliffen formulieren, inhaltlich das gestellte Thema tadellos abhandeln und gleichzeitig die Rechtschreibung völlig ignorieren? War das ein Fall von Legasthenie?

Intelligent, aber rebellisch….?

Ich lud die Eltern zu einem Gespräch ein, sie wirkten ratlos. Mit ihrem Einverständnis liess ich Markus durch den Schulpsychologen Dr. Franz Schnieper abklären. Dieser war sich sicher, der Junge sei kein Legastheniker. Was aus seinen Untersuchungen hervorging, war klar: Markus sei sehr intelligent, aber ein hundertprozentiger Rebell. Der Psychologe bedauerte, er könne mir nicht helfen.

Ein Rebell? Markus besuchte die Schule regelmässig, war pünktlich zur Stelle. In der Klasse störte er nicht, die Aufgaben hatte er immer. Am Unterricht beteiligte er sich oft, zeigte sich wach und aufgeschlossen. Und er verfügte über einen trockenen Humor. Nur Französisch interessierte ihn nicht brennend. Wieso rebelliert einer, indem er die Rechtschreibung verweigert oder neu erfindet?

Im Juni vor den Sommerferien des sechsten Schuljahres unternahm ich mit der Klasse eine Wanderung auf den Wisenberg (sic!), einen Juragipfel mit Aussichtsturm auf rund 1000m Höhe, von dem aus man das Mittelland mit der Dampfsäule aus dem Atomkraftwerk Gösgen zu Füssen und bei klarer Sicht die Alpen gegenüber hat.

Ein Stein des Anstosses?

Vom Startpunkt Sommerau aus musste man einen ziemlich anstrengenden Aufstieg überwinden. Vor den letzten 400 Metern Gipfelsturm legten wir eine Rast ein. Am Wegrand lagen einige Steinbrocken. Markus stemmte einen davon hoch bis auf Brusthöhe.

Ein Mädchen meinte scherzhaft zu ihm: “Den Gwäggi (baseldeutsch für einen grossen Stein) schleppst du jetzt aber nicht mit bis auf den Gipfel!”

Markus mit vor Anstrengung gespannter Stimme: “Was gibst du mir, wenn ich es doch tue?” “Nichts, nichts, aber das schaffst du nicht”, antwortete die Schülerin.

Alles lachte.

Doch wir täuschten uns. Markus trug den grossen Stein mit steifem Schritt wacker und schwitzend den Bergpfad hinauf, die ganzen 400 Höhenmeter bis auf den Gipfel. Ich schritt erst ein, als er tatsächlich Anstalten machte, den Stein noch auf die Plattform des Aussichtsturmes mitzunehmen, um ihn vermutlich von dort oben herunterdonnern zu lassen. “Du hast eine tolle Leistung hingelegt, aber den Gwäggi lässt du jetzt hier liegen!”

Das Erlebnis liess mich lange rätseln, welche Bedeutung diese Selbstquälerei mit dem Gesteinsbrocken gehabt haben könnte.

Schmerz über Familiendesaster abgearbeitet

Völlig überraschend war Markus nach den Sommerferien nicht mehr in meiner Klasse. Er sei nach Riehen übersiedelt und besuche die Schule jetzt dort, hiess es vom Rektorat. Ich rief den Schulpsychologen an, ob er Näheres wisse. Der Fachmann gab sich verärgert:

“Die Eltern haben uns nach Strich und Faden angelogen. Trotz meiner – weiss Gott -langjährigen Erfahrung konnten sie mich täuschen. Herr Stoll hat mir am Telefon gebeichtet, dass ich, als ich seiner Frau die Hand zum Gruss reichte, den näheren Kontakt mit ihr gehabt hätte als er seit zehn Jahren.”

Seit zehn Jahren sprächen die Eheleute nicht mehr miteinander. Zu Hause habe absolute Eiszeit geherrscht. Jetzt hätten sie sich getrennt. Die Mutter sei mit Markus weggezogen. Der ältere Bruder von Markus bleibe beim Vater. Er funktioniere problemlos, besuche das Gymnasium und habe sich irgendwie gefühlsmässig arrangiert. Markus hingegen leide unter der Situation und rebelliere im Innern dagegen. Mit der Verweigerung der Rechtschreibung bringe er das zum Ausdruck.

Schlagartig wurde mir klar, was der Kraftakt mit dem Gesteinsbrocken eigentlich bedeutet hatte. An diesem Stein, dem Objekt gewordenen Familiendesaster, hatte er seinen Schmerz abzuarbeiten versucht. Er soll nach der Schule eine Gärtnerlehre begonnen haben, jedoch kenne ich seinen weiteren Werdegang nicht. Inzwischen dürfte er auf die Fünfzig zugehen.

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