Schule ist vor allem Unterricht. Sie ist keine Nachteilsausgleichsmaschine, sie ist keine Aufbewahrungsanstalt für Kinder, sie ist kein Mechanismus der Wirtschaftsförderung und der Standortsicherung. Das alles sind Illusionen, die durch den Unterricht nicht verwirklicht werden können. Der Unterricht kann, wenn er gut erteilt wird, die Köpfe der Kinder erfrischen und ihre Aufmerksamkeit erreichen; er kann ihnen Fähigkeiten beibringen, die unter allen gesellschaftlichen Hinsichten hilfreich sind. Nicht mehr, nicht weniger.
Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth gehört zu den wenigen Vertretern seines Faches, die einen Sinn für die Tatsache haben, dass alles, was die Schule leisten soll, durch das Nadelöhr des Unterrichts hindurchmuss, durch die Interaktion zwischen Lehrkraft und Schulklasse. Das hat ihn die ständigen Reformen des Bildungssystems, die wir seit fünfzig Jahren erleben, aus einer skeptischen Distanz betrachten lassen. Tenorth ist Bildungshistoriker, er weiß um die ewige Wiederkehr der gleichen Debatten. Er weiß nicht zuletzt um die Langsamkeit der Bildungsprozesse wie des Geschehens an Schulen. Der Ungeduld aller Beteiligten – der Eltern, der Politiker, der Wirtschaft – setzt er dieses Wissen entgegen. Mit seinem Appell, es komme in erster Linie nicht darauf an, die Schulen zu verändern, sondern sie zu schonen, dringt er leider nicht durch.
Dann ist das Scheitern endgültig
Über die Geschichte der gymnasialen Oberstufe in der Bundesrepublik von 1945 bis in die Hochzeit der Reform in den Siebzigerjahren ist Tenorth 1975 in Würzburg promoviert worden. Er hat eine Geschichte der Erziehung von der Neuzeit an geschrieben und eine Einführung in die Historische Pädagogik. Viele seiner Publikationen gelten dem Begriff der Allgemeinbildung und der Frage, wie Mindestkenntnisse und -fähigkeiten im vorgymnasialen Bereich vermittelt werden können. Tenorth war Vizepräsident der Berliner Humboldt-Universität, an die er nach mehr als fünfzehn Jahren auf einem Frankfurter Lehrstuhl im Jahr 2001 wechselte und deren Geschichte er in sechs Bänden herausgegeben hat. Zuletzt erschien in Ko-Autorschaft eine Studie zur Pädagogik unter den Umständen der DDR.
Sein 2018 erschienenes Buch über den Bildungsbegriff, das nur empfohlen werden kann, schließt mit einer ironischen Kommentierung der expansiven Hoffnungen, die vielerorts an Bildung geknüpft werden. Alle Probleme der Welt – von der Integration Fremder über den Rechtsradikalismus bis zum Mangel an Fachkräften – werden gerne als Bildungsprobleme formuliert, „und dann ist das Scheitern endgültig“, denn es gibt ja noch andere gesellschaftliche Bereiche als die Schulen: Familien, das Recht, die Massenmedien oder die Wirtschaft, die auf solche Weltprobleme einwirken. Es sei insofern, so Tenorth, eine berechtigte Erwartung an die Gebildeten unserer Tage, „sich der allfälligen Forderung nach Bildungsidealen zu verweigern“. Diesen Sonntag wird Heinz-Elmar Tenorth achtzig Jahre alt, und wir gratulieren.
Quelle: F.A.Z.
Natürlich schließe ich mich der Gratulation für Hans-Elmar Tenorth an. Bedenklich finde ich an der Auswahl seiner Überlegungen in dem kurzen Beitrag von Jürgen Kaube, dass er mit ihm an die „Gebildeten unserer Tage“ appelliert, sich „Bildungsidealen zu verweigern“. Die Aufforderung „Wehret den Idealen“ in der Überschrift des Beitrags nimmt diesen Gedanken für mich mit Schreck-Effekt vorweg. Die genannten Beobachtungen, dass „alle Probleme dieser Welt – von der Integration Fremder über den Rechtsradikalismus bis zum Mangel an Fachkräften“ zu Bildungsproblemen erklärt werden, teile ich, auch das Urteil, diese Zuweisungen schadeten der Schule. Allerdings sollte dieser Umstand nicht zu einer Enthaltsamkeit bezüglich der Ideale führen. Das wäre zum Fürchten. Es ist meiner Meinung nach die erste Aufgabe von Lehrern und Lehrerinnen, sich als Berufsanfänger über die eigenen Bildungsideale bewusst zu werden, nicht sie ad acta zu legen. Das Problem ist vielleicht der wissenschaftliche Anspruch, dem Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler theoretisch unterliegen, sich hier z. B. vom Ideal der Widerspruchsfreiheit abzunabeln und anderen Paradigmen wie der Demontage anthropologischer oder überhaupt ontologischer Setzungen doppelt kritisch zu begegnen. Für die Bediensteten im Bildungsbereich wäre ein Verzicht auf Ideale das Todesurteil jeglicher engagierter Pädagogik, aus der sich andere Gewerke heraushalten sollten. So gemeint, stimme ich den hier in Rede stehenden Überlegungen Tenorths und dann wohl auch Kaubes voll zu. Die gegenwärtige Lage der Erziehungswissenschaft, wie sie sich mir darstellt, also mit manchmal einerseits oft weltfremden Prämissen, andererseits für alles offenen Relativierungen, warnt mich zur Umsicht und der Empfehlung: Vorsicht mit solchen Formulierungen.