7. September 2024
Lehrkräftebildung und Mathematikunterricht

Reformbedarf in Bayern und darüber hinaus

Diskussionen zur Struktur der Lehrkräftebildung gibt es derzeit wohl in allen deutschen Bundesländern, der Schweiz und Österreich. Der folgende Beitrag beleuchtet dies aus der bayerischen Perspektive, weil der Autor nun seit zehn Jahren in diesem Bundesland in der Mathematiklehrkräfteausbildung tätig ist. Die beschriebenen Probleme stellen sich in vielen anderen Ländern aber ganz ähnlich.

Welche Struktur der Lehrkräftebildung Erfolg versprechend ist, hängt davon ab, welche Erfolge man haben möchte, oder mit anderen Worten: Die Art der Bildung, die in der Schule vermittelt werden soll, bestimmt, welche Kompetenzen Lehrkräfte benötigen. Aus diesem Grund nimmt der Beitrag auch den Unterricht selbst in den Blick.

Gastautor Prof. Reinhard Oldenburg

Digitalisierung ist eines der großen Themen unserer Zeit, aber wie in ganz Deutschland wird sie auch in Bayern sehr stark von den Medien her gedacht: Man ersetzt Papier durch ein Tablet, die Inhalte werden aber nicht modernisiert. Dabei steht die große Frage im Raum: Wie müssten sich Bildungsinhalte ändern, um Jugendliche möglichst gut auf eine Zukunft vorzubereiten, in der digitale Werkzeuge alle Bereiche des Lebens und auch der Wissenschaften durchdringen. Es gibt dazu unzählige Vorschläge, aber gerade in der Mathematik findet davon nichts Eingang in die Lehrpläne: Die möglichen Synergien zwischen Mathematikunterricht und Informatikunterricht bleiben deswegen ungenutzt.

Wie müssten sich Bildungsinhalte ändern, um Jugendliche möglichst gut auf eine Zukunft vorzubereiten, in der digitale Werkzeuge alle Bereiche des Lebens und auch der Wissenschaften durchdringen?

 

Nur ein Beispiel: Regression als ein elementares Verfahren des maschinellen Lernens könnte leicht unterrichtet werden und eine Basis bilden für das Verständnis von Prognosen etwa zum Klimawandel oder dem Verständnis von Eigenschaften von KI-Systemen. Aus diesem einfachen Beispiel lassen sich eine Reihe von Erkenntnissen gewinnen, die sich auch durch unzählige weitere Indizien stützen lassen: Lehrkräfte benötigen eine breite Bildung, die ihr eigentliches Fach mit anderen vernetzt. Artefakte der Digitalisierung sind nützlich als Werkzeuge und als Reflexionsanlass, aber keineswegs ist es notwendig, diese Artefakte ständig zu benutzen: Punktueller Einsatz reicht.

Breite Bildung und Vernetzung

Bei KI steht aktuell leider nicht Verständnis und Beherrschung im Vordergrund, sondern das Benutzen. So gibt es große Hoffnungen, Unterricht mit künstlicher Intelligenz zu verbessern, oder eventuell ihn sogar teilweise dadurch zu ersetzen, indem die KI als Nachhilfelehrkraft und individueller Tutor für die traditionellen Inhalte fungiert. Man benutzt Computer also, wie Conrad Wolfram angemerkt hat, um den Jugendlichen Fähigkeiten beizubringen, die nötig waren, als es noch keine Computer gab.

Zudem machen beim aktuellen Stand der Technik KI-Systeme noch viele Fehler, die Lernende nachhaltig verwirren können. Wenn sie mit diesen Systemen also umgehen sollen, müsste der Unterricht Strategien vermitteln, wie man die Korrektheit von Argumentationen logisch überprüft, und es würde helfen, diese Systeme zu demystifizieren, indem man einige ihrer mathematischen Arbeitsweisen im Unterricht thematisiert. Solche Inhalte kommen aktuell im Lehramtsstudium nicht vor und können auch kaum aufgenommen werden, weil die Freiheit der Lehre begrenzt ist durch Ordnungen, Verordnungen, Modulhandbücher, zentrale Prüfungen u.s.w.

In Befragungen zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler ebenso wie Studienanfangende, dem, was sie in Mathematik in der Schule lernen, kaum Relevanz für ihr weiteres Ausbildungs- und Berufsleben zuschreiben. Es mangelt in den Lehrplänen und Schulbüchern an wirklich authentischen Beispielen, die die Kraft der Mathematik zur Lösung von wichtigen Problemen zeigen. Dass viele Lehrerinnen und Lehrer dabei auch wenig beitragen können, liegt daran, dass das Studium viel zu stark an der reinen Mathematik orientiert ist und Aspekte der anwendungsorientierten Mathematik zu kurz kommen.

Probleme, die sich in der Schule gar nicht stellen

Und die reine Mathematik, die im Lehramtsstudium umfangreich unterrichtet wird, wird i.d.R. nicht dazu genutzt, elementare schulnahe Dinge möglichst tief zu durchdringen und daran zu lernen, was ein gültiges logisches Argument ist (was, wie oben schon gesagt, auch bei der Beurteilung von Ergebnissen der künstlichen Intelligenz hilfreich ist), sondern es geht sehr stark um das Erlernen von Verfahren zur Lösung von Problemen, etwa von Differentialgleichungen, die sich in der Schule gar nicht stellen.

Zur geringen Motivation kommt die Verführung der work-life-balance: Es ist in Bayern aus rechtlichen Gründen faktisch nicht möglich, Studierende zu zwingen, in Seminaren anwesend zu sein oder wöchentlich Hausaufgaben abzugeben.

 

An diesen Inhalten des Studiums hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas geändert, obwohl die Schule eine anderen ist. Vor 50 Jahren sollte das Gymnasium stark wissenschaftspropädeutisch arbeiten, Lehrkräfte mussten deswegen vor allem ihr Fach auch in der Tiefe solide beherrschen und die Inhalte des Studiums waren entsprechend gewählt. Diese Inhalte sind auch nicht grundsätzlich schlecht, aber sie bereiten auf einen Unterricht vor, wie er heute (leider) nicht mehr gemacht werden kann.

Mehr Autonomie für mehr Motivation

So wenig wie Schülerinnen und Schüler die Relevanz der Mathematik sehen, so wenig sehen viele Lehramtsstudierende die Relevanz dessen, was sie lernen müssen. Zur geringen Motivation kommt die Verführung der work-life-balance: Es ist in Bayern aus rechtlichen Gründen faktisch nicht möglich, Studierende zu zwingen, in Seminaren anwesend zu sein oder wöchentlich Hausaufgaben abzugeben. Vermeintlich reicht eine kleine Prüfungsleistung aus, um nachzuweisen, dass man alle relevanten Kompetenzen erworben hat. Aber eine Prüfung, noch dazu eine, die man beliebig oft wiederholen kann, garantiert nicht so viel Lernfortschritt wie das kontinuierliche Mitarbeiten während eines ganzen Semesters. Am Ende des Studiums muss ein Staatsexamen bewältigt werden, das sehr anspruchsvoll ist, und dessen Inhalte wenig mit dem späteren Beruf als Lehrkraft zu tun haben. Dies ist letztlich vor allem eine Fleißprüfung, die viele geeignete Lehrkräfte ausgesiebt als gäbe es keinen Lehrkräftemangel.

Am Ende des Studiums muss ein Staatsexamen bewältigt werden, das sehr anspruchsvoll ist, und dessen Inhalte wenig mit dem späteren Beruf als Lehrkraft zu tun haben.

 

Die Politik sucht aktuell verzweifelt nach Maßnahmen mehr Lehrkräfte zu bekommen. Man wundert sich, dass der Beruf trotz guter Bezahlung und den Privilegien des Beamtentums nicht sehr beliebt ist. Dabei genügen schon elementare Psychologiekenntnisse, um zu erkennen, dass Autonomieerleben wichtig für die Motivation ist. Die Lehrpläne aber schreiben den Lehrkräften ganz genau vor, was sie tun müssen, und zunehmend auch, wie sie es tun müssen. Warum darf eine Lehrkraft nicht selbst ein mathematisches Thema pro Jahr auswählen und seine didaktische Umsetzung selbst bestimmen? Durch den Lehrermangel gibt es zunehmend Quer- und Seiteneinsteiger in den Schulen, es wäre doch naheliegend gewesen, denen die Möglichkeit zu geben, ihre bisherigen individuellen mathematischen Erfahrungen in der Schule einzubringen.

Viele Regeln, die das Schulleben bestimmen, sind in der heutigen Zeit der Heterogenität nicht mehr angemessen. Es gibt kulturelle und familiäre Unterschiede in der Wertschätzung von abstraktem Wissen und in der Einschätzung von Ermahnungen durch die Lehrkraft. Lehrerinnen und Lehrer bräuchten heutzutage deutlich mehr Möglichkeiten, den Anforderungen der Schule ggf. durch Disziplinarmaßnahmen Nachdruck zu verleihen. Das ist nicht schön, aber wenn Lehrkräfte sagen, dass sie keine Hausaufgaben stellen, weil es keine Mittel gibt, durchzusetzen, dass sie gemacht werden, dann scheint mehr Druck nötig, um die Disziplin zu erreichen, die produktives Lernen ermöglicht. Und nebenbei: Die Aussicht, ein Berufsleben ohne Tinnitus durchzustehen, könnte die Attraktivität des Lehrerberufs erhöhen.

Lehrerinnen und Lehrer bräuchten heutzutage deutlich mehr Möglichkeiten, den Anforderungen der Schule ggf. durch Disziplinarmaßnahmen Nachdruck zu verleihen.

 

“Mehr Praxis” wird aus vielen Ecken gefordert. Die Politik mag verführt sein, Studierende als Hilfslehrkräfte einzusetzen, um dem Lehrkräftemangel zumindest etwas entgegenzusetzen. Studierende fordern auch oft mehr Praxisbezug der Lehrveranstaltungen. Freilich verstehen einige darunter, dass man Ihnen “die eine richtige Art” beibringen möge, wie man Bruchrechnung unterrichtet – eine Einstellung, die verkennt, dass gute Lehrkräfte den Stoff flexibel an die Vorkenntnisse der Lernenden anpassen müssen und dazu eine Vielzahl von Vermittlungsmethoden kennen sollten. Die populistische Forderung nach mehr Praxis greift also zu kurz, wichtiger wäre eine Ausbildung, die stärker praxisorientiert ist, aber auf einem soliden theoretischen Fundament aufbaut.

Enorme Relevanz der Mathematik

Was also wäre zu tun? Die Rahmenbedingungen in der Schule sollte den Lehrkräften mehr Spielraum einräumen, sie sollten die Regeln in der Lerngruppe setzen und Verstöße besser sanktionieren können. Sie sollten mehr Wahlfreiheit im Lehrplan haben und es sollte mehr Möglichkeiten zur Differenzierung geben (Wiedereinführung von Leistungskursen – nicht nur in den letzten beiden Jahrgängen). Die Curricula sollten der modernen Zeit angepasst werden: Mehr logische Argumentationsschulung, philosophische Aspekte und echte Anwendungen, die die enorme Relevanz der Mathematik für die moderne digitalisierte Gesellschaft zeigen.

Wenn der Unterricht etwas anbieten würde, was die Jugendlichen interessiert, könnte man auch inhaltlich mehr erreichen.

 

Solchen Forderungen wird üblicherweise entgegengehalten, die Lehrpläne seien ohnehin schon überfrachtet, und man solle nicht noch mehr fordern. Hier gibt es eine Paradoxie aufzuklären: Die Lehrpläne wurden in den letzten 20 Jahren massiv ausgedünnt: Wenn Lehrkräfte aus der Praxis berichten, dass sie mit diesen Inhalten kaum durchkommen, kann das also eigentlich nicht an der Stofffülle liegen. Es scheint offensichtlich, dass die Kinder kaum Interesse an den Dingen haben.

Wenn ich Unterricht beobachte, kann ich mir kaum vorstellen, dass sich im Schnitt Schülerinnen und Schüler in 45 Minuten mehr als 15 Minuten mit Mathematik beschäftigen. Den Rest belegen Gespräche mit den Nachbarn, Spielereien mit dem iPAD oder künstlerische Malereien. Wenn der Unterricht etwas anbieten würde, was die Jugendlichen interessiert, könnte man auch inhaltlich mehr erreichen. Außerdem muss man der Realität ins Auge sehen, dass auch das Gymnasium heutzutage nahezu eine Gesamtschule ist, die dringend Differenzierung in Kurse unterschiedlichen Anspruchsniveaus erfordert.

In der Lehrerbildung sollte die professionsferne Tiefe in der klassischen Mathematik reduziert werden zugunsten von mehr Beschäftigung mit schulnahen Grundlagen der Logik des Argumentierens und der Anwendungen. Vorschläge in diese Richtung hatte eine bayerische Expertengruppe schon vor acht Jahren entwickelt, sie wurden damals aber abgelehnt. Mehr Praxis ins Studium bringen sollte bedeuten, die schulischen Inhalte auf akademischen Niveau zu reflektieren und zu vernetzen, Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung zu besprechen.

Eine gute Lehrkraft sollte eigentlich weder Schulbuch noch Lehrplan brauchen.

 

Lehrkräfte sollten aber auch ein angemessenes Bild von Mathematik und ihrer Bedeutung entwickeln, die Mathematik als besondere Wissenschaft kennen und schätzen lernen, um eigene Ziele haben zu können, und daraus zu wissen, wo sie im Unterricht hinwollen. Sie sollten eine Haltung haben, welch wertvolles Kulturgut sie den Kindern mitgeben wollen. Eine gute Lehrkraft sollte eigentlich weder Schulbuch noch Lehrplan brauchen. Dagegen ist die Frage, ob man die bisherigen Praktika in ein Praxissemester überführt oder nicht, eher zweitrangig, das ist eine Scheindebatte, die keine Probleme lösen wird. Schon jetzt gibt es hervorragende Modelle wie etwa die „Lehrwerkstatt“, in der die Studierenden intensiv in die Praxis eingebunden werden.

Forschung in den Schulen erleichtern

Wichtiger für den Austausch von universitärer Phase und Schulrealität wäre eine Intensivierung der Kontakte: Forschung in Schulen sollte erleichtert werden, das aktuelle extrem bürokratische und langsame Genehmigungsverfahren gehört dringend vereinfacht. Ideal wäre, wenn jeder Didaktik-Lehrstuhl eine kleine Anzahl von Forschungslehrkräften hätte, die gegen eine Ermäßigung von etwa zwei Unterrichtsstunden mit der Lehrerbildung und der didaktischen Forschung kooperieren und etwa aktuelle Fragen aus dem Unterricht in die Forschung einbringen.

Die hier aufgezeigten Problembereiche zeigen, dass grundlegend für eine Reform der Lehrkräfteausbildung ist, dass man sich zunächst klarmacht, welche Schule man haben möchte. Sollen im Mathematikunterricht nur Rezepte vermittelt oder auch intellektuelle Debatten geführt werden? Die Struktur einer guten Lehrkräfteausbildung ergibt sich daraus fast von allein, denn im ersten Fall reicht es, Videos von Daniel Jung anschauen zu lassen, im zweiten Fall braucht es aber eine solide, umfangreiche und auch mit der richtigen Theorie ausgestatteten Ausbildung. Wichtig ist also eine Diskussion über Inhalte und Ziele der schulischen Bildung und im Anschluss eine über die dazu passende Lehrkräftebildung.

 

Der Autor: Reinhard Oldenburg, Prof. für Didaktik der Mathematik an der Universität Augsburg, erster Vorsitzender der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik. Der vorliegende Beitrag ist aber die Privatmeinung des Autors und keine Stellungnahme der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik oder der Universität Augsburg.  

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6 Kommentare

  1. Der Artikel spricht von der enormen gesellschaftlichen Relevanz der Mathematik, aber wenn sie die wirklich hätte, würden ja nicht geschätzte 90 % der Gesellschaft und insbesondere auch der sogenannten Elite damit kokettieren, daß sie von Mathematik keine Ahnung haben. Damit wird die Mathematik als esoterische Geheimwissenschaft wahrgenommen, die von abgedrehten Freaks betrieben wird. Da man aber bei Wahlen auch gerne die Stimmen der restlichen 10 % hätte, tut man höheren Orts gelegentlich
    – insbesondere nach PISA und ähnlichen Tests – so, als würde man sich für mathematische Bildung interessieren. Dem ist aber nicht so!
    Nehmen wir einmal an, dieser Nachweis würde den Mathematikern (vielleicht in Zusammenarbeit mit den Physikern) gelingen. Dann kann man anfangen, über den Inhalt der schulischen Mathematik-Bildung zu diskutieren. Ich würde dafür plädieren, in der Grundschule Rechnen zu unterrichten, also rezeptorientiert vorzugehen, in der Sekundarstufe I dann zum einen mit ‘Rechnen für Fortgeschrittene’ weiterzumachen, daneben aber auch klassische Dreiecksgeometrie als Einübung von Begründen und Beweisen zu betreiben und in der Oberstufe wirklich Mathematik als Geisteswissenschaft, die sie ja ist, aufzufassen und zu lehren.
    Und dann kann man die Lehrerausbildung in den Blick nehmen. Wenn wir den Universallehrer für alle 3 Stufen haben wollen, wird das eine sehr anspruchsvolle Ausbildung. Und es ist ein Programm für geschätzte 30 Jahre.
    Eine Frage, die ich bei dieser Gelegenheit auch aufwerfen möchte: Muß diese Bildung unbedingt in staatlichen Schulen mit Schulpflicht von Schülerseite, aber ohne Lieferpflicht von Schulseite erfolgen? Der Artikel enthält ja die richtige Beobachtung, daß zwei Drittel der Unterrichtszeit wirkungslos verpuffen, Physiker würden es vielleicht Blindleistung nennen.

    1. In der Mathematikdidaktik ist der Begriff „Relevanzparadoxon“ etabliert, mit dem darauf verwiesen wird, dass die Mathematik immer mehr Bereiche von Gesellschaft und Wissenschaft durchdringt, dass sie aber im Alltag im weniger sichtbar ist. Wer macht sich schon klar, dass jeder Griff zum Smartphone mehr auf mathematischen Theorien basierende Algorithmen aktiviert, als jeder promovierte Mathematiker versteht. Insofern bräuchte Deutschland, wenn es denn eine Hochtechnologienation bleiben will, durchaus einen gewissen Anteil von Menschen, die Mathematik verstehen. Für diese potentielle mathematische Elite wird in der Ausbildung aktuell viel zu wenig getan.
      Die breit akzeptierte Hypothese, dass Mathematik darüber hinaus auch einen Beitrag zur Entwicklung von logischem Denken und zur Argumentationfähigkeit leistet (oder, wenn der Unterricht darauf stärker ausgerichtet wäre, leisten könnte), erhält in letzter Zeit Stützung durch die Erkenntnis, dass die großen Sprachmodell der künstlichen Intelligenz im Bereich der Mathematik und der Logik besonders schwach sind, aber viele Forschende davon ausgehen, dass man mit einer besseren Leistung in diesem Bereich auch dem Versprechen der künstlichen Intelligenz allgemein wesentlich näher käme.
      Herr Osterholz wirft die Frage der Schulpflicht auf. Das ist eine ganz andere Baustelle, aber eine nicht unwahrscheinliche Perspektive ist, dass Mathematik ohnehin dem historischen Vorbild von Latein folgen wird, das frühe, zumindest für den Teil der Jugendlichen, der ein Studium aufnehmen wollte, Pflichtfach war (und dem man auch eine besondere Leistung bei der Denkörderung zugeschrieben hat).

  2. Seit 2004 hat man in Deutschland auf Betreiben der Didaktik echte Anwendungen der Mathematik durch eine pseudorealitätsnahe Aufgabenkultur ersetzt, und in diesem Ausmaß auch nur in Deutschland. Da sollte man inzwischen merken, dass sich bei Schülern die Erkenntnis durchsetzt, die Mathematik löse Probleme aus ihrer Lebenswelt. Stattdessen: “In Befragungen zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler ebenso wie Studienanfangende, dem, was sie in Mathematik in der Schule lernen, kaum Relevanz für ihr weiteres Ausbildungs- und Berufsleben zuschreiben.” Da müsste eigentlich jeder Denkenanfangende den Schluss ziehen, dass da irgendetwas nicht stimmt. Stattdessen kommt die Didaktik mit der nächsten Sau um die Ecke, die sie jetzt durchs Dorf treiben will. Kognitive Aktivierung, Regression, KI, und was-weiß-ich.

    Dabei ist die Sache ganz einfach: Was Schüler, Eltern und Schulleitung wollen, sind gute Noten ohne Leistung. Unabhängig vom Fach.

  3. Häuptling Einauge, Anfűhrer der Didaktiker, mit doppelt gespaltener Zunge sich allseits beliebig machend, nach links schmeichelnd, nach rechts scheuchelnd. Und Prophezeiungen macht er auch noch, was will man mehr: Die Mathematik wird mit Latein das Schicksal teilen. Nur zu, nur zu, und ganz schnell, am besten sofort: In D gibt es noch zwei Professoren fűr Lateindidaktik.

  4. Andromedas Behauptung mit den zwei Professoren für Lateindidaktik verdreht die Tatsachen, weil zB Professuren für Didaktik der alten Sprachen mit Schwerpunkt Latein nicht gezählt werden. Auch der Rest ihres Beitrags ist Quatsch, der sich nur in der feigen Anonymität schreiben lässt.

  5. Ḿich verblüfft diese Feststellung des Autors:
    “Außerdem muss man der Realität ins Auge sehen, dass auch das Gymnasium heutzutage nahezu eine Gesamtschule ist, die dringend Differenzierung in Kurse unterschiedlichen Anspruchsniveaus erfordert.”
    Ich widerspreche da gar nicht, aber ich weiß doch, dass gerade das bayerische Gymnasium massiv in der Kritik steht, genau das Gegenteil zu repräsentieren: Eine “Standesschule des 19. Jahrhunderts mit einer “handverlesenen bildungsbürgerlichen Schülerschaft”, die nach dem sozial ungerechten “Grundschulabitur” es dank elterlicher Unterstützung sowie Nachhilfe dorthin geschafft hat und die dann enormem Leistungsdruck ausgesetzt ist, was insbesondere die GEW erzürnt. Auch wird gerade die Abwesenheit von Gesamtschulen in Bayern beklagt. Wenn jetzt aber schon das bayerische Gymnasium einer Gesamtschule ähnelt, wie soll das erst in NRW oder in Berlin sein, wo noch größere Anteile eines Jahrgangs die Gymnasien besuchen und wo es Gesamtschulen zusätzlich gibt?

    Der Erfolg des neuen Medienstars Daniel Jung mit seiner gleichnamigen “Media GmbH” straft eigentlich alle diejenigen Lügen, die nach PISA 2000 die “alte” Schulmathematik mit ihren sturen “Kochrezepten” abschaffen und durch eine kompetenz- und verständnisorientierte Schulmathematik ersetzen wollen, die das math. Niveau verbessert. Irgendwie scheint da ein Haken an der Sache zu sein, Herr Oldenburg wird das sicher auch wissen. Es könnte etwas mit der leidigen Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu tun haben.
    Auch der obige Artikel strahlt eine gewisse Ratlosigkeit aus, wie man aus diesen Problemen herauskommen könnte. Eine ständige Diskussion mit Veränderungsvorschlägen zum Lehramtsstudium gibt es ja nun spätestens seit 50 Jahren, eine Studien- und Prüfungsordnung jagt die nächste, und jede Reform wird flugs wieder (re-)reformiert: Einführung von Leistungskursen, Abschaffung von Leistungskursen, Wiedereinführung von Leistungskursen. “Mehr Praxis”, das gab’s ja eigentlich an den Pädagogischen Hochschulen, die später abgeschafft wurden mit dem erklärten Ziel der Verwissenschaftlichung des Lehramts gerade in theoretisch-pädagogischer (heute: bildungswiss.) Hinsicht. Nun stoßen wissenschaftlich ausgebildete Lehrer offenbar auf das Desinteresse auf Schülerseite. Dafür wird mehr “Kurzweiligkeit” im Unterricht gefordert, und da kann das Fach Mathematik nicht gut mithalten. Das Bewusstsein, welche “Relevanz” Mathematik hat, scheint zu fehlen, so sagt auch Herr Oldenburg. Seltsam nur, dass die Relevanz all der anderen schulischen Inhalte so klar und akzeptiert sein soll. Oder gibt’s das Problem in anderen Fächern auch?

    Angesichts der Misere möchte man fast den Vorschlag machen, die guten alten math.-naturwiss. Gymnasien wiederzubeleben, die dann die Minderheit der mathematisch interessierten Schüler einsammeln und konsequent weiterbilden — mit einer veränderten Stundentafel und über den Stoff in heute üblichen Lehrbüchern hinaus, notfalls zu Lasten von kurzlebigen Modethemen. “Mehr Logik des Argumentierens” finde ich auch eine gute Idee, vielleicht sogar mit Beweisen? Sogar die Schulbuchautoren könnten sich davon eine Scheibe abschneiden. Als Werbeslogan könnte ich mir vorstellen: “Kommt zu uns, denn Mathematik und Naturwissenschaften sind zeitlos. Unsere Abiturienten sind studierfähig auch in den Fächern mit einer beruflichen Perspektive, insbesondere den MINT-Fächern.” In Berlin gibt es ganz offiziell fünf solche Gymnasien mit “Profilklassen” ab Klasse 5 (dort nicht selbstverständlich) und mit Aufnahmeprüfungen. Nur Mut! Vielleicht spricht es sich noch herum, dass eine allzu bequemlichkeitsorientierte Schulzeit schädlich für das Leben danach ist.

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