Liebe Mitstreiter, liebe Mitstreiterinnen,
das heutige Wort zum Sonntag soll bei allen die Vorfreude auf die neuesten PISA-Ergebnisse erhöhen, die ja meist so um den Nikolaustag herum verkündet werden. Kultusminister und höhere Schulbürokraten zittern in dieser Zeit immer vor Sorge, die Zahlen in den Statistiken könnten sich verschlechtert haben, besonders natürlich die zu den sozialen und zuwanderungsbedingten Disparitäten. Ob die Abiturienten genug Mathematik können, um das Studium eines MINT-Faches zu bewältigen, das lässt die Kultusminister natürlich kalt, denn das ist angeblich Sache der Hochschulen und damit eine Angelegenheit für die Wissenschaftsminister geworden.
Aber PISA-Ergebnisse sind das neue Goldene Kalb. Und so orakelt Herr Schleicher als “Mr. PISA” schon mal 4 Wochen vor dem großen Ereignis medienwirksam, worin die Schwachpunkte liegen könnten:
(https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/bildung-schule-terrax-andreas-schleicher-kolumne-100.html oder auf Condorcet: https://condorcet.ch/2023/11/wie-moderne-und-gerechte-schule-fuer-alle-geht/)
Offenbar will er uns so nebenbei auf schlechtere PISA-Ergebnisse vorbereiten, Lob gibt es grundsätzlich nur für andere Länder. Was beklagt er am meisten? Die Schule in Deutschland sei nicht “modern und gerecht” genug. Aber testet PISA denn überhaupt, ob Schulen “modern und gerecht” sind? Wie soll das gehen? Soweit wir alle wissen, werden immer dieselben drei Disziplinen getestet, darunter die Lesekompetenz als wichtigste. Darunter versteht man, dass Schüler nach dem Lesen eines längeren Textes diverse Fragen beantworten können, deren Antworten direkt oder indirekt im Text stehen. Und daran scheitern viele, auch weil ihre Deutschkenntnisse für gewisse Feinheiten der Formulierung nicht reichen. Aber warum?
Schleicher erweckt gleich am Anfang den Eindruck, dass ein Mangel an “Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt” damit zusammenhängen könnte. Und dieser Mangel sei klar auf mangelnde Bildung zurückzuführen.
Und dann verkündet der große Guru der Bildung und Amateurphilosoph drei Sätze, die an den Brandstifter als Feuerwehrmann erinnern, falls sie nicht karnevalistisch gemeint sind (am heutigen 11.11. beginnt wieder die närrische Zeit):
- Die meisten Schülerinnen und Schüler [gemeint sind die in Deutschland, W.K.] sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden.
- Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen.
- In vielen anderen Ländern werden gleichzeitig alte, verkrustete Lernsysteme radikal verändert.
Wer propagiert denn Lehrer als Lernbegleiter sowie eine seelenlose Lernsoftware mit ihren vorgefertigten Lerninhalten als die moderne Schule der Zukunft? Vielleicht die OECD in Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung?
Wie bitte ??
Mr. PISA beklagt die verlorene Bildungsidee? Wer war es denn, der die Bildungsidee durch standardisierte Vorgaben ersetzen wollte, die weltweit mit einheitlichen PISA-Punkten vermessen werden, alles im Interesse der Ökonomie? Woher kam denn die “Bildungsökonomie” eines Prof. Wößmann, der schon PISA-Punkte in volkswirtschaftliche Euro-Milliarden umgerechnet hat, ohne das “Herz der Bildungsidee” auch nur zu erwähnen?
Wer propagiert denn Lehrer als Lernbegleiter sowie eine seelenlose Lernsoftware mit ihren vorgefertigten Lerninhalten als die moderne Schule der Zukunft? Vielleicht die OECD in Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung?
Natürlich hat nicht ein einzelner das alles bewirkt, so weit reicht auch Schleichers Arm nicht. Aber es ist doch nicht zu übersehen, dass — vorwiegend aus ökonomischen Interessen — eine neu entstandene und immer weiter ausgebaute empirische Bildungswissenschaft weltweit, besonders aber in Deutschland, der alten (verkrusteten) Bildungsidee den Garaus gemacht hat, gerade durch eine Quantifizierung von Bildung mit standardisierten Tests.
PISA-Punkte beherrschen die Szene, und Humboldt dreht sich im Grabe um. Und um das zu erreichen, brauchte es natürlich eine straffe Organisation von oben nach unten. Die Schulministerien wurden ergänzt durch wachsende Landesinstitute für Schulentwicklung (inzwischen gibt es mehr Landesinstitute als Bundesländer mit zusammen Tausenden von Mitarbeitern), es entstanden ganze Hochschul-Fachbereiche für Bildungswissenschaft mit angegliederten weiteren Instituten wie IQB, IPN, ZIB, Hector-Institut, Mercator-Institut usw., nicht zu vergessen den massiven Ausbau des schon lange existierenden DIPF. Alles wurde mit vergleichsweise hohen Summen aus dem BMBF und anderen (Drittmittel-)Quellen finanziert, schließlich wurde als Höhepunkt die Ständige Wissenschaftliche Kommission SWK beider bekanntlich ineffizienten Kultusministerkonferenz etabliert, alles mit dem Ziel einer Vereinheitlichung der zerklüfteten Schullandschaft im Föderalismus.
Dann braucht es natürlich auch einheitliche Bildungsziele und Vorgaben mit einer einheitlichen Überwachung derselben, eben damit nicht jede Schule nach Gutdünken vorgehen darf.
Jede Selbständigkeit der Leute an der Basis musste in ein Korsett von Vorschriften gepresst werden, mehr als je zuvor in der Geschichte. Über den Hebel der Lehrerfortbildung werden die Lehrer von oben herab instruiert, wie sie bitte zu funktionieren haben. Es wimmelt nur so von unternehmensnahen Stiftungen, die sich in dieser Richtung betätigen, mit ausdrücklicher Billigung durch staatliche Institutionen. Hier steht, wie das beim Fach Mathematik abläuft:
Nicht zufällig ist auch die Bertelsmann-Stiftung mit dabei, wenn es um die Weiterbildung zur digitalen Transformation geht:
https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/fortbildungen-fuer-lehrpersonen-wirksam-gestalten
Und genau das, nämlich die Bürokratisierung des Systems “Schule”, wird jetzt von Schleicher beklagt und als Ursache der Misere hingestellt.
Böse Zungen haben diese staatlich unterstützte Lehrerfortbildung sogar schon mit einer Gehirnwäsche verglichen. Widerspruch der Fortzubildenden aus ihrer praktischen Erfahrung heraus ist nicht vorgesehen, so wie die Gläubigen nicht ihrem Priester widersprechen dürfen.
All das geht natürlich nur durch den Aufbau von Bürokratie, das ist besonders in Deutschland eine Tradition seit den Zeiten von Bismarck und Kaiser Wilhelm. Jeder in Deutschland weiß das, auch Schleicher weiß es.
Und genau das, nämlich die Bürokratisierung des Systems “Schule”, wird jetzt von Schleicher beklagt und als Ursache der Misere hingestellt. Der Höhepunkt seines Zynismus ist der Satz “An deutschen Schulen herrscht immer noch ein falsch verstandener Konformismus”.
Na woher kommt denn wohl dieser Konformismus, Herr Schleicher? Könnte der etwas mit dem Monitoring durch PISA und andere Tests zu tun haben? Oder etwas mit der vorgeschriebenen Schulevaluation, in der alles bemängelt wird, was nicht konform mit einer herrschenden Doktrin zur Schulentwicklung ist?
Der Vorschlag, Schulen mehr Freiheiten zu geben, scheitert doch schon daran, dass gleichzeitig von außen immer mehr Forderungen gestellt werden, was die Schulen bitte alles für Wunderdinge leisten sollen, z.B. die Inklusion und kompensatorische Maßnahmen in den sog. Brennpunkten, mehr sozialpädagogische Betreuung, mehr von allem und jedem.
Zu den Privatschulen steht dort der erstaunliche Satz “manche sind nicht börsennotiert” (!!), also die meisten offenbar schon. Das also ist die vorbildliche und zukunftsorientierte skandinavische Schule?
Auch Schleicher schließt sich dem an und lobt die individuelle (also ungleiche) Bezahlung der Lehrer in Schweden, wenn sie solche Wunderdinge leisten, und das offenbar (?) ohne Konformismus. Herr Schleicher: In Deutschland gibt es 700.000 Lehrer, wer soll da bitte über leistungsgerechte Gehaltszulagen entscheiden, erst recht solche für nonkonformistische Lehrer? Der Schulleiter oder Schulrat “nach Gutsherrnart” oder vielleicht eine neue Behörde mit 300 Mitarbeitern, beraten von einem neuen wissenschaftlichen Institut, das eigens zu diesem Zweck gegründet wird? Beides würde sofort die Gewerkschaften auf den Plan rufen, die gerade für “A13 für alle” plädieren.
Typisch für die hinterhältige Art dieser “rosinenpickenden” Argumentation: Es wird verschwiegen, dass es gerade in Schweden eine freie Schulwahl gibt und viele Privatschulen, die gleichwohl vom Staat bezahlt werden:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/schweden-privatschulen-kritik-wahlkampf-100.html
Zu den Privatschulen steht dort der erstaunliche Satz “manche sind nicht börsennotiert” (!!), also die meisten offenbar schon. Das also ist die vorbildliche und zukunftsorientierte skandinavische Schule?
Ob Herrn Schleicher vielleicht leistungsgerechte Dividenden und eine generelle Orientierung am “shareholder value” vorschweben? Schulleitungen als bonuszahlungsberechtigte Manager?
Zur OECD würde es jedenfalls passen: Bildung als Ware, als Investition, als Renditeobjekt und nebenbei auch zur Erfüllung von Kundenwünschen, wobei auch Konzerne als “Kunden” vorstellbar sind. Die NZZ sprach am 9.1.2022 schon mal von einem “Treiber gesellschaftlicher Segregation”: https://www.nzz.ch/international/in-schwedens-schulen-steigt-die-segregation-ld.1655421 Diese Segregation wird immer dem deutschen Schulsystem (gerade auch von Schleicher) vorgeworfen, und dann gilt sie als schlecht, aber den Schweden-Nimbus schmälert das offenbar nicht.
“Soziale Beteiligung ist das große Thema unserer Zeit”, so orakelt Schleicher, und “was man dafür braucht, ist wirkliches ‘Leadership'”. Also mehr “Leadership” und gleichzeitig für die einzelnen Schulen mehr Freiheiten, das zu tun, was sie für richtig halten? Aber immer im Sinne der “Leader” und “Oberleader”, niemals gegen sie? Die “Leader” für die “soziale Beteiligung” kommen dann wohl von den unternehmensnahen Stiftungen wie in der Einleitung vom OECD Lernkompass 2030:
https://www.oecd.org/education/2030-project/contact/OECD_Lernkompass_2030.pdf
Und dann freie Schulwahl für die Eltern mit börsennotierten Privatschulen nach schwedischem Vorbild? Gutbetuchte Eltern als Aktionäre ihrer Privatschule, nicht nur als fördernde Mitglieder des Freundeskreises dieser Schule? Das klingt so richtig nach sozialer Gerechtigkeit !
Ich stelle mir als Utopie vor, Herr Schleicher würde zum länderübergreifenden Schulminister ernannt mit Herrn Precht als Staatssekretär. Dann könnten die beiden “Leadership” beweisen.
Ich stelle mir als Utopie vor, Herr Schleicher würde zum länderübergreifenden Schulminister ernannt mit Herrn Precht als Staatssekretär. Dann könnten die beiden “Leadership” beweisen und — zwecks Bürokratieabbau und weniger Konformismus — erstmal die vielen Landesinstitute und die Schulverwaltungen drastisch verkleinern. Die dortigen Mitarbeiter müsste man nicht entlassen, sie könnten ja mit ihrer Expertise in den Schulen Lehrkräfte werden — auch als Quereinsteiger.
Die Mitarbeiter beim IT-Support fänden dort auch eine Beschäftigung. Dann könnten die Schulleiter den erzwungenen Konformismus ablegen, und die Lehrerkollegien könnten — befreit von der Last der übergeordneten Bürokratie — aufatmen und selber befinden, was sinnvoll ist und was nicht.
In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel
Wieso Satire? Kollege Kühnel beschreibt die Realität. Und mit Bertelsmann ist nur die Spitze des Eisbergs beschrieben – wie es unter der Wasserlinie weitergeht erfahren Sie womöglich hier:
https://www.youtube.com/watch?v=iUw0jUnspc4