Die siebenjährige Lea steht mehr als sie sitzt, schnappt sich den dargebotenen Stift und kritzelt ein paar Worte auf die Grußkarte. Die Buchstaben sind krakelig, das große D sieht eher aus wie ein O, das kleine h wie ein n.
„Reicht das jetzt“, fragt sie genervt und wirft den Stift zur Seite. Schreiben ist Schwerstarbeit für die Zweitklässlerin, die coronabedingt zu viel Unterrichtsausfall im ersten Schuljahr hatte und jetzt deutlich hinter dem zurückbleibt, was eigentlich im Lehrplan steht.
Lea ist weit davon entfernt, mit einem Füller zu schreiben. Sie malt jeden einzelnen Buchstaben ab, muss überlegen, wie nochmal das k geschrieben wird. Das Ergebnis ist weder besonders leserlich noch flüssig – und erfüllt damit die einzigen Kriterien an eine ordentliche Handschrift nicht.
Mehr als sieben von zehn Lehrkräften berichten von Problemen bei der Schreibstruktur, Leserlichkeit und dem Schreibtempo.
Wie Lea geht es vielen Grundschülern in Deutschland, und bei Weitem nicht nur den Schreibanfängern. Vor allem Kinder, die bereits vor Ausbruch der Pandemie Probleme beim Schreiben hatten, sind durch Wechsel- und Distanzunterricht noch weiter zurückgefallen.
Zu diesem Ergebnis kam eine Studie des Schreibmotorik-Instituts in Kooperation mit dem Verband Bildung und Erziehung (VBE). Demnach berichten mehr als sieben von zehn Lehrkräften von Problemen bei der Schreibstruktur, Leserlichkeit und dem Schreibtempo. „Das Ergebnis ist alarmierend“, sagt der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann.
Schreiben lernen – und zwar mit der Hand – ist noch immer eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Kinder in der Schule erwerben. Zwar halten digitale Hilfsmittel wie Tablets immer mehr Einkehr in den Schulalltag, dennoch gehört Schreiben mit der Hand zu den Grundfertigkeiten.
„Handschreiben hat positive Effekte auf die Gehirnfunktion“
Aus gutem Grund: „Handschreiben hat positive Effekte auf die Gehirnfunktion“, sagt Beckmann. Die motorische Bewegung löst im Gehirn einen Reiz aus, Synapsen entwickeln und verschalten sich. Handgeschriebene Informationen werden anders durchdacht und bleiben besser im Gedächtnis.
Udo Beckmann bringt das mit einem Beispiel auf den Punkt: „Wenn ich mir meine Einkaufsliste ins Handy tippe, dann muss ich im Laden ständig aufs Display schauen, weil ich die Hälfte nicht im Kopf habe. Schreibe ich die Liste aber mit der Hand, brauche ich keinen Einkaufszettel, weil die Informationen so gut im Gehirn abgespeichert sind.“
Schülerinnen und Schüler sollen am Ende der Grundschulzeit in kurzen Sätzen flüssig und in einer leserlichen Handschrift schreiben können.
Beckmann will digitale Medien nicht verteufeln, aber er warnt davor, sich zu abhängig davonzumachen. Bloßes Tippen ersetze das Schreiben nicht.
Dem stimmt auch Linda Kindler zu. Die Grundschullehrerin aus Köln ist Sprecherin der Projektgruppe Grundschrift des Grundschulverbands. „Auch digitales Schreiben ist wichtig und wurde auch in die Bildungsstandards aufgenommen. Aber an erster Stelle steht immer das Schreiben mit der Hand.“
Wie genau diese Handschrift aussehen soll, ist ebenfalls in den Bildungsstandards für das Fach Deutsch, die seit 2004 in ganz Deutschland gelten und im Juni 2022 aktualisiert wurden, geregelt: Schülerinnen und Schüler sollen am Ende der Grundschulzeit in kurzen Sätzen flüssig und in einer leserlichen Handschrift schreiben können.
Wie genau diese aussieht, ist allerdings nicht festgelegt. Die meisten Schüler lernen zunächst eine Druck- und danach eine Schreibschrift. Welche sie lernen, hängt allerdings vom Bundesland und der Schule ab. In einigen Bundesländern lernen die Kinder noch immer die klassische lateinische Ausgangsschrift, in anderen die vereinfachte Ausgangsschrift, bei der einige Buchstaben eher wie Druckbuchstaben aussehen.
Umstellung von Druck zur Schreibschrift ist schwierig
So ähnlich verhält es sich auch bei der Schulausgangsschrift, die in der früheren DDR beigebracht wurde. Zuletzt ist die Grundschrift entstanden, eine Art Druckschrift mit Wendebögen zwischen den Buchstaben.
Mit der Umstellung von Druck- zu Schreibschrift tun sich viele Schüler allerdings schwer. Dabei sind die Voraussetzungen heute weit weniger streng als früher. „Das Ziel ist keine Schönschrift, sondern sollte sein, dass die Kinder zügig bei entspannter Hand schreiben und das dann von jedem gelesen werden kann“, erläutert Linda Kindler.
Sie ist eine Verfechterin der Grundschrift, weil diese das flüssige Schreiben von Beginn an ermögliche und die Kinder beim Schreibenlernen nicht ausbremse.
Das ist wichtig, weil heute viel weniger Zeit darauf verwendet wird, Kindern eine Schrift beizubringen. Früher war die Schönschrift das Ziel der Schreiberziehung. Dafür ist mittlerweile aber keine Zeit mehr – und es ist auch nicht nötig.
„Man braucht Schönschrift nicht, um später schönzuschreiben. Das wurde wissenschaftlich widerlegt“, sagt Christian Marquardt vom Schreibmotorik-Netzwerk in München.
Wichtiger als verlangsamte Schönschrift sei es, flüssige Schreibbewegungen zu lernen und eine eigene Handschrift zu entwickeln. Kaum ein Erwachsener schreibe heute schließlich noch in der gelernten Schulschrift.
Keinen Druck auf die Kinder ausüben
Das sollten sich auch Eltern bewusst machen, die ihre Kinder beim Schreibenlernen unterstützen wollen: „Man sollte bei Problemen auf keinen Fall Druck ausüben und etwas forcieren. Wenn die Motivation erst weg ist, wird es schwierig“, warnt Schreibexperte Marquardt.
Beim Schreiben werden mehr als 30 Muskeln und 17 Gelenke beansprucht.
Sobald die Kinder sicher in den Grundformen der Buchstaben sind, sollte man mit ihnen das flüssige Schreiben der Buchstaben üben und damit die Motorik trainieren. Beim Schreiben werden mehr als 30 Muskeln und 17 Gelenke beansprucht – kein Wunder, wenn Kinderhände beim oftmaligen Wiederholen ermüden.
Marquardt rät stattdessen, lieber in kurzen und spielerischen Übungseinheiten zu trainieren und zwischen den beiden Zielen Lesbarkeit und Flüssigkeit zu unterscheiden. „Auch Strategie ist wichtig. Wenn man beispielsweise zu schnell schreiben will, also schneller, als die Motorik es zulässt, kann sich keine Form bilden“, sagt er. Man müsse immer eine Balance finden zwischen Form und Geschwindigkeit.
Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung rät zudem, darauf zu achten, wie Kinder schreiben. Ein wichtiges Anzeichen für Probleme ist es, wenn die Kinder verkrampft sind, den Stift fest umklammern.
„Man kann Kinder wunderbar unterstützen bei der Technik wie dem Sitz und der Stifthaltung“, so Beckmann. „Es ist aber auch wichtig, als Eltern ein gutes Vorbild zu sein, also selbst nicht nur ins Handy, sondern auf Papier zu schreiben.“ Eltern sollten auf keinen Fall zu viel Druck aufbauen, sondern niedrigschwellige Anreize für die Kinder schaffen, zum Beispiel beim gemeinsamen Schreiben von Einkaufszetteln oder Postkarten.
Die feinmotorischen Fähigkeiten können aber bereits vor dem Schuleintritt gefördert werden, indem Eltern viel mit ihren Kindern malen, kneten oder basteln, schlägt Linda Kindler vor. „Probieren Sie verschiedene Stifte mit Ihren Kindern aus und lassen sie diese mit großen Bewegungen schreiben lernen.“
Weg mit den Hilfslinien beim Schreibenlernen!
Hilfslinien in Schreibheften hält sie – zumindest am Anfang – für hinderlich. „Man beginnt immer auf dem weißen Blatt Papier mit viel Platz.“ Erst wenn es darum gehe, Proportionen zu erklären, beispielsweise zwischen kleinen und großen Buchstaben, könnten diese eine Orientierung sein.
Einen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen gibt es den Experten zufolge dabei nicht. „Jeder kann feinmotorische Fähigkeiten lernen“, betont Christian Marquardt vom Schreibmotorik-Netzwerk. Anders sei es hingegen bei der Motivation: Während für Jungs das Schreibenlernen oft eine lästige Arbeit im schulischen Alltag sei, identifizierten sich Mädchen eher mehr damit.
„Für viele Mädchen scheint Schreiben ein Ausdruck ihres Selbst zu sein, sie machen Kringel an ihre Buchstaben, probieren bauchige Formen aus und versuchen eher, ihre Schrift zu ihrem eigenen Ding zu machen.“
In den Grundfertigkeiten wurden in Untersuchungen allerdings keine Differenzen zwischen den Geschlechtern festgestellt. „Das muss man unterscheiden: Handschrift kann zwar ein Ausdruck der Persönlichkeit sein, vor allem aber ist sie eine Fertigkeit, die man eben lernen muss“, sagt Marquardt. „Eine schlechte Handschrift sagt nichts über die Person aus, man muss sich dafür nicht schämen.“
“Das wurde wissenschaftlich widerlegt“. Was für ein Witz.