7. November 2024

Eine Chance für das selbstorganisierte Lernen

Professor Walter Herzog ist ein scharfer Kritiker von Harmos und Lehrplan 21. Gegenüber dem “Selbstorganisierten Lernen” hat er aber eine positive Haltung. Die Kritik an SOL beruhe auf einem Missverständnis.

Corona-Krise mit schwer absehbaren Folgen.

Krisen sind Zeiten der Entscheidung. Sie zwingen nicht nur kurzfristig zu entschlossenem Handeln, sondern haben auch langfristig Auswirkungen, die sich aus der Einsicht ergeben, dass man nicht hinreichend auf die Krise vorbereitet war. Was die Krise anbelangt, in die uns das Corona-Virus gestürzt hat, ist noch schwer absehbar, welche langfristigen Veränderungen sie zur Folge haben wird. Bezüglich des Schulsystems lassen sich allerdings bereits erste Vermutungen anstellen, wie die Weichen gestellt werden könnten. Dabei ist weniger an die Digitalisierung und den digitalisierten Unterricht zu denken als an eine wesentliche Voraussetzung des digitalisierten Unterrichts, nämlich die Fähigkeit und Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, ihr Lernen selber zu organisieren. Unzählige Schülerinnen und Schüler, die zurzeit zuhause lernen müssen, wären vermutlich froh, wenn sie beim Management ihres Lernalltags über mehr Kompetenzen verfügen würden.

Unzählige Schülerinnen und Schüler, die zurzeit zuhause lernen müssen, wären vermutlich froh, wenn sie beim Management ihres Lernalltags über mehr Kompetenzen verfügen würden.

Das Corona-Virus bringt ein schulpädagogisches Konzept zurück aufs Tapet, das in den vergangenen Jahren heftigen Kontroversen ausgesetzt war: das selbstorganisierte Lernen. So wurde der Lehrplan 21 mit dem Argument bekämpft, die Lehrpersonen würden sich aus der Verantwortung stehlen und die Schülerinnen und Schüler ihrem Schicksal überlassen. Gegen die Reduktion der Instruktionsfunktion auf eine blosse Coachingfunktion wurde vorgebracht, dass Lehrpersonen den Schulstoff verständlich aufzubereiten, methodisch reflektiert zu vermitteln und das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler eng zu begleiten hätten. Dabei offenbarten sich aber auch Missverständnisse, die auszuräumen nun die Gelegenheit gekommen ist.

Vom Lernziel zur Unterrichtsmethode

Lehrplan 21, Gesamtausgabe: SOL sollte von der Kritik ausgenommen bleiben.

Wie immer man zum Lehrplan 21 stehen mag, bezüglich des selbstorganisierten Lernens muss man ihn in Schutz nehmen. An keiner Stelle heisst es, die Schülerinnen und Schüler sollen beim Lernen allein gelassen werden. Das zeigt sich schon daran, dass das selbstorganisierte Lernen nicht als Unterrichtsmethode, sondern als Lernziel eingeführt wird. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, «ihr Lernen zunehmend selbstständig zu bewältigen [und] an der eigenen Lernfähigkeit zu arbeiten». Sie sollen in der Fähigkeit gefördert werden, «ihr Lernen selbstständig zu gestalten und dafür zunehmend Verantwortung zu über­neh­men». Und sie sollen angeleitet werden, «über ihr Lernen und ihr Arbeiten nachzudenken und dieses zunehmend selbstständig und mit mehr Selbstverantwortung zu steuern».

Schüler sollen in der Fähigkeit gefördert werden, ihr Lernen selbstständig zu gestalten und dafür zunehmend Verantwortung zu über­neh­men.

Die Polemik um das selbstorganisierte Lernen verdankt sich vermutlich zu einem grossen Teil dem Begriff selber, der Fehlinterpretationen geradezu nahelegt. Sein Lernen selber zu organisieren, käme dem Anspruch vollständiger Selbstbestimmung gleich. Solange das Lernen jedoch in einem institutionellen Kontext wie der Schule stattfindet, ist ein selbstorganisiertes Lernen im umfassenden Sinn weder möglich noch sinnvoll. Bereits der Lehrplan schränkt die Selbstbestimmung des Lernens massiv ein.

Worum es eigentlich geht

Andere Begriffe würden daher besser zum Ausdruck bringen, worum es geht, wie insbesondere der Begriff des selbstregulierten Lernens. Denn genau dies ist der Anspruch: sein Lernen selber zu regulieren. Wer sein Lernen selber regulieren kann, verfügt über eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, die Bedingungen des Lernens zu beeinflussen. Er vermag sich für das Lernen zu motivieren und verfügt über ein Repertoire an Lernstrategien, die sich flexibel einsetzen lassen. Er ist in der Lage, die ihm verfügbare Lernzeit optimal zu nutzen. Er kann sein Lernverhalten den Bedingungen und Anforderungen des Lerngegenstandes und der Lernsituation anpassen. Er ist fähig, nicht nur seinen Lernprozess zu beobachten, zu beurteilen und zu kontrollieren, sondern auch den Lernort festzulegen und die Lernumgebung zu arrangieren. Schliesslich gehört zur Selbstregulation des Lernens auch die Fähigkeit, sich bei Schwierigkeiten Hilfe zu holen, zum Beispiel im Rahmen einer Lernpartnerschaft, durch die Inanspruchnahme von Beratung oder die Nutzung eines Tutorials auf Youtube.

In keinem Fall kann einfach vorausgesetzt werden, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, die Umstände ihres Lernens eigenständig und eigenverantwortlich zu regeln.

Diese Aufzählung von Eigenleistungen macht deutlich, wie anspruchsvoll selbstorganisiertes Lernen ist. In keinem Fall kann einfach vorausgesetzt werden, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, die Umstände ihres Lernens eigenständig und eigenverantwortlich zu regeln. Genau deshalb ist das selbstorganisierte Lernen nicht in erster Linie eine Unterrichtsmethode, sondern ein Lernziel, das als solches zuerst gelehrt werden muss, bevor es als Methode eingesetzt werden kann.

Verbesserung des Unterrichts

Prüfungsbezogenes Lernen

Es wäre aber falsch anzunehmen, die Fähigkeit zur Selbstorganisation des Lernens erweise ihre Dringlichkeit nur in der ausserordentlichen Situation des Fernunterrichts. Kenntnisse über wirksame Lernstrategien sind auch unter regulären Unterrichtsbedingungen von grösster Bedeutung. Ein wahres Übel unseres Schulsystems liegt darin, dass es ein Lernverhalten fördert, das sich am Rhythmus der notenrelevanten Prüfungen orientiert. Da alles auf die Prüfungsleistung anzukommen scheint, wird das Lernen auf die Zeit unmittelbar vor der Prüfung konzentriert. Nach der Prüfung wird dann schnell wieder vergessen, was man sich eingepaukt hat. Gefördert wird ein Bulimie-Lernen, dessen Ineffektivität im Vergleich mit einem zeitlich verteilten Lernen psychologisch längst nachgewiesen ist, von der Schulpraxis aber weiterhin nicht zur Kenntnis genommen wird.

Hier ist auch der Punkt, wo die Kritik am Lehrplan 21 berechtigt ist. Dieser folgt didaktisch einer linearen Aufbaulogik, wonach der Stoff eines Faches wie beim Einräumen einer Bibliothek Stück um Stück in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler eingelagert wird. Genau so kommt aber kein nachhaltiges Lernen zustande. Denn was auf eine einzelne Lernphase zutrifft, gilt auch für ein ganzes Curriculum: Stoff, der nicht repetiert und in neuen Kontexten reaktiviert und vertieft wird, geht schnell vergessen.

Richtig verstanden, könnte das selbstorganisierte Lernen nicht nur positive Auswirkungen auf die Qualität des Lernverhaltens der Schülerinnen und Schüler haben, sondern auch zu einer Verbesserung der Lernwirksamkeit des Unterrichts führen.

Es ginge also nicht nur darum, den Schülerinnen und Schülern beizubringen, ihr Lernverhalten zu ändern, auch der Unterricht wäre wirksamer, wenn er nicht einer linearen, sondern einer zyklischen Logik folgen würde. Richtig verstanden, könnte das selbstorganisierte Lernen nicht nur positive Auswirkungen auf die Qualität des Lernverhaltens der Schülerinnen und Schüler haben, sondern auch zu einer Verbesserung der Lernwirksamkeit des Unterrichts führen. Auch wenn der Anlass zu dieser Einsicht schmerzlich ist, er böte die Chance für eine innere Reform unserer Schulen, die so schnell nicht wiederkommen dürfte.

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Ein Kommentar

  1. Ich schätze die Meinung von Professor Herzog sehr, kann dieser jedoch nicht zustimmen.

    Von Anfang an, schon bei der Planung von HarmoS und der Definition des Lernplans

    ‘hinter verschlossenen Türen’ (NZZ)

    gab es ein Ziel im Leerplan 21, das Ziel war und ist

    “Individuelles und effektives Lernen.”

    Individuell = jeder für sich alleine/autodidaktisch.

    Effektiv = alles wird ANGEWANDT, erzeugt einen Effekt.

    Es ist also kein Lehrplan, sondern ein Lernplan.

    Der Lehrer soll/darf nicht lehren, der Schüler soll/muss lernen.

    Passend dazu traf ich kürzlich den Schulleiter meiner Kinder, ich fragte ihn betreffend Anmeldung für das Lernstudio im Ort, wer denn da unterrichten würde.

    Er teilte mir sodann mit, ich müsse mir keine Sorgen machen, es fände kein Unterricht statt, das Ganze erfolge nur im Sinne eines LernCoachs…

    Da fragte ich mich aber, was das soll.

    Haben wir damals bei HarmoS darüber abgestimmt, dass in der Schweiz amerikanische LernCoaches unsere Kinder überwachen sollen, oder kommt das Wort ‘Coach’ von Uri, Schwyz und Unterwalden ?

    Andere Episode: Älteres Ehe-Paar an der Bushaltestelle, ich fragte den Mann, ob er sich erinnere an die damalige HarmoS-Abstimmung, ob er dafür oder dagegen gewesen sei.

    Er erzählte mir dann, die Idee von HarmoS sei genial gewesen, in allen Kantonen ein IDENTISCHES Schulsystem, er habe damals Ja gestimmt…

    Mehr ist dazu nicht beizufügen, ausser vielleicht noch, das sogenannte ‘dumme Volk’ wurde total hereingelegt, nicht mal der Beginn des Fremdsprachen-Unterrichts ist in allen Kantonen gleich.

    Fortsetzung folgt.

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