Eine Synopse
In der Frage, inwieweit auch verhaltensauffällige, lern- und geistig behinderte Kinder die Regelschule besuchen sollen, scheiden sich – nach wie vor – die Geister. Im Folgenden will ich, der ich eindeutig zu den Kritikern der Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen gehöre, keine Stellungnahme mehr abgeben. Ich habe dies bereits zur Genüge getan und auf eine Menge von Gründen hingewiesen, die diese zumeist unreflektierte Integration ad absurdum führen. Im Folgenden will ich auf mehrere Veröffentlichungen hinweisen, die m. E. in der (Deutsch-)Schweiz auf zu wenig Beachtung gestossen sind. Beginnen werde ich mit einer Veröffentlichung, die sich aus philosophischer Sicht mit der Inklusion auseinandersetzt. Die nachfolgenden Beiträge beziehen sich dann immer auf die sogenannte Inklusion von behinderten Kindern und Jugendlichen. Dabei ist mein erkenntnisleitendes Interesse immer auf die Personengruppe der Kinder und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung gerichtet. Zusätzlich zu der Problematik ihrer Integration bzw. Inklusion in die Regelschule ergibt sich hierbei ausserdem noch das Problem der advokatorischen Ethik (Brumlik). Dies im Gegensatz zu sinnes- und körperbehinderten Menschen. Auf diese Problemstellung wird hier nicht eingegangen. Einige wenige persönliche Anmerkungen, die ich jeweils auch als solche vermerkt habe, seien mir gestattet.
- Hauke Behrendt: Teilhabegerechtigkeit und das Ideal einer inklusiven Gesellschaft
In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Band 5, Heft 1, 2018, S. 43 – 7
Behrendt stellt eingangs in seinem Artikel fest, dass heute im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff der Inklusion einen Gemeinplatz darstellt, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt. Behrendt: «Wer umgekehrt von Exklusion spricht, benennt damit in der Regel scheinbar ebenso selbstverständlich einen sozialen Missstand, der behoben werden sollte.» (S. 45) So werde die Heilpädagogische Sonderschule als eine exkludierende Institution dargestellt, die eben aufgehoben werden müsse. Behrendt fragt kritisch, ob es denn denkbar wäre, dass es auch Fälle von schlechter Inklusion gebe. Oder ist Inklusion ein Selbstwert an sich, d. h. an sich gut, immer und überall? Das sieht er keineswegs so. Er weist in seinem Artikel nach, dass 1. Inklusion keinen Eigenwert hat, sondern immer normativ von den ihr zugrundeliegenden Praktiken, auf die sie sich bezieht, abhängig ist und zum 2., dass Exklusion sehr wohl auch moralisch zulässig sein kann und deshalb keine Forderungen der Teilhabegerechtigkeit verletzt werden, «wenn damit die Situation jedes Betroffenen dauerhaft verbessert wird» (S. 46). Behrendt geht davon aus, dass, wenn jemand inkludiert wird, dieser jemand es anschliessend eben auch ist. Aber, so mein Einwand, auch wenn ein geistig behindertes Kind in der Regelschule platziert ist, wird es nie inkludiert sein, weil seine geistige Behinderung damit nicht aufgehoben werden kann. Dies scheint mir ein grosses Missverständnis auf Seiten der Inklusions-Befürworter zu sein. Behrendt: «Inkludiert zu sein, heisst somit, innerhalb eines verstetigten Praxiszusammenhangs Zugang zu den vorhandenen Rollen zu besitzen, die bei Einnahme der entsprechenden Positionen von allen Beteiligten (inklusive des Trägers selbst) in ihren aufeinander bezogenen Aktivitäten wechselseitig anerkannt werden (müssen)» (S. 50f.). Geht man nun davon aus, dass eine Heilpädagogische Sonderschule in der Gesellschaft genauso inkludiert ist wie eine Regelschule, so bedeutet das keineswegs, dass der moralische Wert der Schüler und Schülerinnen, die eben diese HPS besuchen, in irgendeiner Weise geringer ist als derjenigen der Regelschulabsolventen. Behrendt meint hierzu, dass aus der moralischen Forderung, alle Personen als Gleiche zu behandeln, nicht abgeleitet werden könne, dass sie auch gleich behandelt werden. Kinder und Jugendliche haben den Anspruch, auf die gleiche Weise mit Achtung und Rücksicht behandelt zu werden wie jeder andere auch. Exklusion dürfe nicht per se mit diskriminierender Ausgrenzung gleichgesetzt werden, wie dies die Inklusionsbefürworter immer wieder (gebetsmühlenartig) vorbringen. Behrendt: «Gerade weil man allen Menschen mit dem gleichen Respekt begegnen muss, kann es in Hinblick auf ihre individuellen Besonderheiten geboten sein, im Ergebnis nicht alle strikt gleich zu behandeln.» (S. 59) Behrendt schliesst mit dem Fazit, dass es nicht die eine Forderung nach Teilhabegerechtigkeit gebe, «sondern insgesamt so viele, wie es soziale Praktiken gibt, die zur Verfolgung vernünftiger Lebenspläne beitragen.» (S. 67) Schlussendlich ist von meiner Seite her zu fragen: Wem nützt die heutige Inklusions-Diskussion in der Sonderpädagogik letztendlich? Denjenigen, die sie vehement fordern, oder denjenigen, die sie letztendlich ausbaden müssen, nämlich den Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung sowie deren Eltern?
- Otto Speck: Inklusive Missverständnisse
In: Süddeutsche Zeitung vom 26.1.2015
«Das Gesetz zur schulischen Inklusion behinderter Kinder basiert auf Übersetzungs- und Denkfehlern. Wenn Förderschulen abgeschafft werden, überfordert das Kinder und Lehrer. Und es spart kein Geld.»
Der auch in der Deutschschweiz bekannte, mittlerweile emeritierte Professor für Sonderpädagogik aus München zeigt auf, dass es bei der Umsetzung bzw. Übersetzung der von den Vereinten Nationen beschlossenen Konvention zu einem fatalen Missverständnis gekommen ist. Es wurde nämlich der Begriff der Inklusion mit der vollständigen Abschaffung des Förderschulsystems gleichgesetzt. Förderschulen sind mit den auch bei uns abgeschafften Kleinklassen identisch. Speck: «Merkwürdigerweise lässt sich in der UN-Richtlinie keine Belegstelle finden, aus der eine solche Radikallösung abzuleiten gewesen wäre». Im weiteren ist dann auch von einer unzulässigen Vermengung der Begriffe «Integration» und «Inklusion» die Rede. Nachdem der Begriff der Integration lange Zeit als gültig angesehen wurde, wurde dieser plötzlich durch den Begriff der Inklusion ersetzt. Sonderschulen konnten damit als exklusiv, also als ausschliessend, tituliert und, wie ich meine, auch diskreditiert werden. Aber wie ich auch schon an anderer Stelle aufgezeigt habe, bedeutet Inklusion immer AUCH Exklusion. Ich kann nicht katholisch und reformiert sein. Ich kann nicht Mann und Frau gleichzeitig sein (Transgender sind hierbei nicht gemeint) usw. Die Systeme, so Speck weiter, gliedern sich immer weiter auf und exkludieren damit. So gibt es Altersheime, mittlerweile aber auch Heime für demenzerkrankte Menschen. Speck: Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, institutionelle Gruppierungen schlechthin als exkludierend zu denunzieren». Speck weist auch darauf hin, dass in der UN-Konvention davon ausgegangen wird, dass kein Kind oder Jugendlicher vom «general education system» ausgeschlossen werden darf. Dabei wollte man sicherstellen, dass die ca. 25 Millionen Kinder auf der Welt mit einer Behinderung eine Schule nach ihren Bedürfnissen besuchen dürfen. Davon, dass sie in eine Regelschule miteingeschlossen (!) werden sollen, ist dabei nirgends die Rede. Ein inklusives Bildungssystem, so die Konvention, muss auch darum besorgt sein, dass diese Kinder eine schulische Förderung erhalten. Speck schliesst nun daraus, dass aus der Formulierung «general» fälschlicherweise der deutsche Begriff «allgemein» abgeleitet worden sei. Zum allgemeinen Schulsystem gehören aber, wie ich meine, auch Kleinklassen und Schulen für geistig behinderte Kinder. Im Übrigen wurde die Wirksamkeit dieser speziellen Schulen nie in Zweifel gezogen. Mir ist keine Studie bekannt, die aussagt, dass Kleinklassen nicht ihre Ziele erreicht hätten. Der Streit spielt sich i.d.R. auf einer ideologischen Ebene ab. Diese basiert aber, wie Speck aufzeigt, auf einem fatalen Missverständnis. Abschliessend weist er noch darauf hin, dass ein inklusives Schulsystem weitaus teurer käme als ein System mit einem differenzierenden Angebot.
- Ewald Kiel: Die säkulare Religion.
In: Cicero: 28.2.201«Die Debatte um die schulische Inklusion hat religiöse Züge angenommen. Skepsis und Erkenntnisse, die den Erfolg in Zweifel ziehen könnten, werden ignoriert oder nur am Rande behandelt. Das schadet am Ende der Sache selbst.»
Kiel zeigt auf, dass Befürworter der Inklusion im Grunde eine umwälzende Veränderung der gesamten Gesellschaft fordern. Die Ansicht, dass die Feststellung unterschiedlicher Leistungspotentiale bei Menschen stigmatisierend sei, ist seiner Ansicht nach wirklichkeitsfremd. Kiel: «In der von radikalen Inklusionsproponenten erträumten schönen neuen inklusiven Welt spielen Leistung, Normen und Kategorien keine Rolle. Alle Menschen werden glücklich, wenn sie politisch korrekt, nicht-kategorisierend, nicht-stigmatisierend und nur wertschätzend miteinander interagieren und allen das gleiche Mass an gesellschaftlicher Teilhabe möglich ist.» Für Kiel ist dann von besonderem Interesse, wie mit Skeptikern dieser Ideen umgesprungen wird. Stimmen, die sich kritisch mit dieser Inklusions-Idee auseinandersetzen, werden «marginalisiert». Was nicht in das Inklusions-Weltbild passt, wird ausgeblendet; es geht um den richtigen Glauben. Kiel: Abweichler seien in ihrer Entwicklung einfach noch nicht so weit oder sie müssten noch Trauerarbeit über den Verlust der ihnen bekannten (nicht-inklusiven) Welt leisten, heisse es dann. Diejenigen, die sich trauen, Inklusion als solche anzuzweifeln, werden, so Kiel, als sexistisch, rassistisch oder sozialdarwinistisch tituliert. Dabei ist nicht zu übersehen, dass gelungene Inklusionsbeispiele Mangelware sind. Die Unzufriedenheit auf der Ebene der Praxis ist im Grunde unüberhörbar. So werden Einzelbeispiele medial hochgejubelt, über deren wahrer Erfolg manchmal eher Zweifel angebracht wären. Kiel: «Es finden sich vielfache Heldengeschichten von Kindern und Jugendlichen, die trotz Behinderung erfolgreich in dieser Gesellschaft agieren. Personen mit Trisomie 21, die einen Haupt- oder sogar Hochschulabschluss machen, Autisten, die erfolgreiche Programmierer im Silicon Valley sind oder schwer körperbehinderte Personen, die erfolgreich als Künstler sind.» Damit wird suggeriert, dass dies für alle Menschen mit einer Behinderung möglich sein wird, wenn wir nur die Inklusion verwirklichen. Aber diese Geschichten lassen sich nicht generalisieren. Kritisch ist aber hierbei zu fragen, ob es diese Geschichten nicht auch ohne Inklusion geben würde oder, so wage ich anzufügen, nicht auch schon immer gegeben hat? Abschliessend macht Kiel darauf aufmerksam, dass es keine allgemeingültige Definition von Inklusion gebe und deshalb sich dieser Begriff auch für Ausgestaltungen utopischer Ideen jeglicher Couleur besonders eigne. Inklusion, so Kiel, teilt die Welt in Gläubige und Ungläubige. «Die zentrale nicht religiöse Frage, wie eine moderne, leistungsorientierte, kapitalistische Gesellschaft mit der Idee der Inklusion versöhnt werden kann, wird so nicht beantwortet».
- Michael Felten: Die Inklusionsfalle. Wie eine gutgemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017
Felten beginnt sein Buch mit der Frage: Schulische Inklusion – Traum oder Trauma? «Stell’ Dir vor, Du beteiligst Dich an einer grossen Weltverbesserungsaktion – und am Ende sieht die Erde übler aus als zuvor.» (S. 8) So beklagt Felten denn auch, dass an unseren Schulen, bedingt durch die Inklusion, ein zunehmendes Chaos herrsche (S. 19). Sein Fazit lautet bereits auf Seite 57: «Schulische Inklusion scheint vielerorts den Möglichkeiten und Bedürfnissen aller Beteiligten krass zuwiderzulaufen …» – dass es sich um einen Systemfehler handelt, um konzeptionelle Irrtümer, womöglich um ideologische Irreführung. Dann aber muss die Frage anders gestellt werden: Warum machen «die» das? Das ist m. E. eine sehr gute Frage, die mich schon seit Jahren umtreibt. Felten geht dieser Frage nach. In einer beeindruckenden Fülle von Praxisbeispielen zeigt er dezidiert auf, woran Inklusion scheitert, scheitern muss und warum sie letztendlich die von ihr selbst postulierten Ziele in keiner Art und Weise erreicht, erreichen kann. Oder noch klarer formuliert: warum sie die Entwicklung des Schulsystems, das ja bedürfnisorientiert vorgehen sollte, torpediert bzw. zugrunde richtet. Felten fordert denn auch: «Vielfalt statt Einheitsbrei» (S. 117).
- Uwe Becker: Die Inklusionslüge –Behinderung im flexiblen Kapitalismus
Transcript Verlag, Bielefeld 2016 (2. unver. Aufl.)
Becker stellt zunächst die Frage nach der Qualität der Sonderschulen und gelangt dann zu der verbreiteten Ansicht, dass Exklusion als behindertenfeindlich gilt, aber diese Aussage kann eben nicht sauber belegt werden. Inklusion hingegen bezeichnet er als einen sakralen Akt. Von hier ist dann der Schritt nicht weit, die Heilpädagogische Sonderschule mit sogenannten Nicht-Inkludierten als «Müllhalden-Schule» zu bezeichnen. Denn so wird sie wahrgenommen, und die Inklusionsbewegung hat keinen geringen Anteil daran. Beckers Zwischenfazit: Es findet eine Diffamierung der Spezialisierung und Qualität der hochdifferenziert arbeitenden Sonderschule statt.
Im Gegensatz dazu steht der Umstand, dass unsere moderne Gesellschaft immer mehr Ungleichheiten und Spezialisierungen erwirkt. Unsere Gesellschaft ist bestimmt durch Konkurrenz und Selektion. Die Gefahr des Scheiterns wird dadurch immer grösser. Die Politik begegnet dieser Entwicklung mit einer gewissen Ignoranz. Man nahm an, dass durch die Auflösung der Kleinklassen die Ausgaben in diesem Bildungssektor vermindert werden könn(t)en. Welch verhängnisvoller Irrtum, wie auch Becker meint.
Inklusionsbefürworter sind der Ansicht, dass durch den Besuch einer Sonderschule eine Stigmatisierung dieser Schüler und Schülerinnen stattfindet. Dem hält Becker entgegen, dass genau das Gegenteil der Fall sein könnte. Als Behinderter eine Regelschule besuchen zu müssen, erhöht dieses Stigma eventuell gar noch, keinesfalls wird es, d.h. die Kennzeichnung, ein Aussenseiter zu sein, aufgehoben. Die Leistungsanforderungen einerseits und das verminderte Aufnahmevermögen andererseits (aus welchen Gründen auch immer) tun hierbei ein Übriges. Gleiche Chancen für alle bezeichnet Becker als ein fiktives Konstrukt. Er fragt: Wo ist die Grenze des Zumutbaren für alle Beteiligten? So kann die Schliessung der Kleinklassen nur als eine radikal-naive Massnahme bezeichnet werden. Die Realität der heutigen Regelschulen ist weit davon entfernt, Schülern mit Lernschwierigkeiten, sei es weil sie lern- oder geistig behindert oder verhaltensauffällig sind, wirklich bessere Lernchancen zu bieten. Denn die Sonderpädagogik verliert im Grunde ihre Rolle nicht. Auch ihre Bagatellisierung wird durch die Inklusionsphantasie in keiner Art und Weise geschmälert. Deshalb können Regelschulen Sonderschulen nicht entbehrlich machen. Dies beweist auch die Tatsache, so mein Einwand, dass viele in der Regelschule «inkludierten» Schüler und Schülerinnen in der Mittel- bzw. Oberstufe an eine Sonderschule wechseln. Die Effizienz der sogenannten heilpädagogischen Begleitung in der Regelschule ist weniger als ein Tropfen auf einem heissen Stein. Der einzige Vorteil, den diese Begleitungen bieten, ist der, dass insbesondere weibliche Heilpädagoginnen eine Teilzeitstelle inne haben können, ohne dass sie die Verantwortung für eine Klasse übernehmen müssen.
Becker folgert, dass es im Grunde keine Exklusion aus der Gesellschaft geben könne. Ihm geht es um die Ausgrenzungen in Institutionen, letztendlich um Armut in einer Wohlstandsgesellschaft. Immer der Schwächste zu sein in einem Klassenverband, keine eindeutige Bezugsperson zu haben, so meine Überzeugung, kann das Selbstwertgefühl eines behinderten Kindes nicht fördern.
- Bernd Ahrbeck: Der Umgang mit Behinderung
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2011
Konzentrieren wir uns bei dieser Veröffentlichung auf das 4. Kapitel: «Inklusion – Oder bis alle Unterschiede eingeebnet sind» (S. 43ff.). Ahrbeck macht darauf aufmerksam, dass die von den Inklusionsbefürwortern immer wieder vorgebrachte These, dass gemeinsamer Unterricht für alle förderlich sei, eine Illusion ist und empirisch nicht belegt werden konnte. Dies entspricht auch meinen (nicht-empirisch belegten) Beobachtungen über Jahre. D.h., dass geistig behinderte Schüler und Schülerinnen, die in die Mittel- bzw. Oberstufe einer Heilpädagogischen Sonderschule gewechselt haben, nachdem sie mehrere Jahre in der Regelschule verbracht haben, in ihrem Förderpotential, sowohl was die Dinge des täglichen Lebens anbelangt als auch die Kenntnisse in den Kulturtechniken, oft weit unter denjenigen Schülern und Schülerinnen lagen, die spezifisch und professionell seit der Einschulung eine Heilpädagogische Einrichtung besucht haben. Das Problem liegt m. E. daran, dass Inklusionsbefürworter der Inklusion einen Eigenwert zumessen, den diese aber gar nicht haben kann. Ahrbeck: Das erklärt, wieso das Inklusionsanliegen so vehement und mit (über)grosser Selbstgewissheit vertreten wird, teilweise in bemerkenswert lockerer Bezugnahme zur empirischen Realität» (S. 45). Diese Haltung erschwert natürlich eine sachliche Auseinandersetzung. Im Folgenden analysiert Ahrbeck dann eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich kritisch mit der Inklusion auseinandersetzen. Ahrbeck, der sich auch auf Kobi, den grossen Schweizer Heilpädagogen aus Basel, bezieht, bezeichnet insbesondere die Gefahr der Inklusion als eine «totale Institution», der sich niemand entziehen kann (vgl. S. 53). Ahrbeck: «Grossen Wert legt Kobi darauf, dass die Autonomie des Individuums geachtet wird.» (S. 53) Interessant finde ich den abschliessenden Gedanken von Ahrbeck, dass sich z. B. geistig behinderte Kinder eben auch untereinander viel geben können: Die Möglichkeiten von Kindern mit Behinderung, sich gegenseitig zu bereichern, werden gegenwärtig vielfach unterschätzt, gepaart mit einer Überhöhung des kollektiven Gemeinwohls.» (S. 54)
- Ju-Hwa Lee: Inklusion. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von Andreas Hinz
Oberhausen 2010
Lee hat sich der Mühe unterzogen und hat das Konzept von A. Hinz, der als dogmatischer Befürworter der Inklusionsbewegung in Deutschlang gilt, einer näheren Betrachtung unterzogen. Angesichts der über 200 Seiten soll hier lediglich auf sein Fazit eingegangen werden. Lee stellt zum einen fest, dass der Inklusionsbegriff aus dem angelsächsischen Raum stammt. Im Zusammenhang mit dem Integrationsbegriff «ergeben sich hierzulande Verwirrungen um den Inklusionsbegriff» (S. 201). Lee fragt, ob dieser Kontrast, wie er von Hinz stark in den Vordergrund geschoben wird, im deutschsprachigen Raum überhaupt seine Berechtigung hat. Sehr problematisch ist natürlich die Abwertung der exkludierenden Sonderpädagogik. Lee: Zu fragen bleibt, ob der Grund abwertender Haltung gegenüber sonderpädagogischer Unterstützung wirklich in sich selbst liegt oder vielmehr in der Einstellung der Menschen, die zunehmend auf Erfolge ausgerichtet sind.» (S. 210) Lee kommt denn auch zum Schluss, dass das Inklusionskonzept nicht kann, dass mit der Abschaffung jeglicher Kategorisierung und sonderpädagogischer Förderung das Aussonderungs- und Diskriminierungsproblem tatsächlich gelöst wird. Lee: «Das Inklusionskonzept von Hinz mit seiner rigorosen Forderung nach einem sogenannten unspezifischen Personenkreis, der ‚alle’ umfassen soll, kann unter diesen Umständen nicht als alternativloser Weg angesehen werden.» (S. 211)
Die Literaturliste des Autors ist von einer beispiellosen Einseitigkeit. Die exklusive Lektüre von antiinklusiven Texten vermindert zwar den Wirrwarr im Kopf, ist aber unvermeidlich mit einem geistigen Tunnelblick verbunden. Man nimmt dann nur noch das wahr, was zu den vorgefassten Meinungen und Urteilen passt. Aufgrund der permanenten Bekräftigung durch Gleichgesinnte darf man sich dann schließlich einbilden und glücklich schätzen, dass man mit den richtigen Schafen zusammen blökt.
Sehr geehrter Wocken,
Danke für diesen Kommentar. Sie sind eingeladen, ihre Literaturliste in diesem Blog zu präsentieren oder – noch besser – Ihre Haltung hier in einem Beitrag zu begründen. Wenn sie in unserem Blog “stöbern”, werden sie erkennen, dass wir hier alles andere als einen “Tunnelblick” anstreben. Dies wäre auch nicht im Sinne unseres Namensgebers Jean-Marie de Condorcet. Wir suchen den Diskurs.
Ich bin bekanntlich ein fundamentalistischer Vertreter der Inklusion. Aber ich lese auch die Literatur der Skeptiker, Kritiker und Gegner. In schriftlicher Form habe mich auseinandergesetzt mit: Michael Felten, Otto Speck, Bernd Ahrbeck, Ewald Kiel u.a., also in einer erheblichen Anzahl mit jenen Autoren, die in der kritisierten Literaturliste empfohlen werden. Diese Liste von Herrn Bonfranchi ist keine Einladung zu einem Diskurs, sondern die bewusste Ausblendung von anderen Positionen zur Inklusion. Ich kann jetzt nicht eine neue Abhandlung schreiben. Meine Literatur ist offen einsehbar auf meiner Homepage http://www.hans-wocken.de.
Lieber Herr Wocken,
Natürlich ist unser Blog auch mit dem Anspruch angetreten, den KritikerInnen der vielen Reformen eine Stimme zu geben. Und Herr Bonfranchi ist neben vielen einer der Kritiker einer – wie er es ausdrückt – falsch verstandenen Inklusionspolitik.Sein Beitrag ist daher legitim und nachvollziehbar, darf aber widersprochen werden. In all den vergangenen Jahren wurde uns in den einschlägigen Zeitschriften und Fachmagazinen wenig Platz gegeben, unsere Positionen darzulegen. Das betrifft nicht nur die Frage der Inklusion. Auch bezüglich der geleiteten Schulen, der Kompetenzorientierung oder den Lehrmitteln werden hier Positionen publiziert, die wir nur sehr schwer in anderen Medien veröffentlichen können. Aber – und das unterscheidet uns von den anderen – wir laden alle zu einem Diskurs ein. Wenn eine kritische Rückmeldung kommt (wie Ihre), freuen wir uns und es erfolgt stets die Aufforderung, den Widerspruch zu formulieren. Wir werden ihn hier veröffentlichen, ohne wenn und aber. Es ist schade, dass Sie dies nicht tun wollen. Aber es sagt natürlich auch etwas über die Fähigkeit aus, gegensätzliche Meinungen öffentlich zu debattieren.