Die Reformfreudigen bedienen sich eines Kataloges von modischen Begriffen, mit denen sie ihre Dossierfestigkeit zu dokumentieren wähnen und ihre programmatischen Ziele rechtfertigen. Ob diese vermeintlichen Reformideen empirisch und durch valide Vergleichsstudien abgesichert sind, scheint sie nicht zu kümmern. Während man medizinische Therapien erst nach sorgfältigem Praxistest freigibt, scheinen neue pädagogische Theorien a priori für unbedenklich zu gelten. So werden Meinungen, Hypothesen und Theorien ungeprüft als unumstössliche Wahrheiten entgegengenommen, sie scheinen quasi von selbst zu überzeugen. Jedenfalls ist alles, was neu und anders scheint, besser als das Frühere, es muss möglichst schnell durchgeboxt werden, koste es, was es wolle.
Dabei verläuft die Überzeugungsarbeit häufig nach dem dreischrittigen Bekehrungsmuster, das vom missionarischen Wirken der Religionsgemeinschaften her bekannt ist1:
- Das Bisherige wird als veraltet, schädigend, unsozial und in jeder Hinsicht unangemessen verteufelt. Es ist Sünde. Abhilfe ist unausweichlich.
- Als Erlösung und Ausweg aus der Krise werden nicht Mängel des Bestehenden analysiert, sondern vermeintlich neue Ideen in Form von klangvollen Reizbegriffen verkündet, die das Heil bringen sollen. Das Alte muss radikal weg, um etwas ganz Neuem Platz zu machen, lautet die Devise der Offenbarung.
- Das Neue wird top-down in Form einer Gehirnwäsche in Weiterbildungsveranstaltungen, die Ritualen ähneln (im Kreis sitzen, farbige Punkte auf Poster kleben, Gruppenaufträge erledigen, Feedback geben), eingetrichtert, die Seele soll mit dem Neuen eins werden. Sozialer Druck, das Neue zu übernehmen, wird aufgebaut.
Pädagogische Schwärmer und neoliberal Affine erliegen gleichermassen dem Zauber der Worthülsen
Für Powerpoint-Präsentationen werden jeweils plakativ Unwörter der verhassten Altpädagogik den Reizwörtern der Erlösungspädagogik gegenübergestellt. Ein zustimmendes Ah und Oh geht durch die Zuhörerreihen, wenn diese «Buzzwords» mit treffenden Beispielen anekdotisch untermalt werden. Pädagogische Schwärmer und neoliberal Affine erliegen gleichermassen dem Zauber der Worthülsen. Die folgende (sicher unvollständige) Liste enthält die gängigsten Begriffe. Natürlich werden sie bei Präsentationen in malerischen Sprechblasen-Wölkchen dargestellt, was den Effekt gegenüber einer prosaisch nüchternen Zusammenstellung deutlich erhöht.
Schulisches Teufelszeug | Erlösungsformeln |
Kantonales Chaos | Harmonisierung |
Defizitorientierung | Ressourcenorientierung |
Lehrerzentrierter Frontalunterricht | Selbstorganisiertes Lernen |
Lehrerin und Lehrer unterrichten Lernende | Lerncoaches begleiten autonom Lernende |
Wandtafel, Kreide, Bücher, Hefte | Digitalisierung |
Stoffvermittlung | Kompetenzorientierung |
Noten und Zeugnisse | Selbstevaluation und Portfolios |
Rechtschreibung und Diktate | Kreatives Schreiben nach Gehör |
Hausaufgaben | Alle Aufgaben in der Schule erledigen |
Einzelkämpfertum | Zusammenarbeit im pädagogischen Kollektiv |
Fehlerkorrektur | Fehlertoleranz |
Demotivation und Passivität der Lernenden | Motivation und Aktivierung der Lernenden |
Nach Leistungsstärke gegliederte Klassen | Personalisierung und Binnendifferenzierung in ungegliederten Klassen |
Kleinklassen für Beeinträchtigte | Integration der Beeinträchtigten in Regelklassen |
Staatsschule, verordnete Schulzuteilung | Staatlich finanzierte Privatschulen oder Bildungsgutscheine für freie Privatschulen |
Didaktisch-methodische Gestaltungsfreiheit | Kontrolle durch standardisierte Lernprogramme und regelmässige Tests |
Fachlogischer Unterrichtsaufbau | Anwendungsorientierter Unterrichtsaufbau |
Fachlogisches Denken | Computational Thinking |
Einzelfächer | Fächerzusammenlegung (Synergie) |
Powerpoint-Veranstaltungen dieser Art haben allerdings einen gravierenden Nachteil, den Laurence Peter einst «rigor cartis», das «Erstarren vor den Grafiken», genannt hat2: Schaubilder schalten durch ihre visuelle Suggestivkraft das rationale Denken aus. Eine hypnotische Wirkung entsteht, einer Erleuchtung gleich, das Ei des Kolumbus scheint gefunden.
Psychologische Wirkung wird vermutet
Das ist schade, denn bei genauerem Hinsehen wird klar: Beide Listen verweisen bloss auf formal-methodische Verfahren, organisatorische Arrangements und vermutete psychologische Wirkungen. Es geht nicht um Substanzielles, sondern um Formal-Instrumentelles. Dass sowohl die negativ als auch die positiv besetzten Praktiken in bestimmten Situationen und je nach Inhalt und Bildungsabsicht sinnvoll, aber manchmal wieder völlig unangemessen sein könnten, wird nicht erörtert. Links ist absolut schlecht, rechts ist absolut gut. Definitionen, was genau mit «Frontalunterricht», «Kompetenzorientierung», «Lerncoach» etc. gemeint ist, sucht man ebenfalls vergeblich. Die Begriffe sollen nicht sachlich klärend, sondern abschreckend, bzw. magisch anziehend auf die Zuhörenden wirken.
Lehrerzentrierter Unterricht und selbstorganisiertes Arbeiten können beide je nach Situation sinnvoll sein
So kann zum Beispiel ein lehrerzentrierter, gesteuerter, gemeinschaftlicher Unterricht – Frontalunterricht, aber nicht Dozierunterricht – ein sehr probates, willkommenes Mittel sein, um mit einer Klasse ein Thema zu entwickeln und zu vertiefen. Anderseits kann in Übungs- und Anwendungsphasen ein selbstorganisiertes Arbeiten sinnvoll sein. Die schulische Organisation sollte deshalb nicht derart gestaltet werden, dass sie das eine vorschreibt und das andere verunmöglicht.
Über situative, inhaltliche, lernpsychologische Angemessenheit, über Gelingensbedingungen, über Ausgestaltung und Anwendungstauglichkeit, über Vor- und Nachteile sagen die Schlagwörter der Liste folglich gar nichts aus. Sie sagen auch nichts darüber aus, ob die Verfahren und Arrangements überhaupt mit dem Zweck von allgemeinbildenden Volksschulen vereinbar sind oder ob sie eventuell in erster Linie schulfremden Interessen dienen könnten.
Warum auch? Das würde das Denken vom Erweckungserlebnis auf das Feld der Rationalität und der Differenzierung zurückführen. Grundsätzliche Fragen würden sich stellen. Das aber wäre nicht erwünscht. Schulreformen sollen nach Präsident Putins Vorbild als «gelenkte Demokratie» erfolgen. Lehrpersonen sollen nicht die Lernateliers in Frage stellen, sondern entscheiden dürfen, ob die Zwischenwände zwischen den Pulten mit Postern beklebt werden dürfen oder nicht.
So tappen durchaus wohlmeinende Bildungspolitiker in bester Absicht in die Falle von Verführern, deren Ideen sie dann gnadenlos umgesetzt haben wollen. Schulkrach in Gemeinden und in Lehrerkollegien, Kündigungen von Lehrpersonen, gefrustete und ausgebrannte Mitarbeiter, gestresste Schülerinnen und Schüler, Elternaufstände und Volksinitiativen sind vorprogrammiert. Und nichts ist gewonnen. Im Gegenteil: Der Sinn der Schule wird nur immer mehr in Frage gestellt.
Abhilfe bringt nur eine neue Aufgabenteilung
Abhilfe, ein Abrücken von diesen absolutistischen Tendenzen, könnte nur eine klare neue Aufgabenteilung bringen: Politik, Behörden und Bildungsgremien besinnen sich auf ihren eigentlichen strategischen Auftrag, der darin besteht, inhaltliche Leitplanken vorzugeben und deren Einhaltung zu überwachen. Damit sind nicht endlose, hochtrabende Kompetenzraster gemeint, die in eine völlig übertriebene Regulierungswut des in Wahrheit gar nicht Regulierbaren ausarten, sondern kurz gefasste Vorgaben zu fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten. Damit sind auch nicht ständige Tests gemeint zur Überprüfung des Kenntnisstandes oder eine schikanöse Beschäftigungsbürokratie für Lehrpersonen. Regulierungsdichte, Prüfungsmanie und Bürokratie haben bisher nirgends zur Verbesserung der Schule oder zu vermehrter Förderung der Lernenden beigetragen.
Regulierungsdichte, Prüfungsmanie und Bürokratie haben bisher nirgends zur Verbesserung der Schule oder zu vermehrter Förderung der Lernenden beigetragen.
Weniger Ideologie ist gefragt
Alle formalen und didaktisch-methodischen Fragen (Lernziele, Beurteilung, Unterrichtsgestaltung) gehören wieder in die Zuständigkeit der Fachleute, der Lehrerinnen und Lehrer, die unterrichten. Das sind operative Belange der Schularbeit, in die sich politisch-administrative Gremien nicht einzumischen haben. Organisatorische Arrangements sollen sich nicht an ideologischen Überzeugungen, sondern an den realen Bedürfnissen orientieren. Sie sollen methodisch-didaktische Gestaltungsfreiheit garantieren. Die Ausbildung der angehenden Lehrpersonen sollte zu eigenständiger praktischer Arbeit mit solidem Fundament in der Fachdidaktik und in den Erkenntnissen der Lernforschung führen, nicht aber zum Marionettendasein als Vollstrecker abstruser Theorien verurteilen.
Die Idee der Schul-CEOs hat sich nicht bewährt
Neu zu definieren ist auch die Rolle der Schulleitungen: Sie sollten grundsätzlich von den Lehrpersonen gewählt und nicht von Verwaltungsgremien eingesetzt werden. Die Idee von Schul-CEOs hat sich nicht bewährt. Sie hat zu grossen Reibungsverlusten geführt. Die Führungsaufgabe an Schulen ist organisatorischer Art, die pädagogischen Leitlinien müssen vom betreffenden Lehrkörper gemeinsam erarbeitet werden. Alles sollte dem Ziel untergeordnet werden: bestmögliche (nicht besser als mögliche) Bildung und Förderung der Lernenden. Darüber entscheiden können nur die Leute, die tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen verantwortungsvoll arbeiten wollen.
1Friedrich Heiler, Kurt Goldammer: Die Religionen der Menschheit. Stuttgart 2003.
2Laurence J. Peter, Raymond Hull: Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen. Rowohlt, Hamburg 2001.