18. September 2024
Digitalisierung – wie weiter?

„Müssen Schüler davor schützen“ – Jetzt wachsen die Zweifel am digitalen Klassenzimmer

Während in Deutschland die Digitalisierung an Schulen nur schleppend vorankommt, rudern andere Länder schon wieder zurück. Selbst ehemalige Vorreiter diskutieren inzwischen über den Sinn des digitalen Lernens – und kommen zu unterschiedlichen Schlüssen. Die WELT gibt uns einen Überblick über den Stand der Digitalisierung in verschiedenen europäischen Ländern. Verantwortlich für diesen interessanten Überblick ist ein Autorenteam der WELT: Marc Pfitzenmaier, Lara Jäkel, Carolina Drüten, Martina Meister, Mandoline Rutkowski.

Lange schien die Zukunft der Bildung ausschließlich in eine Richtung zu deuten: je digitalisierter, desto besser. Die deutschen Schulen mit ihren staubigen Kreidetafeln wurden belächelt, eine schnellere Modernisierung vehement eingefordert.

Erst mit dem Digitalpakt, der 2019 in Kraft trat und zunächst 5,5 Milliarden Euro für die Ausstattung von Schulen mit digitalen Lernmitteln bereitstellte, zeigten sich merkliche Fortschritte. Später wurde das Budget um weitere 1,5 Milliarden Euro aufgestockt, im kommenden Jahr soll eine Neuauflage folgen.

Während die Digitalisierung von Schulen hierzulande gerade erst in Schwung kommt, rudern andere europäische Länder schon wieder zurück. Verschiedene Studien und Erfahrungen aus der Praxis haben Bedenken über die Folgen von zu langen Bildschirmzeiten für Kinder und Jugendliche befeuert: Die Konzentration leidet, schulische Leistungen werden schlechter.

Immer mehr Länder diskutieren darum, wie ein sinnvoller Umgang mit Smartphones, Tablets und Co. gelingen kann – und kommen zu unterschiedlichen Schlüssen.

Schweden

In den nordeuropäischen Ländern ist die Verwendung moderner Technik im Klassenraum seit Jahren selbstverständlich, teilweise haben dort Laptops, Tablets und andere Geräte das klassische Schulbuch vollständig verdrängt. Infrage gestellt wurde der hyperdigitalisierte Ansatz erst, nachdem verschiedene Studien einen Abwärtstrend bei der Lernleistung ausgewiesen hatten.

So hat in Schweden Bildungsministerin Lotta Edholm im vergangenen Jahr das Comeback von Schulbüchern besonders für Grundschüler gefordert; 60 Millionen Euro wurden dafür investiert. Auf ihrer Website erklärt die konservative Regierung, digitale Lernhilfen sollten „erst in einem Alter in den Unterricht eingeführt werden, in dem sie das Lernen der Schüler fördern und nicht behindern.“

Zum Jahresbeginn gab Stockholm zudem bekannt, dass die Klassenstufen 1 bis 9 bald völlig handyfrei sein sollen. 2023 wurde das Bildungsgesetz bereits dahingehend geändert, dass Schüler Handys im Unterricht nur auf Anweisung eines Lehrers benutzen dürfen und Geräte leichter beschlagnahmt werden können.

Dänemark

Auch in Dänemark will man das digitalisierte Klassenzimmer teilweise rückabwickeln. In keinem anderen Land verbringen laut der neusten Pisa-Studie Schüler so viel Zeit vor Bildschirmen – 72 Prozent nutzen in nahezu jeder Schulstunde digitale Geräte. Damit soll nun Schluss sein. Die Regierung veröffentlichte, ebenfalls wegen nachlassender Leistungen, eine Reihe restriktiver Empfehlungen.

Bildungsminister Mathias Tesfaye hatte sich bereits Ende 2023 kritisch über das Konzept der digitalen Bildung geäußert und sich in einem Interview bei den dänischen Jugendlichen dafür entschuldigt, dass man sie zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe, „dessen Ausmaß und Folgen wir nicht überblicken können“. Zudem wird über ein Verbot von Smartphones diskutiert; einige Schulen nutzen bereits „Telefonsafes“, in denen die Geräte während des Unterrichts aufbewahrt werden.

Niederlande

Die sogenannten Steve-Jobs-Schulen in den Niederlanden galten lange als leuchtendes Beispiel für digitalen Unterricht. Dort wurde nach dem Konzept „Unterricht für eine neue Zeit“ gelernt – ausschließlich auf Tablets und in individuellen Workshops statt im Klassenverband.

Inzwischen sind die meisten teilnehmenden Schulen wieder von dem Modell abgerückt und haben den Einsatz von Tablets deutlich zurückgefahren. Diesen Trend hat die scheidende Regierung mit dem Beschluss untermauert, dass ab diesem Schuljahr Smartphones und Tablets nur noch eingeschränkt im Unterricht genutzt werden dürfen. „Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Handys die Konzentration und Leistung stören. Davor müssen wir die Schüler schützen“, sagt Ex-Bildungsminister Robbert Dijkgraaf.

Ausnahmen gibt es für Schüler, die aus medizinischen Gründen auf ein Smartphone angewiesen sind, und für Unterrichtseinheiten, in denen es um Themen wie Medienkompetenz geht. Bislang ist das Verbot nur eine Empfehlung, die Umsetzung liegt in der Verantwortung der Schulen.

Italien

Italiens neue Regierung unter Giorgia Meloni hat ein altes Handyverbot, das vorübergehend ausgesetzt worden war, ab dem neuen Schuljahr wieder eingeführt. Selbst zu Unterrichtszwecken dürfen Smartphones und Tablets künftig nicht mehr benutzt werden. Damit soll die Konzentration gefördert, aber auch die Autorität von Lehrern gestärkt werden.

Außerdem sollen Schüler laut dem Erlass von Bildungsminister Giuseppe Valditara wieder mehr mit der Hand schreiben und dazu etwa einen handschriftlichen Schülerkalender führen. „Wir müssen unsere Kinder wieder an Stift und Papier gewöhnen“, sagte der Minister. Er verwies auf Studien, denen zufolge Handys und Tablets die Konzentration und Leistungen von Schülern beeinträchtigten. Tatsächlich schnitten Kinder, die während der Schulzeit häufig ihr Smartphone nutzen, bei der Pisa-Studie schlechter ab.

Frankreich

Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat den langen Bildschirmzeiten von Kindern den Kampf angesagt. Er beauftragte eine Expertenkommission damit, Richtlinien für einen „vernünftigen Gebrauch“ zu erarbeiten. In ihrem Bericht, der im April vorgestellt wurde, warnt die Kommission vor Gesundheitsschäden durch exzessive Bildschirmnutzung und dem „toxischen Ökosystem der sozialen Netzwerke“.

Eine Konsequenz ist ein Pilotprojekt, das in diesem Schuljahr startet: An 200 französischen Mittelschulen soll eine „digitale Pause“ getestet und ab dem kommenden Jahr in allen 7000 „collèges“ des Landes umgesetzt werden. Die betroffenen Schüler müssen ihr Handy am Schuleingang abgeben. Ziel sei es, die „Verlockung der Ablenkung zu reduzieren und das Schulklima zu verbessern“, sagte Erziehungsministerin Nicole Belloubet.

Großbritannien

Immer wieder wird Großbritanniens ehemaliger Premier Rishi Sunak durch das Klingeln seines Mobiltelefons unterbrochen – in einem Kampagnenvideo, das Anfang des Jahres Lehrer dazu bewegen sollte, Smartphones an Schulen zu verbieten. Zur gleichen Zeit hatte die frühere konservative Regierung einen Leitfaden herausgegeben, der den Bildungseinrichtungen helfen sollte, die Nutzung der Geräte unter den Schülern zu reduzieren.

Der Bildungsausschuss des britischen Unterhauses hat sich im Mai in einem Bericht für ein generelles Smartphone-Verbot für unter 16-Jährige und ein gesetzliches Smartphone-Verbot an Schulen in England und Wales ausgesprochen. Auch in Schottland, das eine eigene Bildungsgesetzgebung hat, wird ein Verbot der Geräte an Schulen diskutiert. Die neue Labour-Regierung unter Keir Starmer ist allerdings deutlich moderater als ihre Vorgängerin und lehnt ein generelles Smartphone-Verbot für Minderjährige ab.

Griechenland

Eine ähnliche Debatte gibt es in Griechenland. Mit Beginn des neuen Schuljahrs müssen Handys in der Schultasche bleiben. Wer sich nicht daran hält, soll für einen Tag vom Unterricht suspendiert werden. Bei einem wiederholten Verstoß drohen mehrtägige Ausschlüsse. Der griechische Bildungsminister Kyriakos Pierrakakis begründete den Schritt gegenüber der Zeitung „Proto Thema“ so: „Nicht nur, weil das Handy sie vom Unterricht ablenkt, sondern vor allem, weil die Kinder anfangen müssen, mehr miteinander in Kontakt zu treten.“

Er nennt außerdem negative Auswirkungen auf die Psyche. Gleichzeitig baut Griechenland jedoch die digitale Bildung aus. Mitte September startet ein Online-Nachhilfeprogramm für Schüler, die sich für die landesweiten Prüfungen für die Hochschulbildung bewerben. Ein neues Tool für Eltern und Erziehungsberechtigte, die „E-Parents“-App, soll über Noten, Updates der Schule und Abwesenheiten informieren.

Der Überblick zeigt: Die Zeiten unbegrenzter Begeisterung für digitale Bildung sind vorbei – selbst in den Ländern, die einst als Vorreiter galten.

Der Überblick zeigt: Die Zeiten unbegrenzter Begeisterung für digitale Bildung sind vorbei – selbst in den Ländern, die einst als Vorreiter galten. Fast überall in Europa wurde inzwischen ein Verbot von Smartphones ausgesprochen. In Deutschland ist ein solcher Schritt nicht geplant, einige Juristen sehen darin einen zu starken Eingriff in die Eigentumsrechte. Mehr als die Hälfte der weiterführenden Schulen hat aber selbst die Initiative ergriffen und Handys in der Schulzeit verboten.

Wenn es um digitales Lernen geht, ist das Bild weniger eindeutig. Einige Länder fahren den Einsatz zurück und setzen künftig auf ein Miteinander digitaler und analoger Mittel. Befürworter dieser Strategie betonen, ein verantwortungsvoller Umgang mit den Geräten müsse in der Schule erlernt werden.

Nur wenige Länder wollen gänzlich auf technische Hilfsmittel im Unterricht verzichten. Einen Vorteil hat der deutsche Rückstand in der Digitalisierung also wohl doch: Die Verantwortlichen können aus den Erfahrungen anderer Länder lernen.

 

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Ein Kommentar

  1. Als ich kürzlich vernommen habe, dass in Schweizer Primarschulen Diktate auf dem Tablet geschrieben und per Link an die Lehrperson abgegeben werden, wusste ich: Falscher kann es gar nicht laufen.

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