29. April 2024
Poetry Slam

Nour und die Frage des Lernwillens

Condorcet-Autor Alain Pichard erinnert sich an einen besonderen Abend, ein besonderes Schulprojekt und an eine besondere Schülerin.

Eine der Sternstunden meiner Lehrerlaufbahn waren die von der Bielerin Tina Messer initiierten schulischen Workshops in der Poery-Slam-Kunst. Während zweier Halbtage wurden meine Schülerinnen und Schüler in die Kunst des Poetry-Slams eingeführt, konnten erste zaghafte Versuche in eigener Dichtkunst wagen, tolle Texte kreieren und anschliessend vor Publikum präsentieren. Die gegenseitigen Auftritte steigerten das Selbstbewusstsein und die Freude am Formulieren. Die Texte wuchsen in Länge und Gehalt. An einem schulinternen Abend für Lehrkräfte, Eltern, Behördenmitgliedern und natürlich den Schülerinnen und Schülern selbst, konnten die jungen Poeten ihre selbst formulierten Texte vortragen. Sie wurden in bewährter Poetry-Slam-Tradition mit Punkten bewertet (1 – 10). Die bestbewerteten Darbietungen konnten dann im Rahmen eines grossen Poetry-Wettbewerbs im altehrwürdigen «Chessu» (das autonome Jugendzentrum) sich mit den Cracks einer anderen Schule messen. Der Anlass erfreut sich jeweils grosser Beliebtheit und wird von meinen Schülern als «megacool» empfunden. Spannend ist es dabei, auch die Reaktion der Eltern zu beobachten, viele von ihnen mit Migrationshintergrund. Auch wenn diese nicht alle Texte vollständig verstanden, waren sie dennoch stolz, ihre Kinder auf der Bühne zu sehen. Kulturarbeit im besten Sinn.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Sie liess sich weder von Mitschülern, noch von Experten in den Bildungsbüros bremsen.

Besonders in Erinnerung blieb mir eine junge libanesische Schülerin meiner Klasse. Nour, so ihr Name, beeindruckte uns Lehrkräfte und viele Eltern mit einem glühenden Votum für einen besseren Umgang unter den Schülerinnen und Schülern der Oberstufenklassen. Nicht nur das: Sie wollte lernen und baute dies in ihren Text ein:

Nour R., redete Klartext

Eine Passage blieb mir in Erinnerung: „So frage ich, ob es noch Zusatzaufgaben gebe und erhalte als Antwort, ’halt doch die Fresse du Streberin!’ So ist es also hier, wer sich anstrengt und weiterkommen will, ist eine Streberin!”

Natürlich waren nicht alle Mitschülerinnen von so einem Bekenntnis begeistert. Darunter übrigens durchaus nicht nur lustlose Migrantenkinder, sondern auch solide Schweizer Burschen.

Schon damals musste sich meine Nour nicht nur gegen minimalistische Mitschüler behaupten, sondern gegen ein Bündnis von Erziehungswissenschaftlern, PH-Dozentinnen  und Bildungsfunktionären, welche ihre holistischen Vorstellungen auch auf die Studierenden übertragen wollen. So wird zum Beispiel die Forderung immer lauter, die Hausaufgaben abzuschaffen. Sie seien der Grund für Streitereien in der Familie, verursachten Stress und würden die Ungleichheit zwischen privilegierten und unterprivilegierten Schichten fördern. Streng nach dem Motto: Wo was gross ist, bleibt es rundherum klein. Und so etwas gelte es unter allen Umständen zu verhindern.

Die von der Bielerin Tina Messer organisierten Poetry-Slam-Anlässe für die Schule sind erfreuen sich grosser Beliebtheit.

Keine Frage: Es gibt dumme Hausaufgaben, genauso wie es bequeme Lehrkräfte und einfältigen Unterricht gibt. Ich lege selbst auch nicht die Hand ins Feuer, dass ich immer die klügsten Arbeitsaufträge erteile. Hausaufträge können hingegen auch inspirierend und interessant sein, vor allem aber sind sie unvermeidlich, wenn es ums Lernen geht. Die SOL-Lektionen, in denen Schülerinnen und Schüler ihre Aufträge auch in der Schule unter Aufsicht und Betreuung der Lehrkräfte erledigen können, gehören längst zur Stundentafel der meisten Schulen.

Nour gehörte zu den Schülerinnen und Schülern, die gerne lernten, liebend gerne noch etwas mehr, auch zu Hause. Intuitiv misstraute sie den Leuten, welche ihr eine Umdeutung aller Werte predigen wollen: Keine Leistung, dafür viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen. An so etwas wollte sich die Torhüterin ihres Fussballclubs gar nicht erst gewöhnen.

Sie liess sich weder von Mitschülern, noch von Experten in den Bildungsbüros bremsen. Vermutlich ahnte die intelligente Libanesin, dass die Verachtung der Leistung vor allem den Kindern der unteren Schichten schadet, denn gerade sie müssen Leistung zeigen, um hochzukommen. Nour absolvierte eine KV-Lehre, machte anschliessend die Berufsmatur und ist heute in einer internationalen Firma in den Finanzen tätig.

An der schulinternen Ausscheidung schaffte sie es nicht unter die besten Drei, trotz ihres vorzüglichen Textes – und damit meine ich nicht den mutigen Inhalt, sondern auch die sprachliche Brillanz. Durch den Verzicht von zwei vor ihr liegenden Kameraden rutschte sie aber dennoch in das Finale im Chessu. Dort war das Publikum etwas «wohlgesonnener» und erkannte den Wert des Textes. Nour belegte den 2. Platz.

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