Immer mehr Kindern fehlen die Worte – lautete die Überschrift der KKH-Studie über die Zunahme von Sprach- und Sprechstörungen von Kindern und Jugendlichen für den Zeitraum von 2009 bis 2019 (KKH 2020). Zwei Jahre später und für den untersuchten Zeitraum von 2011 bis 2021 sind noch mehr Kinder und Jugendliche betroffen. „Sprachtherapie statt Spiel, Sport und Spaß“ lautet die Überschrift nun (KKH 2022). Die steigenden Zahlen sind bedrückend, das Therapieren der Kinder greift zu kurz.
Im Jahr 2021 wurden bei 8,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen Sprachdefizite[1] festgestellt, gegenüber 7,4 Prozent im Jahr 2019 und 5,2 Prozent im Jahr 2011. Der Anteil der Betroffenen in den verschiedenen Altersgruppen lag 2021 bei den 6- bis 10-Jährigen bei 16,0 Prozent (2019: 14,7), bei den 11- bis 14-Jährigen bei 5,5 Prozent (2019: 4,9) und bei den 15- bis 18-Jährigen bei 2,4 Prozent (2019: 2,0). Das mag man für relativ wenig halten, aber es bedeutet, dass acht Prozent der Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr unter nicht altersgerechter Sprachbeherrschung litten, jeder zehnte Junge und jedes 16. Mädchen.[2] Wichtiger als absolute Zahlen sind Tendenzen. Die Zahl der betroffenen 11- bis 14-Jährigen mit mangelnden Sprachkompetenzen stieg von 2011 auf 2021 um rund 107 Prozent, bei den 15- bis 18-Jährigen um 151 Prozent.
Sprechen und Verstehen (können) sind die Grundlage für eine qualifizierte berufliche Zukunft.
Zu den typischen Sprachdefiziten gehören ein begrenztes Vokabular und ein geringer Wortschatz, Probleme bei der Artikulation von Lauten oder der Satzbildung sowie Grammatikschwächen. Sprachvermögen und Artikulationsfähigkeit sind elementare Bedingungen für die Entwicklung der Persönlichkeit[3], für das Sozialverhalten innerhalb von Gemeinschaften und für eigenständiges Denken. Sprachbeherrschung ist ebenso Bedingung für einen reflektierten und selbstbestimmten Umgang mit Medien. Ein qualifizierter Wortschatz und ein gutes Sprachverständnis sind die Grundlage für Lernen und Bildungsprozesse, die überwiegend sprachlich vermittelt werden. Sprechen und Verstehen (können) sind die Grundlage für eine qualifizierte berufliche Zukunft. Wer sich nicht mitteilen, wer nicht mitreden kann, muss schweigen und wird zum Hörigen, wie es Günter Anders formulierte und ist zudem schnell Ziel von Hänseleien, Mobbing und sozialer (Selbst)Isolation mit allen möglichen Folgen psychischer Belastung. Schweigenmüssen aus Mangel an Sprache ist für kommunikative Wesen wie den Menschen eine Strafe.
(Un-)Geteilte Aufmerksamkeit
In seltenen Fällen sind Hörprobleme oder genetische Veranlagungen Ursachen für Defizite bei der Sprechentwicklung. In Zeiten der Pandemie waren dies vor allem fehlende Sozialkontakte zu Lehrkräften und Gleichaltrigen und damit die fehlenden üblichen Gelegenheiten außerhalb der eigenen Familie, die die Grundlage für den Spracherwerb legt. Die meisten Kinder beginnen mit ein- bis anderthalb Jahren die ersten Wörter zu sprechen, manche bereits im Alter von neun bis zwölf Monaten. Ein paar Kinder lassen sich deutlich mehr Zeit und beginnen erst mit zwei oder zweieinhalb Jahren.[4] Mädchen sprechen i.d.R. etwas früher als Jungen. Auch der aktive Wortschatz variiert bei Kindern stark und kann bei 20 Monate alten, sich “normal” entwickelnden Kindern zwischen 50 und ca. 200 Wörtern liegen. Diese Varianz erklärt sich aus der individuellen Entwicklung des Kindes und der gezielten Förderung durch Sprechanlässe. Regelmäßiges Üben hilft, fördert und trainiert.
Sprechen Sie darüber, was Sie sehen. Vom Sehen alleine lernt man nicht Sprechen.
Dazu kommen mit zunehmendem Alter mehr Außenkontakte beim gemeinsamen Spielen, später beim Lernen, beim Sport oder auch beim Streiten. Sprechen lernt man nur mit einem direkten Gegenüber – von Angesicht zu Angesicht und wenn man aufeinander konzentriert ist. Das reine Hörverstehen ohne Blickkontakt setzt ein Sprachverständnis und den entsprechenden Wortschatz ja bereits voraus, weshalb Kinder z.B. erst mit sieben oder acht Jahren telefonieren lernen. Bastian Resch, Mediziner der KKH, forderte deshalb in der ersten Studie von 2020: „Fördern Sie die Sprachkompetenz Ihres Kindes in allen Altersstufen kontinuierlich und aktiv. Lächeln Sie Ihr Kind an, wenn es anfängt zu brabbeln oder durch Mimik und Gestik mit Ihnen Kontakt aufnimmt. Dadurch bestärken Sie Ihren Nachwuchs, mit Ihnen zu kommunizieren. Lesen Sie Ihrem Kind viel vor, wenn es noch klein ist. Führen Sie Gespräche mit Ihren Kindern über unterschiedliche Themen und sorgen Sie so für ausreichend Sprachreize.“ Ebenso wichtig: Lassen Sie Kinder zuhören (Radio, Märchen CDs), lesen Sie vor und schauen Sie gemeinsam Bilderbücher. Sprechen Sie darüber, was Sie sehen. Vom Sehen alleine lernt man nicht Sprechen.
Steigende Bildschirmzeiten
Sprechanreize sind das eine. Bei älteren Kindern und Jugendlichen, deren Sprachentwicklung zwar nicht abgeschlossen ist, weil sich Sprache, Wortschatz und Artikulationsfähigkeiten lebenslang entwickeln (können), kommen weitere Faktoren dazu. Die Pandemie führte durch das Schließen von Bildungs- und Sozialeinrichtungen wie Kitas, Schulen, Sportvereinen, Spielplätzen und Jugendzentren sowohl zu fehlenden Sozialkontakten wie zu fehlenden Sprechanlässen. Das hatte beinahe zwangsläufig deutlich erhöhte Bildschirmzeiten an TV, Smartphone oder Tablet zur Folge, auch um die außerfamiliäre Kommunikation mit Freunden aufrecht zu erhalten.[5] Wenn dann Distanzunterricht und Lernapp oder Home Office noch auf den gleichen Geräten laufen wie YouTube und Instagram (bzw. bei den jungen Leuten TikTok), bedarf es einer ausgeprägten (Selbst-)Disziplin, die Zeit am Bildschirm mit konzentrierter Arbeit und Lernen zu verbringen statt mit per Klick erreichbaren Unterhaltungsmedien.
Social Media-Kanäle lenken Aufmerksamkeit, Konzentration und Kommunikation ins Netz. Zugleich wird das Belohnungssystem korrumpiert.
Hinzu kommt: Die Oberflächen und interaktiven Elementen der Apps sind so gestaltet, dass sie unsere volle Aufmerksamkeit und Konzentration beanspruchen. Der Mensch kann seine Aufmerksamkeit nicht teilen, er ist nicht multitaskingfähig und kann immer nur eine Sache konzentriert machen. Social Media-Kanäle lenken Aufmerksamkeit, Konzentration und Kommunikation ins Netz. Zugleich wird das Belohnungssystem korrumpiert. Das primäre Bedürfnis des Menschen ist es, wahrgenommen zu werden und Zuwendung zu bekommen. Dafür schauen Menschen alle paar Minuten aufs Display. Neugier und die Erwartung einer Reaktion mischt sich mit der Angst, etwas zu verpassen (FoMo – Fear of Missing out). Dabei ist es egal, ob es ein echtes oder computergeneriertes Feedback ist. Ein Like oder ein belangloser Retweet genügen. Das wird durch automatisiertes Feedback geschickt ausgenutzt, um User länger an den Displays zu halten.
Mit solchen aus der Psychologie abgeleiteten Tricks wird unser Verhalten gesteuert und gezielt Suchtverhalten ausgelöst und aufgebaut. Die Begriffe dafür sind „persuasive, d.h. verhaltensändernde Technologien“ und „affective computing“, Techniken, die durch dein Einsatz von sogenannter „Künstlicher Intelligenz“[6] menschliche Affekte und Emotionen erkennen und durch gezielte Interaktionen steuern (sollen). Dabei bleibt man im behavioristischen Reiz-Reaktions-Schema des Vorbewussten. Gesprochen wird eher selten. Man klickt Buttons und schickt Emojis und schaut weiter Videos und Werbung. So funktionieren die Geschäftsmodelle der Datenökonomie. Nur wenn wir auf Bildschirme schauen, kann man dort Werbung schalten und verkaufen. Und Menschen aller Altersstufen verbringen Stunde um Stunde am Display.
(Un-)Geteilte Aufmerksamkeit
Wer auf ein Display oder Touchscreen schaut, kann nicht gleichzeitig Blickkontakt mit einem realen Gegenüber halten. Aufmerksamkeit für und Konzentration auf mein Gegenüber ist aber die notwendige Voraussetzung für gelingende Kommunikation und einen im Wortsinn zwischenmenschlichen Dialog. Es wird niemand bestreiten, dass sich das Kommunikationsverhalten der meisten Menschen durch Smartphones und Tablets stark verändert hat. Auch wird niemand bestreiten, dass gerade Kinder und Jugendliche besonders offen sind für neue Medienformen. Alles aber, was wir intensiv und mit großer emotionaler Beteiligung tun, verändert unsere Persönlichkeit und unser (Sozial-)Verhalten. Jeglicher Medienkonsum prägt unser Leben, unsere Erwartungshaltung und unsere Weltsicht. Wenn nun smartphonesüchtige Eltern „keine Zeit“ finden, ihren Kindern das Sprechen beizubringen, weil sie aufs Display starren, muss man mit der Therapie bei ihnen beginnen. Logopädische (sprachtherapeutische) Behandlungen bei Kindern sind bereits eine Reaktion auf Entwicklungsdefizite durch zu wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung beim Sprechenlernen im familiären und später im schulischen Kontext.
Der immer frühere Einsatz von digitalen Endgeräten (mittlerweile in der Kita) und steigende Bildschirmzeiten bei Kindern und Jugendlichen wirken sich negativ auf Aufmerksamkeitsspannen, Konzentrationsfähigkeit, motorische, kognitive und sprachliche Fertigkeiten aus.
Solche Erkenntnisse sind nicht neu. Erinnert sei an die BLIKK-Studie von 2018[7] oder die regelmäßigen IQB-Bildungstrends und Ländervergleiche[8], die über immer größere Kohorten von Viertklässlern berichten, die nach vier Schuljahren die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen nicht erreichen. Die gleiche negative Tendenz zeigen die Ergebnisse von VERA (VERgleichsArbeiten in der 3. und 8. Jahrgangsstufe, VERA-3 und VERA-8). Bei allen Unterschieden der Untersuchungen und Studien ist als Gemeinsamkeit festzustellen, dass der immer frühere Einsatz von digitalen Endgeräten (mittlerweile in der Kita) und steigende Bildschirmzeiten bei Kindern und Jugendlichen sich negativ auf Aufmerksamkeitsspannen, Konzentrationsfähigkeit, motorische, kognitive und sprachliche Fertigkeiten auswirken. Man kann das als Korrelation verharmlosen und Kausalitäten leugnen. Richtig ist, dass immer viele Ursachen bei solchen Entwicklungen zusammenspielen. Doch alleine die täglichen Bildschirmnutzungszeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (!) sind ein eindeutiges Signal für die immense Bedeutung und damit Einflussmacht, die die Anbieter von Netzdiensten mittlerweile auf den Alltag und das Erleben der meisten Menschen haben. Auch die Gegenmittel sind, zumindest für Bildungseinrichtungen, bekannt: Präsenzunterricht und direkter Dialog, das Lernen und Arbeiten in der Klassen- als Sozialgemeinschaft und das direkte, kommunikative Miteinander. Ob dabei ergänzend und/oder begleitend Digitaltechnik eingesetzt wird, ist nachgeordnet.
Quellen
Anders, Günter (1985): Die Antiquiertheit des Menschen, 1985, Bd. 1, S. 107: „ Da die Geräte uns das Sprechen abnehmen, verwandeln sie uns in Unmündige und Hörige.“
KKH (2022): Vor allem ältere Kinder haben häufiger Sprachdefizite / Corona schuld? Hannover, 22.09.2022, https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/sprachdefizite
KKH(2020) Sprach- und Sprechstörungen bei Jungen häufiger – Erhöht Corona-Krise das Risiko?, https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/immer-mehr-kindern-fehlen-die-worte
dbl (o.J.) Deutscher Bundesverband für Logopädie e.V.: Sprachentwicklung https://www.dbl-ev.de/kinder-und-jugendliche/sprachentwicklung (26.9.2022)
Kindergesundheitsinfo (2020): Grundzüge der Sprachentwicklung (0-6 Jahre); https://www.kindergesundheit-info.de/themen/entwicklung/entwicklungsschritte/sprachentwicklung/
[1] Lispeln, Lallen oder Hörprobleme sind Beispiele für medizinische Probleme für Sprachdefizite. Deutlich häufiger sind soziale Ursachen, etwa mangelhafte Deutschkenntnisse bei Kindern mit Migrationshintergrund oder dass Eltern zu wenig und zu selten mit den Kindern das Sprechen üben.
[2] Zur Sprachentwicklung bei Kindern siehe die weiterführenden Links am Ende des Textes.
[3] Der ICD 11, die 11. Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, differenziert in rezeptive und expressive Sprachstörungen. Die expressive Sprachstörung (F80.1) bedeutet, dass die Fähigkeit zu sprechen unterhalb des Intelligenzniveaus (IQ im Normbereich) des Kindes bleibt. Typische Merkmal sind eine reduzierte expressive Sprachfertigkeit und ein eingeschränktes Vokabular. Bei der rezeptiven Sprachstörung (F80.2) bleibt das Sprachverständnis des Kindes unterhalb des Intelligenzniveaus (IQ im Normbereich).
[4] Der Beginn des raschen Spracherwerbs heißt Wortexplosion. Wer mit 2 Jahren noch keine 50 Worte spricht (etwa 20% der Kinder) hat ein Risiko von 50%, eine Sprachentwicklungsstörung zu entwickeln. Wer mit 2 Jahren 50 Worte spricht, hat ein Risiko von 10%, eine Sprachentwicklungsstörung zu entwickeln. Früh reden ist extrem wichtig!
[5] Zum Mediennutzungsverhalten von Kindern, Jugendlichen siehe die nach Altersstufen gegliederten Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest: https://www.mpfs.de/startseite/.
[6] Künstliche ist keine Intelligenz, sondern es sind mathematische Modelle der Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, um z.B. menschliches Verhalten zu prognostizieren und über entsprechende Angebote und/oder Anreize zu steuern.
[7] Abschlussbericht Bundesgesundheitsministerium: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/Berichte/Abschlussbericht_BLIKK_Medien.pdf bzw. https://www.stiftung-kind-und-jugend.de/projekte/blikk-studie/ (28.9.2022)
[8] https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/