Seit 35 Jahren versuche ich mich als Lehrer. Das klappte ganz gut, bis ich vor drei Jahren meine Funktionenpalette erweiterte und Schulleiter wurde. Alles entsprang einer politischen Zeiterscheinung: Meine bis dahin eigenständige Schule kriegte vom Gemeinderat den Zentralschulleiter verpasst, den die anderen längst hatten. Im Emmental dauert eben alles etwas länger. «Nume nid gsprängt.»
Leider kopierte man dabei auch die Fehler der anderen: Die Stellenprozente der Hausleitung wurden von den Schulbehörden zurückgestutzt wie die Äste der Platanen im Frühling. Nur dass die Prozente nicht nachwachsen.
Alter schützt vor Torheit nicht
Meine ersten zwei Vorgänger retteten sich in die Pension. Ihre Nachfolger warfen nach zwei Runden das Handtuch. Und im gleichen Rhythmus, wie sich unsere Sous-Chefs die Klinke reichten, drohte der Betrieb aus dem Ruder zu laufen. Nun wollten sie eine Pragmatikerin, die den Laden von innen kannte. Das Drama nahm seinen klassischen Ausgang: Sie traute sich den Job nicht zu. Am Schluss blieben sie bei mir hängen.
Drei Jahre später weiss ich, diese Zusage war die Torheit meines Lebens. Denn als Sous-Chef landest du in der Zwangsjacke der Mission. Du sollst zur Umsetzung führen, was die Missionare der guten Schule alles herausgetüftelt haben. Im schlimmsten Fall führst du ein trojanisches Pferd zur Tränke deines Kollegiums.
Amadeus auf den Leim gekrochen
Zur Mehrheit meiner Stellenprozente bin ich immer noch Lehrer. Und als solcher ist mir jede Mission ein Gräuel. Meine Schlüsselerfahrung diesbezüglich hatte ich als Jungspund in Paris gemacht, bei einem Exkurs in die Suggéstopédie. «Die Magie Mozarts – Lernen im Unterbewusstsein.» Das ging so: Wir legten uns auf die Yogamatte, eine zauberhafte und nur leicht ergraute Yogini rezitierte im Rhythmus einer mozärtlichen Sonate ein Kapitel aus Sempés «Petit Nicolas». Sinnlos dösten wir verkaterten Lümmel auf der Matte herum. Mais quelle surprise! Après le concert, ich verstand den ganzen Text, ich hatte verinnerlicht tout le vocabulaire, et en plus, ich beherrschte enfin le subjonctif imparfait de mon verbe favori: Que cette méthode reçût la médaille d’or!
Beschwingt kehrte ich aus Paris zurück und wandte die Zauberformel «Lernen im Halbschlaf» im Klassenzimmer an. Mais quelle stupéfaction! Sie kapierten nichts, oder nur unter Beizug bekannter Zusatztricks, die von den Yoginis für den Notfall mitgeliefert worden waren. Als Wundermittel entpuppte sich das Plakat mit dem subjonctif imparfait de mon verbe préféré. Im Weltformat. Ich liess es zehn Monate hängen. Und seither hängt mein Unterricht nicht voller Geigen, aber voller Plakate.
Das «Ja, aber mit Mass»-Modell
Denn seither unterrichte ich nach dem Muster: «Hör’ dir die Botschaft an, probier’ das Ding aus und filtere heraus, was funktioniert. Für mich ist das eine Art Erfolgsmodell. Mit ihm konnte ich meinen Horizont erweitern, ohne in der Sackgasse der einzigen und heiligen Botschaft zu landen.
Und die Botschaften prasselten reichlich auf uns ein. Manchmal wurden sie von Pragmatikern verlesen, öfters von Gurus. Wochenplan? Ja, der fördert die Selbständigkeit, wenn du es nicht übertreibst damit. Lehrplan 95? Starker Denkansatz. Funktioniert aber nur in Kombination mit dem Mut zur Lücke. Projektunterricht? Fantastisch! Eine Zeitung produzieren, eine Bundesratswahl veranstalten, ein Biotop bauen, ein Hörspiel schreiben…. Neue Schülerbeurteilung Bern? Haben wir ein Jahr lang ausprobiert. Hundert Formulare, tausend Kreuzchen. Diesen Wahnsinn müssen wir stoppen. SchueBE HALT! Kooperative Lernformen: Sie sorgen für Abwechslung und fördern das Teamwork. Handwerk hat goldenen Boden.
Der Maestro des Machbaren:
Bernhard Pulver
Beim Lehrplan 21 schwangen Alain Pichard, seine Mitstreiter und ich wieder die Protestkeule: Man wollte uns mit Kompetenzen überfluten und das Wissen beerdigen. Bernhard Pulver lud Alain und mich zur Aussprache in sein Büro, und ich spürte: Dieser Mann nimmt uns ernst.
Ich folgte auch seiner zweiten Einladung und nahm im Steuerungsausschuss Einsitz, der im Kanton Bern den Lehrplan 21 umsetzen sollte. In meiner Rolle als «konstruktiver Kritiker» erlebte ich vier Jahre lang und hautnah diesen Meister des Machbaren und Fahnenträger der pädagogischen Freiheit.
Die Missionarinnen des Lehrplans 21 holte er vom siebten Himmel auf den Teppich der Praxis herunter. Der Lehrplan liefere den roten Faden; eine Bibel sei das nicht. Kompetenzen seien heute unerlässlich, aber sie basierten auf Wissen. Und sie produzierten neues Wissen. Sogar seine Apostel des Formulars wies er in die Schranken: Wir geben den SchülerInnen nützliche Feedbacks, aber es geht nicht um Vermessung. Zu flächendeckenden Vergleichstests sagte er kategorisch: nein. Zu Schulversuchen und Pilotprojekten ebenso kategorisch: ja. Die Lehrmittel wollte er empfehlen, aber nicht verordnen. Und uns LehrerInnen ermutigte er, in Ruhe alles auszuprobieren. Mit Mut, Optimismus und Freude, aber auch mit Augenmass. Er sprach mir in vielem aus dem Herzen.
Danke, Bernhard.